Große Geschichten sind schon auf ratternden Schreibmaschinen in Hotelzimmern neben vollen Aschenbechern entstanden, da war KI noch nicht einmal ein sündiger Gedanke. In diesem Herbst feiern wir einige runde Jubiläen der Welt-Literatur.
Vor 150 Jahren
Im September jährte sich zum 150. Mal die Rückkunft der Österreichisch-Ungarischen Nordpolarexpedition, auch Payer-Weyprecht-Expedition genannt. Am 25.9.1874 kam das Expeditionsteam in Wien an und wurde auf der Fahrt ins Stadtzentrum bejubelt: „Nur Schritt für Schritt konnten die Wagen vorwärts gelangen“, schrieb die Neue Freie Presse.
Buchtipp zur Situation der Arktis heute,150 Jahre nach der umjubelten Rückkehr von Julius Payer, Carl Weyprecht und ihrer Crew: Andreas Doepfner; Rudolf Hermann: Von der Eiswüste zur Arena der Großmächte; 256 S., NZZ Libro, 212S.,Hardcover 40,50Euro, ISBN 978-3-907396-87-2
Naturhistorischen Museum Wien
Sauron - ein 70er
Die fantastische Welt, die der Angelsächsisch-Professor Tolkien ersann, erschien erstmals vor 70 Jahren: Der 1. Teil, The Fellowship of the Ring am 29. Juli 1954, The Two Towers am 11. November desselben Jahres; der dritte Teil folgte 1955. Die Papierpreise veranlassten den Verlag zur Aufteilung. Alle drei Bände sind im grünen Schuber vereint.
J.R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe.1568 S., Klett-Cotta 2024. Softcover 41,20 Euro
ISBN 978-3-608-98800-0
700 Jahre her
Marco Polo (1254-1324) gilt als bedeutendster Reisender, der je lebte. Nicht nur wegen der Reisedauer und der Beobachtungen aus erster Hand. Den Spitznamen Il Milione (Die Million) erhielt Polo, weil er seine Stellung am Hof des Khans arg übertrieb.
Marco Polo. Il Milione. Die Wunder der Welt. 432 S., Manesse Verlag 2024, Hardcover 46,30 Euro, ISBN 978-3-7175-2566-0
Spurensucherin
Verhaltensbiologin Roshani trifft Weggefährten und Kumpanen Truman Capotes (1924-1984) – darunter die Letzten, die den Autor von „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“ lebend sahen. Darunter seine Fast-Adoptivtochter, seinen Freund und seinen Tanzpartner. Gegen Ende findet sie ein Fragment von Capotes verschollenem Roman.
Anuschka Roshani. Truboy. Mein Sommer mit Truman Capote. 352 S., Kein & Aber 2024, Hardcover 25,70 Euro
ISBN 978-3-0369-5053-2
Jahrhundertdichterin wollte 200 Jahre alt werden
Friederike Mayröcker war eine der großen Dichterinnen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Immer wieder wurde sie für den Literaturnobelpreis ins Gespräch gebracht. 2021 verstarb sie mit 96 Jahren in ihrer Heimatstadt Wien.
Am 20. Dezember 2024 hätte Mayröcker ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Dabei wollte sie zweihundert Jahre alt werden, so reich an möglichen Erfahrungen erschien ihr die Welt. Mit großer Neugier arbeitete sie bis zuletzt an einem über 120 Bücher umfassenden, vielfach ausgezeichneten Werk. Ein poetisches Universum nennt es die Direktorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Johanna Rachinger. Die Schau legt die zahlreichen Bezüge von Mayröckers Schaffen zur Musik, zur bildenden Kunst, zur Philosophie und Dichtung offen. „In seiner Magie, Bildgewalt und poetischen Radikalität prägte ihr Werk die deutschsprachige Literatur.“
Ihr Wahlspruch lautete: „Nicht nur das Geschriebene, auch die Existenz muss poetisch sein.“ Und so steht die Schreibwohnung der Autorin, ein Zetteluniversum, im Mittelpunkt der Ausstellung im Literaturmuseum Wien. „Dort türmte sich eine riesengroße Masse an Zetteln, Manuskripten, Büchern und Briefen, Fotografien und Dingen aus dem Alltag.“
Schreibwohnung der Autorin Friederike Mayröcker.
Sonderausstellung im Literaturmuseum. „Ich denke in langsamen Blitzen“ Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin. Der Begleitband zur Ausstellung ist im Zsolnay Verlag erschienen (35 Euro) und am Servicedesk des Museums erhältlich.
Hundertjährige Überraschungseier aus dem Regal
Es hat etwas von einer intellektuellen Schatzsuche, wenn Sebastian Kuboth auf seinem Twitch-Kanal Geschriebene Geschichte hinter sich greift, wo sich Millionen handgeschriebene Texte türmen. Es sind keine Nachdrucke, sondern Originale, die seit Jahrhunderten im Dornröschenschlaf verharren. Kuboth ist der Prinz, der sie wachküsst, und wenn er nach einem Exponat fischt, weiß er oft selbst nicht, welches Schriftstück er seinem Publikum präsentieren wird.
Manchmal ist es der Brief eines österreichischen Auswanderers aus dem 19. Jahrhundert, der von seiner entbehrungsreichen Reise nach St. Louis berichtet. Ein andermal das mehrteilige Tagebuch eines 13-Jährigen aus dem Jahr 1914, dessen kindliches Soldatenspiel im letzten Band womöglich bittere Realität wird.
Diese poetischen Blitzlichter, die vor Generationen verstummten, fesseln nun die Zuschauer. Kuboth liest die alten Schriften live und ohne Vorbereitung. Eine Leistung, denn die blasse Tinte ist auf dem vergilbten Papier kaum zu entziffern, ganz zu schweigen von der Kurrentschrift.
Hier zeigt sich die Stärke von Twitch als Plattform für Gleichgesinnte, die ein unplanbares Erlebnis teilen. Während ein Teil der Zuschauer den alten Texten lauscht, recherchieren andere die erwähnten Orte oder diskutieren über längst vergessene Lebensmittel, die im Text vorkommen. Was immer passiert, es ist bewegend, wenn die brennenden Gedanken von einst die Herzen von heute entflammen können.