Nur magere 15,1 Prozent der Bevölkerung nehmen das Angebot der kostenlosen Vorsorgeuntersuchung in Anspruch. Ärztekammer und Sozialversicherung wollen die Menschen zur Prävention animieren. Die Demografie zwingt sie geradewegs dazu.
Schubsen in die richtige Richtung. Edgar Wutscher (Ärztekammer), Peter Lehner (SVS) und Hans Aubauer (SVS) wollen die Österreicher motivieren, mehr auf sich zu achten. Ein gewisser finanzieller Anreiz kann dabei nicht schaden.
SVS/Csaky
Die Sozialversicherung der Selbständigen setzt seit Jahresbeginn auf einen 100-Euro-Bonus für die Vorsorgeuntersuchung – dieser muss weder explizit beantragt noch eingefordert werden, sondern wird automatisch überwiesen. 75.000 Vorsorge-Hunderter wurden bereits ausgezahlt, sagt SVS-Generaldirektor-Hans Aubauer. Er spicht von einem „ganz besonders niederschwelligen Angebot“.
Finanzielle Anreize sollen das Angebot sichtbar machen. Neben diesen spiele auch das „Nudging“ (engl. für „Schubsen“ oder „Stupsen“, Anm.) eine wichtige Rolle.
Den Hausärzten kommt beim Schubsen hin zur Vorsorge natürlich eine besondere Verantwortung zu, sagt Dr. Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte. Oft dächten Patienten „Ich lass mich nicht untersuchen, weil man könnte ja eine Krankheit finden“ –, aber der Fokus liege eben auf mehr gesunden Lebensjahren und der Feststellung von Parametern, die man oft noch ohne klassische Medizin positiv beeinflussen kann.
„Blutfettwerte sind ein gutes Beispiel“, sagt der Mediziner. Auf die könne man rechtzeitig mit moderaten Lebensstil-Veränderungen einwirken. Er zeigte einige Aspekte der Vorsorgemedizin in der Praxis auf: So schaffen es Hausärzte oft, durch Mundpropaganda die ganze Familie zur Präventionsuntersuchung zu bewegen. Im Hörgang-Interview (siehe QR-Code auf dieser Seite) führt Wutscher aus, was nun auf die Ordinationen zukommt: „Von unserer ärztlichen Seite her ist es einfach wichtig, die Botschaft weiterzugeben, und dass wird auch immer mehr niedergelassenen Kollegen bewusst. Die Botschaft lautet: Bitte sprecht in den Ordinationen die Möglichkeit an, dass man Prävention machen kann.“
Gesundheit gibt‘s nicht im Supermarkt zu kaufen
Die Zeit für eine Kehrtwende ist gekommen. 50 Prozent der chronischen Krankheiten seien lebensstilbedingt, sagt Peter Lehner, Obmann der SVS und Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Gesundheit könne man nicht im Supermarkt kaufen oder bei der Sozialversicherung abrufen. „Wir brauchen eine Präventionskultur, die auf Gesundheitskompetenz aufbaut und von Eigeninitiative und Eigenverantwortung angetrieben wird.“ Die Gesundheitskompetenz und die Zahl der gesunden Lebensjahre nehmen ab. Dies bestätigte zuletzt der Rechnungshofbericht zur Gesundheitsförderung und Prävention. „Angebot, Anreiz und Akzeptanz“ stehen laut Lehner im Fokus. „Mit dem Mutter-Kind-Pass haben wir ein starkes Anreizsystem geschaffen. Dieser deckt die erste Lebensphase ab und ist die Basis für eine aktive Rolle. Das Angebot der Vorsorgeuntersuchungen wird dagegen heuer nur von 15,1 Prozent der Bevölkerung wahrgenommen.“ Der Wandel vom Reparatur- hin zum Vorsorgesystem sei „entscheidend für ein starkes und finanzierbares Gesundheitssystem“.
Für Wutscher muss die wohnortnahe Versorgung sichergestellt sein. Der Allgemeinmediziner sei Ansprechperson Nummer eins. „Eine flächendeckende Primärversorgung ist die Voraussetzung für eine verbesserte Gesundheitsvorsorge. Wenn wir unsere Patienten dank des Vorsorgeprogramms regelmäßig sehen, eine Übersicht über ihre Vitalwerte und Probleme bekommen, können wir zeitgerecht gegensteuern bzw. an Fachärzte überweisen.“
Der Wandel zur Präventionsmedizin ist noch lange nicht geschafft. Das öffentliche Gesundheitswesen und die Medizin stehen vor der gewaltigen Herausforderung, dass die Zahl der älteren Menschen mit Bedarf an wirksamer Prävention gegen Vulnerabilität, Funktionsverlust und Mehrfacherkrankungen rapide zunimmt. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Weltbevölkerung älterer Erwachsener verdoppeln. Am stärksten wird dies in Europa und den USA der Fall sein.
Was ist Geroscience?
Prof. Heike A. Bischoff-Ferrari, Klinikdirektorin der Universitären Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital Zürich und Stadtspital Zürich, arbeitet an neuen Präventionsmöglichkeiten, die am biologischen Alterungsprozess ansetzen. „Die Medizin von heute konzentriert sich auf die Behandlung manifester Krankheiten – die Präventionsbemühungen beschränken sich weitgehend auf Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gegen bestimmte Krankheiten. Ich glaube aber, dass sich zukünftig das Modell der Gerosience zu einem globalen Schwerpunkt in der medizinischen Wissenschaft entwickeln wird“, sagt Bischoff-Ferrari.
Geroscience basiert auf der Erkenntnis, dass der klassische Ansatz, eine Krankheit nach der anderen zu behandeln, in einer alternden Gesellschaft nicht mehr tragfähig ist. Alternativ hat Geroscience zum Ziel, den Alterungsprozess zu messen und zu manipulieren. „Geroscience stärkt die Relevanz verschiedener Lebensstilfaktoren als Hebel für eine wirksame Prävention. Zu diesen Faktoren gehören neben der Ernährung und physischer Aktivität etwa Schlaf, mentale Gesundheit sowie soziale Interaktion.“