Die nächste Generation der Antikörper-Wirkstoff-Konjugate

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADC), die zwei Targets adressieren oder erst im sauren Tumormilieu aktiv werden: Dutzende neue Ansätze befinden sich aktuell in der Entwicklung – eine kleine Auswahl. Love Employee / Getty images / iStock × In den 1990er-Jahren warb ein großer Klingenhersteller für einen neu designten Nassrasierer mit dem Slogan: „So scharf, dass er hinter Gitter muss.“ Im Kern beschreibt dieser Claim auch die fundamentale Idee hinter sogenannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (ADC) ziemlich gut: ADC erlauben es nämlich dank einer spezifischen Konstruktion, die gesundes Gewebe schützt, hochwirksame, aber ansonsten viel zu toxische Antitumorwirkstoffe zu verabreichen. Dafür ist die jeweilige zytotoxische Substanz, die auch als Payload bezeichnet wird, über eine Verbindungsstruktur – „Linker“ genannt – an einen Antikörper (Ab) gekoppelt. Der Ab bindet an Strukturen, die nur – oder zumindest hauptsächlich – in malignem Gewebe vorkommen. Wenn das ADC dank Ab den Weg in den Tumor gefunden hat, wird es dort nach der Bindung in die Krebszellen aufgenommen und der Tumor bekämpft, sobald die Payload freigesetzt worden ist – so zumindest die Theorie. Und in der Praxis funktioniert das im Großen und Ganzen immerhin so gut, dass aktuell in der EU neun ADC bei verschiedenen Entitäten zugelassen sind (eine zehnte Zulassung steht mit Mirvetuximab soravtansin kurz bevor). Doch so gut die Idee hinter ADC auch ist: In der konkreten Anwendung bringen diese zum Teil beträchtliche Nebenwirkungen mit sich, was etwa daran liegt, dass die adressierten Zielstrukturen eben doch auch in gesundem Gewebe vorkommen oder die gefährliche Fracht ungeplant schon außerhalb des Tumors freigesetzt wird. Ein Schwerpunkt in der Entwicklung von ADC der nächsten Generation besteht daher darin, die ADC tumorspezifischer zu machen. Und dafür sind mehrere spannende Ansätze im Rennen, wie gerade ein Team um Kyoji Tsuchikama, Houston, TX/USA, in einem Review aufgezeigt hat.1 Tabelle 1. Übersicht über die aktuell in der EU zugelassenen Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (Stand 19. November 2024) Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Entität(en), für die die Zulassung gilt Gemtuzumab ozogamicin Akute myeloische Leukämie (AML) Brentuximab vedotin Hodgkin-Lymphom; anaplastisch-großzelliges Lymphom (ALCL); kutanes T-Zell-Lymphom (CTCL) Inotuzumab ozogamicin Akute lymphatische Leukämie (ALL) vom B-Vorläuferzell-Typ Polatuzumab vedotin Diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom (DLBCL) Loncastuximab tesirin DLBCL; High-grade-B-Zell-Lymphom (HGBL) Trastuzumab emtansin Mammakarzinom Trastuzumab deruxtecan Mammakarzinom; nichtkleinzelliges Lungenkarzinom (NSCLC); Magenkrebs und Tumoren des gastroösophagealen Übergangs Sacituzumab govitecan Mammakarzinom Enfortumab vedotin Urothelkarzinom Mirvetuximab soravtansin* Ovarialkarzinom* *Positives CHMP-Votum (aber formal noch keine Zulassung). Probody Drug Conjugates Vielen der derzeit in der Entwicklung befindlichen Ansätze gemeinsam ist, dass sie versuchen, sich spezifische Eigenschaften des Tumormikroenviroments (TME) zunutze zu machen. So herrscht dort etwa ein Milieu, das saurer ist als das von gesundem Gewebe. Forschende arbeiten daher daran, die Antigenbindungsstellen von ADC so anzupassen, dass sie pH-Wert-abhängig und reversibel ihre Konformation verändern. Der Clou: Im gesunden Gewebe erkennt ein solches ADC aufgrund des höheren pH-Werts das jeweilige Target nur schlecht, während es unter den saureren Bedingungen des TME sehr viel bindungsfreudiger wird. Die Ab, die die Basis für solche neuen ADC liefern, werden daher auch als konditional aktive Ab oder „probodies“ bezeichnet, die ADC entsprechend als Probody Drug Conjugates (PBC). Phase-I/II-Studien, in denen pH-gesteuerte PBC geprüft werden, laufen bereits. Tsuchikama und sein Team nennen als Beispiel etwa das PBC Mecbotamab vedotin (BA3011), das pH-abhängig an die von verschiedenen Tumoren überexprimierte Rezeptortyrosinkinase AXL bindet.2, 3 Weitere PBC, die derzeit entwickeln werden, sollen den Umstand ausbeuten, dass bestimmte Enzyme im TME aktiver sind als in gesundem Gewebe. Dafür wird den jeweiligen Ab quasi eine Peptid-Schutzhülle aufgesetzt, welche die Antigenbindung in sano stark erschwert. Im TME überaktive Proteasen degradieren diese Hülle (genauer gesagt, die Struktur, mit der sie am Ab befestigt ist) und der Ab des PBC kann dann an das jeweilige Target binden. Auch hierzu laufen bereits frühe klinische Studien. Tsuchikama und seine Kolleginnen und Kollegen verweisen etwa auf Praluzatamab ravatasnin (CX-2009), das zurzeit in einer Phase-II-Studie bei Brustkrebs weiter untersucht wird.4 Praluzatamab ravatasnin adressiert das Oberflächenantigen CD166, das zwar von verschiedenen Malignomen verstärkt exprimiert wird, aber auch in gesundem Gewebe vielfach vorkommt. PBC-Ansätze würden also die Adressierbarkeit von Targets ermöglichen, die aufgrund ihrer Verbreitung in gesundem Gewebe bisher als unzugänglich galten, schreiben Tsuchikama und sein Team. Ob das PBC-Konzept aber tatsächlich klinisch reüssieren kann, müsse abgewartet werden, bis die entsprechenden Studiendaten vorlägen. Weitere ADC-Ansätze Neben den TME-sensitiven PBC wird an dutzenden weiteren ADC-Innovationen geforscht. Dazu zählen zum Beispiel: ADC, die mehr als ein Target adressieren: Bispezifische ADC können etwa an zwei Tumortargets (z.B. EGFR und MET) gleichzeitig binden, was einerseits die Tumorspezifität erhöht und andererseits mehr (unterschiedliche) maligne Zellen abräumen könnte. Sogenannte biparatopische ADC binden dagegen an zwei verschiedene Epitope desselben Targets, was die Bindungsdynamiken und Potenz des ADC verbessern kann. Immunstimulierende ADC (ISAC): Versuche, aktivierende Immuncheckpoints mit agonistischen Ab systemisch zu stimulieren, haben in der Vergangenheit durch eine Hyperaktivierung des Immunsystems zum Teil zu katastrophalen Nebenwirkungen geführt. ADC, die anstelle von zytotoxischer Beladung immunstimulierende Agenzien lokal zu Tumoren transportieren, könnten dieses Risiko vielleicht soweit reduzieren, dass eine Anwendung infrage kommt, spekulieren Tsuchikama und sein Team. Allerdings waren in einigen frühen Untersuchungen selbst mit dem ISAC-Ansatz die Toxizitäten unerwartet und inakzeptabel hoch (und die Wirksamkeit enttäuschend). ADC mit zwei Wirkstoffen: ADC, die zwei verschiedene Antitumormittel in Tumoren schleusen, könnten wirksamer gegen heterogene maligne Zellen losschlagen und ggf. Resistenzmechanismen leichter umgehen. Demgegenüber stünde das Risiko für potenzierte Toxizitäten, geben die Review-Autorinnen und -autoren zu bedenken. Fazit Aktuelle Weiterentwicklungen des ADC-Ansatzes sind ungemein clever, vielgestaltig und spannend. Nicht vergessen werden sollte jedoch: Noch hat kein Ansatz die Hürde der späten klinischen Phase genommen, an der das Gros aller onkologischer Innovationen scheitert! Referenzen: 1Tsuchikama K et al.: Exploring the next generation of antibody-drug conjugates. Nat Rev Clin Oncol 2024 Mar; 21(3): 203-223; https://doi.org/10.1038/s41571-023-00850-2 2https://clinicaltrials.gov/study/NCT03425279 3https://clinicaltrials.gov/study/NCT04681131 4https://clinicaltrials.gov/study/NCT04596150 Quelle: springermedizin.de

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