Selektiver Nerventransfer zur intuitiven Steuerung von Armprothesen: Am AKH wurden erstmals alle Schritte – die mechanische Anbindung und die Datenübertragung zur Prothese – in einer OP erledigt.
Otto bock
Bei einer Live-OP am Wiener AKH wurden alle derzeit möglichen Verfahren zur Steuerung einer Armprothese in einem Zug durchgeführt. Ein 52-jähriges Unfallopfer erhält eine bionische Hand der neuesten Generation, die mithilfe von Neurostimulation spüren kann, wenn sie auf Widerstand stößt.
Die junge Studentin vor dem AKH sitzt im Rollstuhl und trägt Mini-Rock, sie zeigt viel wohlgeformtes Bein. Ein warmer Windstoß hebt den Stoff übers Kniegelenk, und jetzt kann es jeder sehen, der sie anstarrt: Sie trägt Prothese – und zumindest sie hat damit offenbar kein Problem.
Der schwedische Mediziner Rickard Brånemark ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der rekonstruktiven Chirurgie. Er arbeitet mit bionischen Armprothesen, die dem Träger nicht nur intuitiv gesteuerte Bewegungsabläufe ermöglichen, sondern auch lebensnahe Druck-Empfindungen. Die Folge: „Diese Patienten nehmen ihre Prothese auch in der Nacht nicht mehr ab, weil sie sie als Teil ihres Körpers wahrnehmen.“ Und das ist erst der Anfang.
Der Bedarf nach solchen Operationen steigt, sagt Prof. Dr. Reinhard Windhager. Vor Kurzem wurde in Wien der erste Eingriff durchgeführt, bei nicht nur Nerven in den Oberarm verlagert wurden, sondern auch ein Implantat in den Knochen des Oberarmstumpfes durch die Haut eingesetzt wurde. Mithilfe dieser sogenannten „Osseointegration“ wird die Prothese stabil verankert, durch das intakte Schultergelenk des Mannes sind künftig auch Rotationsbewegungen möglich. Mit einem herkömmlichen Prothesenschaft wäre das nicht möglich.
Auf dem OP-Tisch liegt ein 52-jähriger Mann. Sein Unglück: Ein Baustellenfahrzeug der eigenen Firma überrollte den Burgenländer beim Zurücksetzen und verletzte ihn so schwer, dass ihm vier Tage später der linke Arm abgenommen werden musste. Zurück blieb ein relativ kurzer Stumpf. Die Operation wird live ins Hörsaalzentrum des Wiener AKH übertragen: Brånemark schiebt die Hautlappen über den Knochen nach unten und sucht nach der richtigen Stelle, in der er später die Verankerung für die bionische Prothese einfügen wird. „Die Faustregel besagt: fünf Zentimeteer.“ Der Chirurg misst nach, dann zeichnet er die Einstichstelle ein sowie den Schnitt durch die Hautreste am Armstumpf. Brånemark bezeichnet sich als konservativ: „Ich möchte so viel Haut und Skelett retten wie möglich.“
Die Methode der Osseointegration ist nicht neu, wird aber wegen des hohen Infektionsrisikos nicht allzu oft angewandt. Brånemarks Vater experimentierte bereits in den 1960er-Jahren mit Dentalimplantaten aus Titan. Künstliche Augen und Ohren wurden bereits durch die Haut im Knochen verankert, ehe man sich an Gliedmaßen wagte. Die erste Osseoimplantation bei einer Armamputierten fand zwar schon 1990 bei einer schwedischen Patientin statt, doch der nun live übertragene Kombinationseingriff am Skelett- und Nervensystem eines Arms ist laut Windhager weltweit einzigartig. Sie verschafft dem Patienten eine „plug-and-play“-Situation. Die prothetische Rehabilitation nach dem Extremitätenverlust gestalte sich einfacher als früher. „Der Patient kann die Prothese nach Einheilung sofort bedienen“, erklärt Prof. Dr. Oskar Aszmann, der Leiter des Labors für Bionische Extremitätenrekonstruktion an der Klinischen Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie der MUW.
Der Vorteil des Patienten: Sein linkes Schultergelenk ist noch voll funktionsfähig. Hier setzt die TMR-Methode, kurz für: „targeted muscle reinnervation“, an. Konkret: Nervenstränge, die nach der Amputation funktionslos geworden sind, weil Ellbogengelenk oder Finger nicht mehr versorgt werden müssen, werden nun mit den noch vorhandenen Muskelpartien am Oberarm verbunden. „Wenn der Patient denkt ,Fingerschließen’, kontrahiert der Muskel. Die Elektroden nehmen dieses Signal auf und geben den Befehl an die Prothese weiter.“
Targeted muscle reinnervation (TMR): innovative prothetische Versorgung der oberen Extremität (3)
Otto Bock
Bis zu sechs Freiheitsgrade lassen sich so erreichen. Damit ist die Geschichte für den Patienten aber noch nicht zu Ende. Brånemark stellt ein Upgrade in Aussicht. „Es geht um Berührung.“ Bedeutet: Drucksensoren melden einem Neurostimulator, wenn sie auf Widerstand treffen. Elektrische Signale reizen die Nerven. „Für den Patienten ist das ein unglaubliches Erlebnis, wenn er seine Kinder oder seine Frau berühren kann, auch wenn dieses Berührungsgefühl nicht echt ist.“ Ein bisschen Terminator-Feeling? „Nicht ganz, aber die Richtung stimmt“, sagt der Mediziner aus Göteborg.
Die Live-Operation an dem 52-Jährigen bildete den Auftakt zum zweiten Fachkongress „Innovations in Amputation Surgery and Prosthetic Technologies“ (IASPT) in Wien. Den etwa 300 Teilnehmern aus 27 Nationen bot das Symposium Einblick in die neuesten Technologien und Konzepte der bionischen Extremitätenrekonstruktion.
Am „Workshop Day“ wurden Möglichkeiten der Signalüberleitung an Patienten demonstriert, unter anderem Innovationen zur E-Traktion und Interpretation biologischer Signale zur prothetischen Kontrolle bzw. welche neuen Trainingsmethoden zur Verfügung stehen, damit die Betroffenen diese intuitiven Signale am Ende nutzen können. (www.iaspt2018.org)
Buchtipp
Oskar Aszmann; Laura Hruby:
Bionische Rekonstruktion
Manz Verlag 2018,
146 S., Softcover 23,90 Euro
ISBN 978-3-214-01486-5