Gehen Schmerzen vom komplexen System der oberen Halswirbel aus und sind diese von zahlreichen anderen Beschwerden begleitet als wir sie von Verletzungen unterhalb von HWK 4 kennen, kann es sich um ein „cervicocephales Syndrom“ handeln (ICD 10: M53.0). Die damit verbundenen chronischen Schmerzen beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen sehr, insbesondere wenn die Erkrankung nicht richtig diagnostiziert oder als rein psychosomatisch bedingt abgetan wird. Das Syndrom kann durch Unfälle verursacht werden, aber auch durch chronische Fehlstellungen und Fehlhaltungen oder pathologische muskuläre Dysbalancen zwischen Halte- und Bewegungsmuskulatur. Da immer mehr Menschen in ihrer Arbeitszeit vor dem Bildschirm sitzen und auch ihre Freizeitgestaltung in vergleichbarer Haltung verbringen, leiden zunehmend mehr Patient:innen an Nackenbeschwerden, die sich zu weit komplexeren Beschwerden entwickeln können.
Schwierige Diagnose
Viele Kolleg:innen kommen bei Cervicocephalsyndrom-Patient:innen schnell an die Grenzen ihres diagnostischen und therapeutischen Repertoires. Setzen sie sich jedoch eingehend mit dem Kopf-Halsübergang auseinander, werden viele Ungereimtheiten und Unklarheiten beseitigt und die Problematik wird klar: Es handelt sich um ein Neuralgiesyndrom mit Beteiligung des autonomen Nervensystems.
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Die obersten Halswirbel beziehungsweise die Kopfgelenke erstrecken sich von C0 bis C3, agieren zusammen wie ein Kugelgelenk und ermöglichen die Dreh- und Nickbewegungen des Kopfes. Nimmt man die Seitneigung des Kopfes hinzu, sollte man das Übergangssegment HWK 3/4 (sensorische Innervation aus HWK 2/3!) zur oberen Halswirbelsäule hinzuzählen, denn seine Funktion zur seitneigenden Kopfbewegung ist eine Kopfbewegung. Ordnen wir die Funktionen den Segmenten zu, dann haben wir auch noch C0/HWK 1 für die Kopfreklination und Kopfinklination (Kopfbeugung) und HWK 1/HWK 2 für die Kopfrotation.
Schmerzen aus diesen Bereichen stellen sich als Cervicocephalgien dar und unter HWK 4 als Cervicobrachialgie (Nacken‑, Schulter‑, Arm-Syndrom). Die Beschwerden, die von diesem Bereich ausgehen, können aber nur selten einer einzelnen bestimmten anatomischen Struktur zugeordnet werden. Eine einfache segmentale Gliederung in Dermatom, Kennmuskel und zugehöriger Reflex ist hier nicht möglich.
Auch wenn sehr starke Schmerzen als Folge eines Unfalls aufgetreten sind, sind oft weder Brüche noch Verschiebungen der Halswirbel feststellbar, denn diese hätten häufig zum Tod des betroffenen geführt. Die obere Halswirbelsäule/Kopfgelenk ist ein komplexes System, das im Studium und in der Facharztausbildung keine Erwähnung finden. Die Frakturtypen (Hangman, Jefferson, Burst, ...) wurden gelernt aber die komplexen neurophysiologischen, neuroanatomischen und biomechanischen Besonderheiten, deren Störung zu einem großen Spektrum von Symptomen führen kann, die für viele Kolleg:innen prima vista schwer erklärbar sind.
Das Unverständnis von Kolleg:innen ist diesem Umstand sowie der Unkenntnis und fehlenden Darstellung der zervikotrigeminalen und intersegmentalen Konvergenzen im Studium und in der Facharztausbildung geschuldet, was ich hier nachdrücklich bemängle.
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Ein cervicocephales Syndrom zu diagnostizieren und den Ursprung der Schmerzen zu finden, verlangt von den Ärzt:innen, die Wechselwirkungen von Wirbeln, Nerven, Bändern, Muskeln und Faszien zu verstehen und bei unaufälliger oder nahezu unauffälliger segmentaler Diagnostik (Neurostatus) die Patient:innen „nicht segmental“ und manualmedizinisch zu untersuchen. Eine neurologische Untersuchung allein erfasst die Integrität der Gelenke, Bänder und Muskulatur nicht. Eine N. vagus Verletzung wird in der Regel nicht erkannt. Ich fordere, dass jede:r Ärzt:in auch die Befunderhebung der Muskulatur und des Bandapparates soweit durchführen kann, um letztendlich zu wissen, zu welcher Fachärztin oder zu welchem Facharzt die Patient:innen zur weiteren Untersuchung geschickt werden müssen. Die Diagnose und Behandlung der verschiedensten Symptome erstrecken sich auf die Fachbereiche Neurologie, Orthopädie, HNO- und Augenheilkunde. Zugrunde liegt aber ein und dieselbe Problematik: eine gestörte Verarbeitung nozizeptiver (schmerzgenerierender) segmentaler Afferenzen aus der Halswirbelsäule, die die an den cervicotrigeminalen und intersegmentalen Konvergenzreaktionen beteiligten Strukturen beeinflussen.
Neue Untersuchungsprozesse etablieren
Eine weitere Schwierigkeit in der Diagnostik der Kopfgelenke ist, dass die Bildgebung nur in der Lage ist, Frakturen und diskoligamentäre Zerreißungen zu erkennen. Für die Darstellung von Bandstrukturen und Muskulatur ist sie jedoch untauglich. Es bedarf daher einer vollständigen Überarbeitung und einer Standardisierung des Untersuchungsprozesses mit Erstellung von Normwerten inklusive Funktionsdarstellung der Kopfgelenksanteile und deren Beweglichkeit.
Die Diagnose und Behandlung des cervicocephalen Syndroms war lange eine Domäne von Neuroorthopäd:innen und Neurochirurg:innen. Da die Symptomatologie aber nur fächerübergreifend zu verstehen ist, sollten die Fachbereiche Neurologie, HNO-Heilkunde und Augenheilkunde miteinbezogen werden. Nachdem bedrohliche Differenzialdiagnosen ausgeschlossen wurden, kann eine fundierte Abklärung erfolgen, inklusive manualmedizinischer Untersuchung.
Symptome des cervicocephalen Syndroms
Das cervikocephale Syndrom äußert sich nicht bei allen Patient:innen in gleicher Weise, alle Betroffenen leiden aber an Nacken- und Kopfschmerzen sowie Bewegungseinschränkungen des Kopfes und muskulären Verspannungen, die sich nicht innerhalb von 6 bis 12 Wochen zurückbilden. Das Spektrum der weiteren einzeln oder in Kombination auftretenden Symptome ist groß:
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vegetative Symptome wie Benommenheit, Schwindel, Kribbeln im Gesicht, Schwitzen, Übelkeit, Palpitationen, Blutdruckschwankungen,
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Stimmungsauffälligkeiten (z. B. Angst, Trauer, „Stress“), Abgeschlagenheit, Reizbarkeit,
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Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen,
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motorische koordinative Störungen (z. B. gestörtes Schriftbild),
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dumpfer Kopf,
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Nebenhöhlenstauchungsschmerz,
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unspezifische Augensymptome mit Fokussier-Sehstörungen, Schleier- und Schlierenbilder,
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Augapfelschmerz,
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Gesichts‑, Schulter‑, Rückenschmerzen,
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Gleichgewichtsstörungen (cervicocephaler „Schwindel“), unspezifische Ohrsymptome (Ohrgeräusch, Tinnitus, Hall),
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Globusgefühl, Dysphonie, Räusperzwang, Schluckstörung,
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Kiefergelenksdysfunktion.
Multimodale Therapie
Die Therapie dieser Beschwerden erfolgt interdisziplinär und multimodal mit einer Kombination unterschiedlicher Maßnahmen. Für eine gute und dauerhafte Linderung der Schmerzen und der weiteren Beschwerden des cervicocephalen Syndroms müssen alle Vertreter:innen der an der Diagnose und Therapie beteiligten medizinischen Fachgebiete (Neurochirurgie, Neurologie, Orthopädie, Unfallchirurgie, Anästhesie, HNO, Augenheilkunde, Psychiatrie und Physiotherapie) zusammenarbeiten. Zunächst erhalten die Patient:innen Schmerzmittel gegen die akuten Schmerzen, gelegentlich auch eine Halskrause, um die Halswirbelsäule zu entlasten.
Längerfristig helfen sehr zurückhaltende, minimale HWS-Mobilisationen, eine elektrische Stimulierung des N. vagus, Wärmeanwendungen, progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Gymnastik zum Aufbau und zur Kräftigung der segmental stabilisierenden Muskulatur und physikalische Therapie. Wenn diese Therapien nicht wirken, ist als weitere Maßnahme eine vom Beckengürtel ausgehende Haltungskorrektur hilfreich (siehe WiPiHi Methode meiner Wirbelsäulen Kolumne Teil 10). Chirurgische Eingriffe sind nur selten notwendig.
Um Erkrankungen der oberen Halswirbelsäule vorzubeugen, gilt es, einseitige Belastungen in Beruf und Freizeit zu vermeiden und regelmäßig Sport zu betreiben. Menschen, die regelmäßig Überkopfarbeiten verrichten müssen, sollten unbedingt Pausen einlegen und andere Haltungen einnehmen. Das gilt auch für alle, die stundenlang vor dem Computerbildschirm sitzen. Es reicht nicht mehr unseren alten Slogans „Beweg Dich“ zu folgen, sondern die neuen Slogans lauten „Bewege und Halte dich richtig – bleib in der sagittalen Balance“.
Interessenkonflikt
W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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