Im Laufe des Lebens verändert sich unser Stütz- und Haltesystem. Eine aktive Haltungskorrektur und Verlangsamung des Haltungsverfalles sind unabdingbar, um chronische Schmerzen und Erkrankungen wie die Osteoporose zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Mithilfe von Übungen zum Dehnen, Strecken, Kräftigen und Stabilisieren lernt unser Körper, Bewegungsfähigkeit und Haltungsstabilität zu verbessern. Wie zum Beherrschen eines Instrumentes ist dafür gezieltes tägliches Training erforderlich.
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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Wenn ich schon über die verschiedenen Muskulaturtypen für Haltung und Bewegung spreche, sollte es auch von Interesse sein, der Volkskrankheit Rückenschmerzen das Schicksalhafte zu nehmen, indem wir nochmal kurz rekapitulieren, dass die phasische Muskulatur, unsere Bewegungsmuskulatur, auf eine schnelle und hohe Kraftentfaltung ausgelegt ist. Stellen Sie sich einen Frosch mit seinen überdimensionierten Schenkeln vor. (Das ist eine gute Gedankenstütze, um uns die verschiedenen Muskelsysteme unseres Halte- und Bewegungssystems vor Augen zu führen.)
Diese phasische Muskulatur arbeitet sehr schnell, ermüdet ebenso schnell. Bei Untergebrauch atrophieren die Muskelfasern, über die Atrophie kommt es zu einer Abschwächung der Kraft und zu einer Dehnung der Muskulatur. Sie können beim Untersuchen die Muskulatur nicht mehr finden. Es ist nur noch Faszie, nicht mehr die Muskulatur tastbar. Untersuchen Sie den Bereich zwischen den Schulterblättern und der Brustwirbelsäule. Legen Sie die Hände seitlich neben dem Hals in den Nacken, auf die Schulter und ertasten Sie die Muskulatur. Hier erkennen Sie sehr gut den Spannungs- oder Verspannungszustand der Muskulatur. Mit dem Daumen können Sie die Muskulatur zwischen und über den Schulterblättern erfassen. Beim Adduzieren des Daumens zum auf den Muskeln liegenden Zeigefinger und der Hand durchstreichen Sie die Muskulatur und können sehr gut Myogelosen ertasten und angespannte Sehnen spüren. Von hier ist es nicht mehr weit zum Muskelansatz am Hinterhaupt seitlich der Protuberantia occipitalis externa, wo uns die Ansätze des M. splenius capitis, M. sternocleidomastoideus und M. trapezius Auskunft über den Zustand des gesamten Schultergürtel‑, Nacken- und Kopfbereichs geben. Sind sie druckschmerzhaft? Sind Triggerpunkte vorhanden? Sind die Querfortsätze in der HWS und auf C2 druckdolent? So kann ich in zwei Minuten mehr erfahren als mithilfe der meisten Röntgenbefunde.
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Die tonische Muskulatur besteht aus langsam arbeitenden und langsam ermüdenden Muskelfasern mit auf Ausdauerleistung ausgelegter geringerer Kraftentfaltung. Wird diese Muskulatur nicht trainiert, wird sie dennoch ihre Aufgabe wahrnehmen, aber gerade in gegenteiliger Weise als die phasische Muskulatur, die sich dehnt. Die tonische Muskulatur atrophiert und verkürzt sich, wodurch der Grundtonus erhöht wird. Die Haltefunktion für unseren aufrechten Gang und Stand wird auf jeden Fall aufrechterhalten.
Diese Aufteilung der Muskulatur ist für uns im Moment die beste Verdeutlichung, dass nicht alles so ist, wie wir es gelernt haben: mit Ursprung und Ansatz, und was macht es? Es fehlt eindeutig der Übertrag oder die Übersetzung in den menschlichen Alltag des biologischen Systems Mensch mit all seinen Veränderungen. Die Muskulatur hat je nach Belastungsgrad unterschiedliche Funktionen in Bezug auf Haltung und Bewegung.
Sagittale Balance
Dem Interessierten unter uns fällt es nicht schwer, die Veränderungen an unseren Körpern zu erkennen und zu differenzieren. Handelt es sich um Anpassungsvorgänge an unsere Lebensumstände, oder sind es Veränderungen im Rahmen eines Untergebrauchs, um nicht Fehlgebrauch sagen zu müssen. Dieser Untergebrauch wird aktiv von uns in der ÖSG durch Aktionen wie „Bewege Dich“ zu verhindern versucht. Weitere Stufen unserer Aktionen wären „Bewege Dich richtig“, gefolgt von „Halte Dich richtig“. Das Bewusstwerden von Bewegung und Haltung ist die Voraussetzung einer „sagittalen Balance“. Diese ist die Ökonomisierung unserer Haltung mit Vermeidung von Fehlbelastungen, die in eine Fehlfunktion – und letztendlich in eine Funktionsstörung – führen. Letztere ist Grund für Operationen oder operativen Organersatz wie Hüftendoprothesen.
Warum schaffen wir es nicht, in einer multiprofessionellen, interdisziplinären, abgestuften, multimodalen Therapie die Fehlfunktion so zu behandeln, dass Fehlentwicklungen hin zu Funktionsstörungen gestoppt und vielleicht sogar reversiert werden können?
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Hierzu muss bereits in der universitären Ausbildung unseres Nachwuchses begonnen werden. Die dynamischen Veränderungen unseres Stütz- und Haltesystems im Laufe des Lebens müssen in Bezug auf gesunde und pathologische Prozesse bzw. Veränderungen vermittelt werden. Das Aufteilen des Körpers in Organgruppen mit optimierten Behandlungsstrategien des Organersatzes oder Reparatur in einer Position der Fehlfunktion kann nicht auf Dauer helfen – oder in medizinischer Ausdrucksweise als Heilen bezeichnet werden. Außer es sind den Akteuren im Heilwesen das Gesamtsystem und deren interaktiven Zusammenhänge vollständig bekannt, dann ist es legitim, sich einem Organsystem gezielt zu widmen.
Bewegungsfähigkeit und Haltungsstabilität trainieren
Die Stellung des Kreuzbeines und des Schulterblattes ist von fundamentalster Bedeutung für unsere Gesundheit und speziell für eine immer länger werdende Lebensspanne. Veränderungen und Beschwerden, die wir am Ende der ersten Hälfte eines Jahrhunderts verspüren und erleiden, sollten oder dürften logischerweise erst am Ende der zweiten Hälfte eines Jahrhunderts auftreten, denn wir leben doppelt oder dreimal so lange wie unsere Vorfahren vor 100 Jahren.
Durch Betäuben, Drücken, Reißen, Zerren, Spritzen, Durchtrennen oder Lähmen kann bestimmt keine Heilung erreicht werden. Eine aktive Haltungskorrektur und Verlangsamung des Haltungsverfalles sind unabdingbar. Dafür gilt es, unsere simplifizierte Vorstellung „Bewegung ist alles“ abzuändern in „Dehnen, Strecken, Kräftigen, Stabilisieren, Üben, Lernen“. So wie wir ein Instrument erlernen, sollten wir unsere Bewegungsfähigkeit und Haltungsstabilität immer weiter verbessern und erlernend trainieren.
Dehnen gibt es in vielfältiger Weise. Ein passives Ziehen oder Zerren an Extremitäten führt zu keinem Lernen – Imprägnieren ins Gehirn –, Wissen und Fähigkeiten erlangen. Pausenlos lernt das Gehirn, vor allem in der Nacht wird die Synapsenbildung verstärkt und damit das aktive Geschehen gelernt, die dadurch erreichten Veränderungen durch eine Zunahme der Synapsenstärke und des kortikalen Areales im Gehirn verankert. Es werden keine Neuronen verändert, sondern die Zahl und Stärke der Synapsen. All dieser pseudowissenschaftliche Schwachsinn wurde durch die Arbeiten von Eric Kandel (Nobelpreis im Jahr 2000) widerlegt. Er schaffte damit die Grundlage für die modernen Neurowissenschaften. Dies gilt für das Bewegungslernen und Haltungslernen genauso, wie es beim Erlernen von Musikinstrumenten passiert.
Motivation ist „ansteckend“
Achten Sie bitte einmal darauf, wie es Ihnen beim Schuhe zubinden geht, oder legen Sie sich einmal eine Schürze zum Kochen an. Geht das ohne Spannung, Schmerzen, Kurzatmigkeit? Dann ist es ja noch nicht so ganz schlecht. Merken Sie dennoch, dass es nicht mehr so gut geht, wie es schon einmal gegangen ist. Dann sollten wir aktiv etwas unternehmen, um uns Tätige im Gesundheitswesen wieder in akzeptable Beweglichkeiten zu bringen. Erst wenn es uns gutgeht, wird es auch unseren Patient:innen gutgehen, denn unsere Motivation wird auf sie überspringen. Motivation ist „ansteckend“. Durch regelmäßiges Dehnen halten Sie ihren Körper flexibel, geschmeidig und besser beweglich. Dadurch ist es viel leichter, wieder in die sagittale Balance zu finden, als mit einem steifen, unbeweglichen, verspannten Becken- und Schultergürtel.
Es ist doch vorerst einmal egal, ob Sie sportlich aktiv werden wollen oder nicht. Wichtig ist, dass Sie ihren Körper elastisch und beweglich erhalten. Die im Laufe des Lebens verloren gehende Beweglichkeit und Flexibilität wird anfänglich gar nicht wahrgenommen, deswegen achten Sie auf sich, wenn Sie sich die Schuhe binden, einen Schurz anziehen, etwas vom Boden aufheben etc. Eine eingeschränkte Beweglichkeit wird zu einer Beeinträchtigung Ihrer Lebensqualität führen.
Gelenks- und Haltungsschäden spüren Sie relativ schnell. Mit fünf Jahren waren Sie beweglich wie ein Fisch im Wasser. Teenager büßen bereits einiges an Beweglichkeit ein, was ihnen nicht auffällt, da der hormonelle Sturm und überaktive Frontalhirnneurone ihr Leben anders zentrieren: Die Haltung wird vom Posing stärker beeinflusst als von der sagittalen Balance. In diesem Altersabschnitt – und ab dem 60. Lebensjahr – kommt es zu besonders ausgeprägten Einbußen. Etwa ab der Mitte der 80er Lebensjahre haben wir mehr als die Hälfte an Beweglichkeit eingebüßt. Diese Zahlen sagen gar nichts aus, aber sie sind in der Lage, etwas vom Unbewussten zum Bewussten zu verschieben und dadurch der chronischen Fehlhaltung mit fehlender Beckenaufrichtung in Folge muskulärer Dysbalance zwischen Halte- und Bewegungsmuskulatur aktiv zu begegnen.
Die positive Beeinflussung unserer Haltung zurück in die sagittale Balance reduziert die Vorfußbelastung und die sich daraus entwickelnden Veränderungen mit Hallux valgus, Hammerzehen, Senk- bzw. Spreizfuß, Knie- und Hüftbeschwerden, Hohlkreuz, Rundrücken, Fehlhaltung und Überlastung in der Halswirbelsäule sowie Schulterschmerzen bei Fehlstellung der Schulter mit Engeverhältnissen im vorgekippten subakromialen Raum der Schulter, ganz zu schweigen von Beschwerden im Bereich der Kopfgelenke mit Kopfschmerzen und mannigfaltigen vegetativen Symptomen.
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Das Dehnen hat Einfluss auf die Funktionsfähigkeit der Haltemuskulatur und ist die Voraussetzung für ein fein abgestimmtes Funktionieren aller Gewebe von Muskulatur, Faszien, Bindegewebe, Sehnen, Bänder, Gelenke mit Nah- und Fernsymptomen. Hierzu verweise ich auf vorangegangene Teile dieser Serie in den SCHMERZ NACHRICHTEN.
Tägliches Training
Es werden mindestens zwei Übungseinheiten pro Wochen empfohlen. Für mich – und aus der Sicht unseres Nervensystems mit täglichem Lernen – ist eine solche Empfehlung nicht nachvollziehbar, denn das Gehirn lernt täglich, und dies vor allem in der Nacht und im Schlaf. Deswegen schlage ich mindestens zwei Übungseinheiten pro Tag vor. Die erste sollte vor dem Aufstehen im Bett erfolgen. Dadurch können wir die bereits erlernten Haltungsmuster so beeinflussen, dass sie nicht mehr diesen täglichen, morgendlichen Anlaufschmerz haben, der durch die Verkippung des Beckens nach hinten mit erhöhtem Druck im hinteren Bandscheibenbereich und Überlastung der Facettengelenke im lumbosakralen Bereich herrühren. Durch entsprechende Übungen (in der letzten Ausgabe ist meine WiPiHi Methode dargestellt und erklärt [1]) werden die Bandscheiben und Wirbelgelenke entlastet und der morgendliche Anlaufschmerz wird sich sukzessive auflösen. Damit sich im Laufe des Tages die Fehlhaltung aber nicht wieder mehr etabliert, sollte ein Dehnen, ein leichtes Kräftigen sowie eine Korrektur der Fehlhaltung auch vor dem Einschlafen im Bett erfolgen. Damit ist ein höherer Lerneffekt erreichbar. Stellen Sie sich vor: Wenn die negative Einflussnahme durch chronisches Sitzen, berufsbedingte chronische Fehlhaltung den Großteil des Tages Einfluss auf ihr Gehirn und ihre Haltung nehmen, dann können sie „zweimal pro Woche“ vergessen, Motto: „nett aber unwirksam“.
Abb. 1
Gedehnt sollte täglich werden: zuerst liegend Oberschenkel-, Hüft-, Becken- und Lendenwirbelsäulenregion, danach in aufrechter Haltung Schulter, Nacken, Hals und Kopf. Foto: AleksandarNakic/Getty Images
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Die Abfolge der Übungen sollte sein:
zuerst Oberschenkel‑, Hüft‑, Becken‑, Lendenwirbelsäulenregion mit den Verlängerungen nach oben und unten im Liegen (Abb. 1)
später in aufrechter Haltung Schultergürtel, Schulterblatt, Nacken, Hals, Kopf bearbeiten
Vergessen Sie dabei nicht, dass die Bindegewebe- und Faszienzellen mit ihren freien Nervenendigungen ungefähr 30 s benötigen, um auf eine Änderung zu reagieren und Impulse einer Änderung auszusenden. Das bedeutet, dass das Dehnen mindestens ein bis zwei Minuten pro Durchgang gehalten werden sollte, um eine zerebrale Aktivität zu bewirken.
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Aktives Dehnen bedeutet, dass die zu dehnende Struktur durch eine körpereigene Bewegung oder Aktivität gedehnt wird. Dies ist aber noch nicht ausreichend, denn es muss regelmäßig wiederholt werden, so als ob Sie ein Instrument erlernen würden. Nur dieser Prozess führt dazu, dass Sie irgendwann das Instrument auch wirklich spielen werden können. Alles andere sind nette Versuche, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, da die noxischen Einflüsse so sehr überwiegen, dass das bisschen Therapie keinen Effekt zeigen wird, vor allem nicht nachhaltig genug, um eine richtungsweisende Änderung in Ihrer bereits stattfindenden fortschreitenden Erkrankung zu erreichen.
Ziel ist es, die Haltung so zu verbessern, dass die Bandscheiben in der sagittalen MRT nicht keilförmig nach hinten zum Spinalkanal zulaufen, die Facettengelenke nicht überlastet sind, was sich in einem Facettengelenksödem darstellt. Zudem sollte kein Naheverhältnis der Dorfortsätze in der unteren Lendenwirbelsäule vorhanden sein, der Winkel des Kreuzbeins zu einem senkrechten Lot sollte deutlich unter 45° sein (ist einfacher zu identifizieren als das viel bessere < 30°).
Das Dehnen kann ein statisches Dehnen in Form eines Haltungsdehnens sein. Hierbei bewegen sie sich aktiv in die Dehnung hinein und steuern diese bewusst, um sich nicht zu verletzen. Wenn sie zum Dehnen ihre Körpermasse einsetzen, entsteht ein dynamisches Dehnen wie bei einem wippenden oder federnden Dehnen. Ich benütze sehr gerne das Phänomen der postisometrischen Relaxation, um den Bewegungsumfang zu vergrößern, speziell für die verkürzte Haltemuskulatur oder verkürzten Oberschenkelmuskulatur. Ich lege das gestreckte Bein der:des Patient:in auf meine Schulter, sie:er drückt das gestreckte Bein gegen meine Schulter, wir halten diese Position 30–40 s, dann entspannt die:der Patient:in und ich gehe seitlich etwas näher und dehne damit die Muskulatur an der Oberschenkelrückseite bis letztendlich das gestreckte Bein senkrecht nach oben zeigt. Dann kommt die andere Seite dran. Durch diesen Vorgang kommt es auch noch zur Parasympathikusaktivierung.
Faszienzellen bearbeiten
Was wird denn eigentlich gedehnt? Der Muskel, oder? Es wird die Faszienzelle gedehnt. Jedes Gewebe und jede Zelle ist von Fasziengewebe umgeben, und dieses wird bearbeitet. Das Muskelgewebe befindet sich innerhalb des Fasziengewebes, das auch die Messeinheit in Form von freien Nervenendigungen beinhaltet. Faszienzellen werden nach ungefähr zwei Jahren erneuert. Wir haben in dieser Serie ja schon ausführlich über die Faszien berichtet. Schmerzen erhöhen den Sympathikotonus, was zur Faszienverhärtung führt und deren Gleitfähigkeit deutlich reduziert. Östrogene machen Faszien weicher, wodurch sich Veränderungen im Gewebe nach der Menopause erklären lassen. Der Hauptgrund aber ist die chronische Fehlhaltung mit fehlender Beckenaufrichtung und flachem Os-sacrum-Winkel durch muskuläre Dysbalance.
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Hier sollte nochmal darauf hingewiesen werden, dass jeder Schmerz real ist und nie von Ihnen als eingebildeter Schmerz Patient:innen kommuniziert werden darf. Falls so etwas passiert, reagieren die Faszienzellen (zusammenhängend von Kopf bis zu Zehenspitzen) nach 24/48 h mit einer Stimulierung des TGF‑β („transforming growth factor beta“), mit einer Aktivierung von adrenergen Rezeptoren an den faszialen Fibroblasten, was zu einer Fibrosierung des Fasziengewebes führt, mit Einfluss auf das Immunsystem. Nach wochenlangem hohem Stress entsteht eine Dysbalance im autonomen Nervensystem mit einer veränderten Innervierung der Oberflächenfaszien.
Dehnen hat im Tierversuch die Fibroblasten verändert. Diese sind die Gitterstruktur des Fasziengewebes. Sie werden vielfach größer, länger und flacher, was zu einer Gewebsentspannung führt.
Deswegen wieder mein Aufruf zu einer täglichen Dehnung von mindestens 2 × 5 min. Dadurch kommt es zu einer Ausschüttung entzündungshemmender Substanzen aus dem Fasziengewebe (immunkompetentes Gewebe). Ich erinnere nochmals daran, dass ein übertragener und fortgeleiteter Schmerz durch das Fasziengewebe vermittelt wird.
Osteoporose
Eine weitere Quelle von Schmerzen des Skelett- und Stützsystems sind die Knochen, speziell Veränderungen durch ein Ungleichgewicht zwischen Knochenauf- und -abbau, aber auch ein Mangel an Kollagen. Ich spreche von der Osteoporose. Jede vierte Frau entwickelt und leidet im Laufe ihres Lebens an Osteoporose.
Immer wiederkehrende Rückenschmerzen können sich zu starken chronischen Schmerzen entwickeln, zu Mobilitäteinschränkungen und zunehmenden körperlichen und seelischen Belastungen führen. Über eine Erhöhung des Sympathikotonus mit andrenergen Spitzen und chronisch erhöhtem Cortisolspiegel kommt es zusätzlich zu einer Verschlechterung der Osteopenie hin zur Osteoporose. Immer wieder höre ich von Patient:innen: „Ich passe ja eh auf, nicht zu stürzen und ich nehme regelmäßig Bisphosphonate, aber trotzdem verbessern sich die Werte in den Untersuchungen nicht.“ Haben Sie die Liste der Nebenwirkungen gelesen? Allein davon bekomme ich schon eine Belastungsstörung, und der Ausblick auf therapieinduzierte generalisierte Schmerzen und die Osteonekrose des Kieferknochens mit Zahnausfall gibt mir den Rest.
Gibt es Alternativen? Natürlich gibt es diese: Bewegung, Belastung des Knochenmaterials führt zur Stärkung der Trabekel und zu einer verbesserten Kollagenproduktion und Kollagenerhaltung. Auch das Ersetzen von Fleisch- und Wurstwaren, „heavy processed food“, Fruchtsäften und Süßigkeiten durch eine gesunde und natürliche Ernährung hilft. Eine regelmäßige Versorgung mit Kollagen führt zu einer Zunahme der Knochendichte in den untersuchten Regionen der Wirbelsäule und in der Hüftregion.
Ich denke nicht, dass es uns gefallen würde, täglich die Häute von Schweinen, Hühnern und Fischen zu verspeisen oder 1 kg Knochenbrühe und dazu noch knorpelreiche Fleischstücke. Zum einen hätten wir wieder das Phosphat-Problem, zum anderen sind das gerade jene Nahrungsbestandteile, die alle wegschneiden und nicht essen wollen. Es gibt aber Kollagenpulver in sehr hoher Qualität, inklusive Strukturprotein, das geschmacksneutral in einem Joghurt, Müsli oder sogar in einer Tasse Kaffee verzehrt werden kann. So kommt das Kollagen dahin, wo es benötigt wird, um die Knochenstruktur zu verbessern.
Astronauten im Weltall
Osteoporose und Muskelschwund der Astronauten im Weltall, bedingt durch Inaktivität und durch kosmische und solare Strahlung, wurden zu einem immer größer werdenden Problem für die Raumfahrt. In der Mikrogravitation des Weltalls kann es zu missionskritischen Knochenbrüchen kommen. Es ist für die Weltraumnationen nicht gerade rühmlich, wenn ihre Helden nicht mehr gehen können und im Rollstuhl sitzen.
Sie nehmen einmal pro Woche Bisphosphonate ein sowie täglich 1 g Kalzium und Vitamin D, ergänzt durch ein spezielles zweistündiges Trainingsprogramm auf Heimtrainer, Laufbändern sowie Vibrations- und Wippplatten. Diese führen zu wechselnden rhythmischen Druckbelastungen der Fußsohle, des Beckengürtels und des Schultergürtels, eigentlich des gesamten Körpers. Dadurch werden Spaziergänge simuliert und Hautrezeptoren angeregt, die den Abbau des knöchernen Skeletts verhindern sollen. Die Wirksamkeit einer 3 × 20 min Therapie pro Woche gegen die postmenopausale Osteoporose nach zwei Jahren konnte nachgewiesen werden. Zudem verbesserte sich der unspezifische Kreuzschmerz signifikant. Eine verbesserte Propriozeption und eine Verbesserung der körperlichen Funktion konnten ebenfalls nachgewiesen werden. Diese Ergebnisse galten einer Ganzkörpervibrationstherapie [2].
Für mich und meine Patient:innen
Ich habe die Ganzkörpervibration – und weiters die Kombination von Ganzkörpervibration mit Wippfunktion – vor knapp 10 Jahren für mich entdeckt und wende dieses Verfahren nahezu täglich nach meinen morgendlichen Dehn- und Kräftigungsübungen des Beckengürtels und des Schultergürtels an. Zuerst korrigiere und optimiere ich im Vibrationsmodus meine Haltung und meine sagittale Balance, indem ich mich dehne – und versuche, alle Faszienzüge zu dehnen. Langsam pendle ich mich während der wechselnden Vibrationsmodi in eine bewusste aufrechte Haltung, die viel besser ist als meine Haltung vor 10 oder 20 Jahren. Dann wechsle ich nach 10 min in den Kombinationsbereich wechselnder Wipp- mit wechselnden Vibrationsfunktionen. Die pausenlose Aktivierung der Stellreflexe in verschiedenen Haltungspositionen mit angespannter Haltemuskulatur im Wechsel mit Bewegungsabläufen wie beim Diskuswerfen oder beim Skifahren optimiert das Zusammenspiel aller Muskelgruppen. Nach 20 bis 30 min Training/Therapie morgens fühle ich mich richtig fit und haltungsverbessert. Diesen Zustand konnte ich vorher mit keiner Übungsmethode erreichen.
Früher plagte mich ein unspezifischer Rückenschmerz, zu dem sich dann vor acht Jahren ein spezifischer Rückenschmerz in Form einer L5-Radikulopathie bei Bandscheibenvorfall hinzugesellte. Die akute Radikulopathie konnte mit Stufenlagerung von 10 bis 16 h pro Tag nach 6 Tagen sehr gut beseitigt werden, und der immer noch vorhandene unspezifische Rückenschmerz konnte mittels Dehnung, Kräftigung, Verbesserung der Haltung durch meine Vibrations-Wippplatte (Abb. 2) und am Fahrradergometer hervorragend behandelt werden. Alle paar Monate traten vorübergehende Schmerzen in der Wirbelsäule auf, die unter Umstellungsschmerz bei Haltungskorrektur von mir klassifiziert worden sind. Eine Woche ohne meine spezifischen Übungen und ohne meine Vibrations-Wippplatte, und ich verspüre, wie ich so langsam wieder schlampiger in der Haltung werde und die Schmerzen wiederkommen. Dies sagt mir, dass mein alltägliches Leben im OP und in den Ambulanzen eine schlechte Haltung und künftige Schmerzen fördert und meine morgendlichen Trainingseinheiten die beste Maßnahme gegen alle Formen von Schmerzen des Stütz- und Bewegungssystems in verdichteter Form darstellen. Ich habe inzwischen ein Gerät zu Hause und eines in der Ordination als Serviceleistung für meine Mitarbeiter:innen und Patient:innen.
Was für die Astronauten gut ist, ist auch sehr gut für uns Ärzt:innen. In der multimodalen Schmerztherapie helfen anfangs Schmerzmittel, Bewegungs- und Haltungsverbesserungen, im Laufe der Zeit werden die Schmerzmittel dann nur noch als Bedarfsmittel eingenommen.
Abb. 2
Tägliches Traing auf der Vibrations-Wippplatte. Foto: Eisner
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Infobox
In seiner Kolumne arbeitet Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie an der MedUni Innsbruck und Präsident der ÖSG, die unterschiedlichen Rückenschmerzentitäten für den klinischen Alltag auf und gibt praktische Tipps für Diagnose- und Therapieansätze. Reaktionen an: wilhelm.eisner@i-med.ac.at
W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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