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Erschienen in:

10.10.2024 | Originalien

Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich – Fünfter Teil

Anmerkungen eines Zeitzeugen

verfasst von: Univ.-Dr. Peter Scheer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 6/2024

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Zusammenfassung

Im neuen Jahrtausend begann eine reiche, vielfarbige psychosomatische Landschaft in Österreich zu blühen: Es gelang Adrian Kamper aus dem Kinderspital in Wels-Grieskirchen eine Psychosomatik und seit kurzem eine Kinder- und Jugendpsychiatrie zu integrieren. Die einst unüberwindbar scheinenden Grenzen zwischen Psychiatrie und Psychosomatik verschwimmen langsam. Ob eine adoleszente Frau, die an Anorexia nervosa leidet, Patientin einer Jugendpsychiatrie oder einer Psychosomatik sein soll, blieb lange – mit gegenseitigen „Beschimpfungen“ – ungelöst und ist auch international umstritten. Die Kinder- und Jugendärzte behaupteten zu Recht, dass sie sich mit Sondenernährung und Begleiterkrankungen besser auskennen; die Kinder- und Jugendpsychiater konnten umfassende Einzel- und Familientherapie anbieten und ihre Kenntnisse der Psychopharmakologie. So wie es 2024 ist, ist es besser: eine kongruente und integrierte Betreuung durch Ärztinnen und Ärzte, die beides gleichermaßen anbieten können. Dabei muss man die Gefahren des „labeling“ beachten: Nicht jeder oder jede, die als Jugendliche an einer solchen gemeinsamen Einrichtung aufgenommen wird, ist geisteskrank, und es kann immer sein, dass ein somatisches Problem die Ursache der Störung ist.
Fußnoten
1
Der gelernte Österreicher kennt die theatralische Entsprechung des Versuchs Goffmanns in Ferenc’ Molnars Komödie: Pension Schöller. Bewohnern einer Pension wird gesagt, dass die Neuankömmlinge nicht nur einen Sprachfehler haben, sondern verrückt sind. Ebenso wird den Einziehenden mitgeteilt, dass die an sich freundlichen Insassen der Pension alle etwas verrückt sind. Beide Kleingruppen interpretieren daher das von den anderen gesagte als verrückt, realitätsverzerrt.
 
2
Der Film: „Einer flog übers Kuckucksnest“ hat denselben Fokus. In der totalen Institution gibt es kein Entrinnen. Nur die Lobotomie, Selbstmord oder Tötung eröffnen einen Ausweg.
 
3
In F. Glausners Buch: Matto regiert, zeigt der Autor, der selbst lange psychiatrischer Patient war, die Besonderheiten der Intrigen in einer modern-psychoanalytisch geführten Anstalt auf.
 
4
SEDU = Specialized Eating Disorder Unit
 
5
Heideline Als erfand das NIDCAP® System für die individualisierte Betreuung des Frühgeborenen und machte es zu einem internationalen Standard.
 
6
Die Geschichte der Diagnose ist ebenso historisch: Noch zu Freuds Zeiten nannte man das: Essideosynkrasien, mit der Dominanz des Englischen: „picky eating“ und heute ARFID = „avoidant-restrictive food intake disorder“. Alle geben keine Ursachen an. Der Versuch, die psychodynamische Ursache anzugeben, hat 1911 zum Bruch zwischen Freud und Adler geführt. Denn, ob die kindliche Sexualität oder die besondere Wertschätzung jüdischer Knaben in der Familie ursächlich ist oder 2023 das Überangebot an Speisen, bleibt im Dunkeln.
 
7
Friedrich Hebbel in einer Festrede anlässlich des Jahrestags der Verfassung, des Februarpatents, 1861.
 
Metadaten
Titel
Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich – Fünfter Teil
Anmerkungen eines Zeitzeugen
verfasst von
Univ.-Dr. Peter Scheer
Publikationsdatum
10.10.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 6/2024
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-024-01246-w