Einleitung
Die Novelle des Unterbringungsgesetzes (UbG) 2023, die seit 1. Juli 2023 in Kraft ist, stellt eine umfassende Reform dar, die auf den Empfehlungen der „Brunnenmarkt-Kommission“ (2018–2019) basiert. Ziel ist es, die psychiatrische Versorgung zu modernisieren, rechtliche Klarheit zu schaffen und die Selbstbestimmung der Patient:innen gemäß internationalen Standards wie der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu fördern und gleichzeitig die rechtliche Absicherung und Dokumentationspflichten im medizinischen Kontext zu verbessern. Das „UbG-Neu“ kann also als wichtiger Schritt in der psychiatrischen Versorgung verstanden werden, allerdings stellt es die psychiatrischen Abteilungen vor zusätzliche Aufgaben, die eine Anpassung der Strukturqualität erfordern, um den zusätzlichen Aufgaben und der weiteren Differenzierung gerecht zu werden zu können.
Der Artikel möchte aufzeigen, welche Erfahrungen bisher gemacht wurden und wie die Umsetzung des Gesetzes befördert werden kann.
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Das UbG-Neu stellt psychiatrische Abteilungen vor zusätzliche Aufgaben
Dazu ist eine Vernetzung der beteiligten Einrichtungen bzw. Vertreter:innen und Angehörigen notwendig. Die Berichtspflichten wurden ausgeweitet und stellen die Infrastruktur der Kommunikation vor neue Herausforderungen, die noch durch zusätzliche Gesetzesänderungen, wie das Telematik-Gesetz, im medizinischen Bereich Erneuerungen fordern. Auf der technischen Ebene werden hier noch Schritte notwendig, um den zusätzlichen Bürokratieaufwand wieder „einzufangen“ und eine patienten- und angehörigen-/vertreternahe Kommunikation zu ermöglichen, die auch unverzüglich ist, wie es das Gesetz fordert.
Durch die Differenzierung der Rollenbilder der Beteiligten könnte wie zum Beispiel in der Triangulierung beim UbG-Gericht: Patientin/Patient, Patientenanwaltschaft und Betreuender eine zusätzliche therapeutische Funktion entstehen [1].
Diese Reformen [2] sind in Österreich nicht isoliert zu sehen, sondern müssen im Rahmen der Europäischen Union gesehen werden, hier soll vor allem auf den deutschen Sprachraum eingegangen werden. Das AWMF-Leitlinienregister weist die 2018 erstellte S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen [3] mit 2023 als abgelaufen aus. Ein neuer Konsens sollte daher am besten zumindest im gesamten deutschsprachigen Raum gesucht werden.
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Wesentliche Änderungen
Präklinische Verbringung
Vor einer Unterbringung müssen alternative Behandlungsoptionen wie ambulante Versorgung, Krisenzentren oder psychosoziale Betreuung geprüft werden. Ein neu eingeführter Ärztepool sowie die Dokumentation dieser Prüfungen sollen Transparenz schaffen und die Alternativenabklärung sicherstellen [4].
Aufnahmeuntersuchung und Unterbringung
Die Rolle der Abteilungsleiter:innen wird gestärkt. Neben der Dokumentation von Nichtaufnahmen müssen Vertreter:innen, Vertrauenspersonen und Angehörige informiert werden. Zusätzlich werden Nichtaufnahmen statistisch erfasst, um sie für wissenschaftliche Analysen nutzbar zu machen [5]. Es wäre wichtig, diese in das GÖG-Monitoring der Unterbringung nach UbG in Österreich, das seit 2005 läuft, aufzunehmen.
Verfahren und Rechtsschutz
Neue Regelungen stärken die Rechte der Patient:innen durch die verpflichtende Erstellung eines Behandlungsplans und eine intensivere Einbindung in Entscheidungsprozesse. Dies zielt darauf ab, den Rechtsschutz zu verbessern und die Behandlungsqualität zu sichern [6].
Besondere Regelungen für Minderjährige
Ein eigener Abschnitt widmet sich den spezifischen Anforderungen der Unterbringung und Behandlung von Minderjährigen. Die Bedürfnisse dieser Patientengruppe werden als besonders sensibel eingestuft [7].
Herausforderungen und Kritik
Die Novelle bringt jedoch auch neue Herausforderungen mit sich. Die erweiterten Dokumentationspflichten erhöhen den administrativen Aufwand um 30–60 min pro Fall, was die Zeit für die direkte Betreuung der Patient:innen verringert. Der Fachkräftemangel in der Akutpsychiatrie verschärft diese Problematik zusätzlich.
Rechtliche Anforderungen, wie die gerichtliche Überprüfung, können zudem Verzögerungen im Behandlungsprozess verursachen und die Effizienz der Versorgung beeinträchtigen [8, 9].
Im Einzelnen haben des Weiteren folgende Paragrafen zu Diskussionen Anlass gegeben:
„§ 10. (2) Der Abteilungsleiter hat den aufgenommenen Patienten ehestens über die Gründe der Unterbringung zu unterrichten. Er hat von der Unterbringung unverzüglich den Vertreter des Patienten und dessen Vertrauensperson sowie einen Angehörigen, der mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebt oder für ihn sorgt, oder die Einrichtung, die ihn umfassend betreut, zu verständigen. Der Verständigung des Vertreters ist eine Ausfertigung des ärztlichen Zeugnisses nach Abs. 1 anzuschließen.“
Hier ist eine Verpflichtung eindeutig formuliert, einen Angehörigen, der mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebt, zu verständigen. Im Gegensatz zur Nichtunterbringung, wo der Patient widersprechen kann (§ 10 Abs. 6), kann der Patient bei Abs. 1 nicht widersprechen.
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Diese Neuerung hat zur Folge, dass die Krankenanstalt z. B. die im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern über die Unterbringung ihres 18-jährigen Sohnes wegen eines Alkohol- und Drogenexzesses informieren muss, auch wenn der Sohn darum bittet, dass dies nicht geschieht (z. B. aus Angst, die Unterstützung der Eltern für seine Ausbildung zu verlieren). War hier früher eine Interessenabwägung möglich, so ist dies nach dem neuen Gesetz nicht mehr möglich.
In der klinischen Praxis von Bedeutung ist die Interpretation der medizinischen Behandlung: § 37 gibt den Ärzt:innen im Spital die Möglichkeit, im Notfall anzubehandeln.
Im Alltag nehmen die meisten untergebrachten Personen ihre Medikation freiwillig ein. Diese freiwillige Einnahme (in der Regel einer oralen Medikation, z. B. in Form von Tabletten) wird in der klinischen Routine nach wie vor so interpretiert, dass die Person in dieser Hinsicht entscheidungsfähig ist. (Auch eine Person mit einer neurokognitiven Störung kann z. B. entscheiden, weiterhin die bekannte kleine gelbe Pille gegen Diabetes oder Bluthochdruck einzunehmen). Verweigert jedoch eine untergebrachte Person die Medikation, so muss gemäß § 36 Abs. 1 abgewartet werden, bis sie einwilligt oder § 37 greift; dieser Punkt stellt jedoch keine Änderung des Verfahrens gegenüber dem bisherigen Gesetz dar.
In der täglichen Diskussion mit der Patientenanwaltschaft wird von dieser der Wunsch geäußert, den Begriff der „besonderen Heilbehandlung“ in der Psychiatrie sehr weit zu fassen. Eine PEG-Sonde oder eine Elektrokonvulsionstherapie stellen unseres Erachtens solche besonderen Heilbehandlungen dar, nicht aber Clozapin, Mirtazapin (wegen der Gefahr einer Agranulozytose), Olanzapin (wegen der Gefahr einer Insulinresistenz) oder Cariprazin (wegen der langen Halbwertszeit). Auch ein Depot ist wegen der langen Halbwertszeit nicht per se eine besondere Heilbehandlung. Es ist sinnvoll, sich die weitere und termingerechte Verabreichung eines Depots im Sinne der o.g. Entscheidungsfähigkeit vom Untergebrachten unterschreiben zu lassen, eine zusätzliche Vorlage beim Gericht ist nicht erforderlich. De-novo-Einstellungen mit Depot sind aus Gründen der künftigen Compliance und der gemeinsamen Entscheidung über eine längerfristige Therapie nach Aufhebung der Unterbringung vorzunehmen.
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Die Novellierung des Unterbringungsgesetzes fällt in eine Zeit, in der sich das Fach „Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin“ aus verschiedenen Gründen in einer besonderen Phase befindet. Der Bedarf an ärztlichem Personal ist hoch und wird von den jeweiligen Trägern nicht ausreichend gedeckt [10‐12]. Hinzu kommt, dass in Österreich das Arbeitszeitgesetz im Krankenhaus vergleichsweise spät umgesetzt wurde [13], was die Situation nach Implementierung weiter verschärft hat. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Patient:innen in der Akutpsychiatrie einen besonderen personellen Aufwand benötigen, um eine adäquate Versorgung sicherzustellen und nicht zuletzt, um menschlich belastende, unnötige und volkswirtschaftlich kostspielige Wiederaufnahmen („Drehtürpsychiatrie“) zu vermeiden [14, 15].
In psychiatrischen Kliniken befasst sich klinisches Risikomanagement vor allem mit der Aggression und der Selbstgefährdung [16, 17]: Es geht um den Schutz der Patient:innen, der Mitarbeiter:innen und der Angehörigen vor anderen Patient:innen, aber auch um den Schutz der Patient:innen vor sich selbst.
Wichtiges Ziel ist der Schutz der Patient:innen, der Mitarbeiter:innen und der Angehörigen
Gerade die Aufnahmestationen mit ihren besonderen Anforderungen (Unterbringung, Aggression, Selbstgefährdung) leiden unter der oben genannten verschärften Personalsituation [18], problematisch sind hier zunehmend die Anforderungen durch Tätigkeiten ohne Patientenkontakt [19], in Deutschland in besonderer Weise auch durch den Einfluss der UN-Behindertenrechtskonvention auf die deutsche Rechtsprechung [20, 21].
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Vorschläge und Perspektiven
In der Literatur werden mehrere Ansätze zur Verbesserung diskutiert:
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Entwicklung standardisierter Formulare und Abläufe zur Reduktion des administrativen Aufwands mit IT-Umsetzung
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Förderung personalisierter Medizin und regional integrierter Versorgung
Erfahrungen
Aus der Sicht der versorgungsverpflichteten psychiatrischen Regionalabteilung Favoriten (220.000 Einwohner:innen) in einer der sechs großen Kliniken Wiens (8 UbG – Versorgungs-Psychiatrien) ergibt sich ein derzeit durchschnittlicher fachärztlicher Mehraufwand (Dokumentations- und Informationspflichten, Verhandlungszeiten) pro untergebrachtem Patienten von 30–60 min pro Aufenthalt.
Die Implementierung umfangreicher Checklisten und Behandlungspläne, komplexer Informationsketten sowie die organisatorische Umsetzung bezieht viele Berufsgruppen ein und verlangt eine zeitgemäße Umsetzung in smarter digitaler Form, die allerdings massiven Zusatzaufwand verlangt (Beauftragung, Programmierung, Umsetzung).
Verbunden mit dem Datenschutzgesetz und dem Fax-Verbot ab 01.01.2025 können die Vorgaben nur verzögert umgesetzt werden, wodurch komplexe Gesetzgebungen einen langen Entwicklungsverlauf vorab verlangen, der hier nicht ausreichend bedacht wurde.
Detailliert ablaufgeklärt hinzugekommen sind Heilbehandlungen, Verständigungspflichten der Polizei und anderer, Dokumentation bei Nichtaufnahme, die in der sozialpsychiatrischen Praxis bestenfalls ohnehin unstrukturiert Usus waren.
Zusätzliche Maßnahmen sind erforderlich
Diese detailliert vorstrukturierte Kommunikationsstruktur wurde in der Implementierungsphase naturgemäß als korsettartige einschränkende Belastung der Fachärzt:innen empfunden und weicht zunehmend einer Nutzung der Checklisten in gemeinsamer Dokumentations- und Informationskultur beteiligter Berufsgruppen, wie Pflege, Sozialarbeit, klinisch administrativer Dienst. Ebenso in der Rechtspraxis mit Gerichten, Patientenanwälten, Sachverständigen.
Die Anwesenheit von Sachverständigen an zwei Gerichtsterminen pro Woche verkürzt Behandlungsverzögerungen bei einfachen sowie Sonder- und Heilbehandlungen.
Mittlerweile entwickelt sich eine mentalisierungsfördernde, respektvolle, sachliche, fakten- und evidenzbasierte Kommunikations- und informationsreflexive Diskursform. Eine zunehmende integrierte Routine dieser Ablaufprozesse führt letztlich zu wieder mehr Zeit zur sinnvoll integrativen fokussierten Arbeit mit dem therapeutischen Team im biopsychosozialen Spannungsfeld mit Patient:innen, Angehörigen und allen Stakeholdern.
In Wien wurden neue Polizeidienstanweisungen für die Polizei erlassen, die anfänglich zu teils verkürzten Übergaben führten, ohne dass erkennbar war, ob und welche Gefährdungen noch bestehen. Da Avisierungen durch die Rettung an die nach Meldeadresse zuständige Fachärztin oder Facharzt telefonisch durchgeführt wurden, wird nunmehr bei Unklarheiten zur Gefährdungssituation vermehrt gezielt die im Hintergrund befindliche Polizei befragt, was zu einer besseren Vorbereitung des psychiatrischen Personals führt, um eine gesicherte Übergabe durchführen zu können („gesicherte Übergabe“).
Dies führte durch regelhafte Besprechung entsprechender Gedächtnisprotokolle beider Seiten mit der Polizei zu Adaptierungen und Optimierungen der Dienstanweisungen und der Abfragekultur.
Komplexe neue Strukturen bilden dynamisch lebendige Denk- und Besprechungsräume für gegenseitiges Verständnis, Bedenken und Einsicht.
Patient:innen und Patienten haben so eine breitere Möglichkeit, die oft traumatisch erlebten Beschränkungserfahrungen nachzubesprechen und durchzuarbeiten als Beginn einer therapeutischen Erfahrung bei oft frühen Traumatisierungen.
Fazit für die Praxis
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Die UbG-Novelle 2023 ist ein bedeutender Reformschritt in der psychiatrischen Versorgung, der die Rechte der Patient:innen stärkt und den rechtlichen Rahmen modernisiert.
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Gleichzeitig zeigt die Diskussion in der Fachliteratur, dass zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, um die gestiegenen administrativen Anforderungen zu bewältigen und die Qualität der Versorgung zu sichern.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
K. Stastka, M. Aigner und A. Erfurth geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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