Das durchschnittliche Alter sowie die Zahl von zu operierenden älteren Patienten nehmen seit Jahren stetig zu, weshalb eine sorgfältige Operabilitätsabklärung hinsichtlich Prognose und möglichen peri- und postoperativen Komplikationen grossen Sinn macht. Eine auf Alltagsfunktionalität basierte Gebrechlichkeitsklassifikation (wie die nach Fried) kann hier nicht nur schnell Klarheit hinsichtlich möglich einzugehender Risiken schaffen, sondern auch die Indikation für ein weiterführendes multidimensionales geriatrisches Assessment oder die gezielte Einleitung therapeutischer Massnahmen zur Verminderung des operativen Risikos bedeuten. Kann kein standardmässiges Gebrechlichkeitsassessment durchgeführt werden, können auch einfache Screeningtests wie der „timed up & go test“ und seine weiterentwickelte Version des „imagined timed up & go test“ auf mögliche postoperative Risiken motorischer und kognitiver Komplikationen hinweisen.
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Einleitung
Die von den bestehenden medizinischen Gesundheitsinstitutionen zu behandelnden hochaltrigen Patienten werden – angesichts der immer noch steigenden Lebenserwartung – nicht nur stetig älter, sie nehmen auch zahlenmässig aus demografischen Gründen zu. Viele Hochaltrige sind heute – im Vergleich zu vor 20 Jahren – in viel besserem, ja ausgezeichnetem Gesundheitszustand. So hat sich z. B. das Durchschnittsalter für operative Wahleingriffe zum Hüftersatz massiv nach oben verschoben. Im Gegensatz zur Altersmedizin und inneren Medizin, wo invasive diagnostische oder therapeutische Interventionen mit möglichen Zusatzrisiken für den Patientengesamtzustand eher die Ausnahme bilden, sind chirurgische Disziplinen bei älteren und hochaltrigen Patienten zunehmend gefordert, Eingriffsrisiken hinsichtlich Operationsbenefit und -risiko abzuwägen. Unter den medizinischen (Spezial)disziplinen besteht zunehmend Einigkeit, dass hier nicht primär das chronologische Alter, sondern die individuelle Vulnerabilität („frailty“) eines älteren Patienten berücksichtigt werden muss. Dass diese Vulnerabilität für Operationsoutcomes entscheidend ist, wird allgemein nicht bestritten, aber wie diese Vulnerabilität älterer Patienten erkannt bzw. definiert werden soll, ist – je nach medizinischer Disziplin und Sichtweise – sehr verschieden.
Der vor 2 Jahren publizierte und in chirurgisch behandelten älteren Patienten validierte modifizierte „frailty index“ (FI) mFI‑5 basiert auf 5 Komorbiditätsrisikofaktoren (Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, chronisch obstruktive Lungenerkrankung oder Pneumonie, abhängiger funktioneller Status [total oder partiell] zum Zeitpunkt der Operation, arterielle Hypertonie; Tab. 1; [1]). Im Vergleich zu einer jüngeren Patientenpopulation wurde der mFI‑5 in einer geriatrischen Patientenpopulation als schlechter, aber immer noch effektiver Prädiktor für Mortalität und postoperative Komplikationen befunden.
Congestive heart failure (within 30 days of surgery)
2
Diabetes mellitus (insulin dependent or noninsulin dependent)
3
Chronic obstructive pulmonary disease or pneumonia
4
Dependent functional health status (total or partial) at time of surgery
5
Hypertension requiring medication
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Der „study of osteoporotic fractures (SOF) frailty index“ [2] ist ein weiterer sehr einfach anwendbarer Index, der lediglich aus 3 Items besteht:
a)
Nicht intentionaler Gewichtsverlust von > 5 % binnen des letzten Jahres,
b)
Verneinung der Frage „Fühlen Sie sich energiegeladen?“,
c)
Unfähigkeit, 5‑mal vom Stuhl aufzustehen und sich wieder hinzusetzen.
Die Klassifizierung als gebrechlich („frail“) tritt dann ein, wenn mindestens 2 der 3 genannten Kriterien erfüllt werden. Hierdurch kann es unter medizinischen Akutbedingungen zu systematischen Überschätzungen der Gebrechlichkeitsprävalenz kommen. Dennoch konnte sich der SOF als valides Untersuchungsinstrument behaupten und die konvergente Validität zu umfangreicheren anderen FI bestätigen.
Mehrere nationale und internationale Empfehlungen, u. a. die Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) heben klar die Bedeutung der Verwendung der „clinical frailty scale“ (CFS [klinische Gebrechlichkeitsskala]) hervor. – Ziel ist die Identifizierung von Patienten mit einem erhöhten Risiko für einen ausbleibenden Behandlungserfolg, welche nicht von einer intensivmedizinischen Intervention profitieren dürften. Die CFS kann von allen adäquat geschulten Fachkräften im Gesundheits- oder Pflegedienst durchgeführt werden. Die Skala besteht aus 9 Kategorien (Abb. 1; [3]).
Abb. 1
„Clinical frailty scale“ (CFS; deutsche Übersetzung) nach Rockwood et al. [3]
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Gebrechlichkeit: die altersmedizinische Sicht
Das geriatrische Gebrechlichkeitskonzept basiert auf einer funktionellen Sichtweise und definiert sich als physiologische Vulnerabilität, die durch reduzierte homöostatische Reserven mit daraus resultierender verminderter Stressresistenz zustande kommt [4]. Anders als in den oben genannten rein diagnosen- oder komorbiditätenbasierten Assessments kommen hier auch funktionelle, am Patienten gemessene Parameter zur Anwendung: Gewichtsverlust, empfundene Erschöpfung, körperliche Aktivität, Ganggeschwindigkeit und Handschlusskraft (Abb. 2). Die erhaltenen Messresultate werden anhand von Normwerten beurteilt. Bei 3 oder mehr positiven Kriterien gilt der Patient als „frail“. Dieser Gebrechlichkeitsphänotyp war in der Originalstudie (auf 3 Jahre) unabhängig prädiktiv für Stürze, verschlechterte Mobilität oder eingeschränkte ADL, Hospitalisierung und Tod, mit Risikoassoziationen von 1,82–4,46. Die Studie zeigte auch, dass Gebrechlichkeit weder Synonym für Komorbidität noch körperliche Behinderung war, sondern vielmehr Komorbidität ein ätiologischer Risikofaktor für und Behinderung ein Resultat von Gebrechlichkeit ist!
Ob ein Patient als „frail“ oder fit klassifiziert wird, hat wesentliche Voraussagekraft bei Auftreten von Stressoren wie z. B. Infekten. Ein fitter Patient wird bei einer Pneumonie nach anfänglicher Verschlechterung des Gesundheitszustandes wieder schnell seinen gesundheitlichen Vorzustand erreichen. Anders bei einem gebrechlichen Patienten: Hier wird der Genesungsprozess deutlich länger dauern und – ganz wesentlich – er wird gesundheitsmässig nicht mehr das Niveau seiner Vorzustandes erreichen. Im konkreten Beispiel eines hospitalisierten, zuhause lebenden Seniors, der vor seiner Pneumonieerkrankung bereits einen voll ausgeschöpften Unterstützungsbedarf von 3 täglichen SPITEX-Visiten hatte, muss eine Rückkehr nach Hause – nach abgeheilter Pneumonie – bereits bei Spitaleintritt als unrealistisch angesehen werden. Entsprechend gilt es hier, sehr schnell eine Institutionalisierung zu planen (Abb. 3).
Abb. 3
Genesungsverlauf und -prognose in Abhängigkeit des Gebrechlichkeitsstatus
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Die Kenntnis des Gebrechlichkeitsstatus eines Patienten kann aber auch für andere medizinische Entscheide und Aussagen wesentliche Bedeutung haben. In der Sekundärprävention (z. B. Hypercholesterinämie und Verordnung von Statinen!) ist es bei hochaltrigen Patienten hilfreich, deren mittlere Lebenserwartung zu kennen. Je nach Gebrechlichkeitsstatus sind dies bei einem 90-jährigen Mann 5,8 Jahre (fit), 3,2 Jahre (am Übergang zu „frail“) oder 1,5 Jahre („frail“, Tab. 2).
Tab. 2
Lebenserwartung aufgrund von Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand (Gebrechlichkeitsklassifikation „fit – im Übergang – gebrechlich“). (Nach [6])
Lebenserwartung in Jahren abhängig vom Alter und dem Gesundheitszustand
70 Jahre
75 Jahre
80 Jahre
85 Jahre
90 Jahre
Frauen
21,3
15,7
9,5
17
11,9
6,8
13
8,6
4,6
9,6
5,9
2,9
6,8
3,9
1,8
Männer
18
12,4
6,7
14,2
9,3
4,9
10,8
6,7
3,3
7,9
4,7
2,2
5,8
3,2
1,5
*Geschätzter Gesundheitszustand je nach Komorbiditäten und Unabhängigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens (besser/gleich/schlechter als der Durchschnitt)
Pathophysiologie und klinische Symptome von Gebrechlichkeit
Gebrechlichkeit entsteht durch reduzierte physiologische Reserven in meist mehreren Organsystemen. Die dadurch entstandene verminderte Stressresistenz wird bei plötzlich auftretenden Stressfaktoren wie z. B. Infekten, Schmerzen, Operationen usw. sichtbar mittels 3 stereotyper Hauptsymptome: Stürze, Delirium oder fluktuierende Behinderung (Abb. 4; [8]).
Das geriatrische Assessment als Instrument zur Identifizierung von funktionellen Ressourcen
Ein vollumfängliches geriatrisches Assessment eines älteren Patienten (Abb. 5) zeigt nicht nur allfällige Defizite auf, sondern lässt auch sinnvolle und realistische Behandlungsziele für einen besseren Gesundheitsgesamtzustand sichtbar werden. Bei einem elektiv geplanten chirurgischen Eingriff kann dies z. B. eine Möglichkeit sein, den Patienten in einen für die Operation besseren Vorzustand zu bringen. Die Durchführung eines geriatrischen Assessments ist zeitaufwendig und gehört in die Hände eines geriatrischen Spezialistenteams. Nicht nur müssen die richtigen Assessmentinstrumente gewählt (zur Vermeidung von Boden-bzw. Deckeneffekten), sondern auch die therapierbaren Defizite identifiziert und festgelegt werden. Als stellvertretendes Beispiel für therapeutische Möglichkeiten sei hier die gezielte Behandlung eines Proteindefizits mit leucinverstärkten Molkeproteinsupplementen angeführt, womit Mobilität und Muskelkraft (ohne Training!) selbst bei Pflegeheimbewohnern substanziell verbessert werden können [8]. Eine derartige Vorbereitung bei einem Elektiveingriff kann für die postoperative Rekonvaleszenz- und Rehabilitationsphase (und letztlich für das Operationsresultat) entscheidend sein!
Abb. 5
Das multidimensionale geriatrische Assessment zielt auf eine gesamtheitliche Erfassung des Patienten, die neben den rein medizinischen Organdiagnosen auch die Funktionalität und körperliche, kognitive, seelische Gesundheit sowie die soziale Situation älterer Menschen beinhaltet
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Aus obigen Gründen etablierte sich in den letzten 10 Jahren vielerorts eine enge Zusammenarbeit zwischen Altersmedizin und operativen Disziplinen wie Orthopädie/Traumatologie mit der formalen Gründung von Alterstraumazentren [9]. Hier werden – unter Einhaltung von Qualitätsstandards – ältere Patienten entsprechend ihrer Gesamtbedürfnisse vor und nach der Operation interdisziplinär behandelt.
Der „timed up & go test“ als modernes und schnelles Screening für Mobilität und Kognition
Um sich – auch ohne direkte Kollaboration mit der Altersmedizin – schnell und informativ zu Mobilität und kognitiver Fitness eines Patienten ein Bild machen zu können, gibt es einfache Screeningtests, die sich ohne grosse Kosten oder Platzbedürfnisse auch in nichtspezialisierten Settings durchführen lassen.
Mobilität und „frailty“
Für den „timed up & go test” (Abb. 6; [10]) braucht es z. B. lediglich einen Stuhl mit Armlehnen und ein 3 m davor aufgestelltes Ziel (Verkehrskonus, Flasche usw.) sowie eine Stoppuhr. Der Patient nimmt im Stuhl Platz. Auf das Kommando „los“ (Beginn der Zeitmessung) soll er aufstehen (normal, keine Kompetition, wenn nötig mit Gehhilfe!), nach vorne und um den Verkehrskonus herumgehen und sich wieder im Stuhl niedersetzen. Berührt sein Gesäss die Stuhlfläche, ist die Zeitmessung beendet. Braucht der Patient dafür länger als 10 s, steht eine mögliche „frailty“ im Raum [11]. Ab 13,5 s besteht eine erhöhtes Sturzrisiko [12], mit für den Alltag relevanten Mobilitätsproblemen ist ab 20 s zu rechnen [10, 12].
Abb. 6
Für den „timed up & go test“ werden ein Stuhl mit Armelehnen, eine Stoppuhr und ein 3 m vor dem Stuhl aufgestelltes Gehziel (z. B. Verkehrskonus) benötigt. (Nach [10])
Ein weiterentwickelter „imagined timed up & go“ (Abb. 7; [13]) kann auch sehr schnell über die kognitive Fitness eines Patienten Auskunft geben: Dazu lässt man den Patienten – nach Durchführung des obigen Testablaufs – im Stuhl die gleiche Aufgabe nochmals durchführen, allerdings nur in seiner Vorstellung. Auf das Kommando „los“ macht er sich – in seiner Vorstellung – nochmals auf denselben Parcours und sagt „stopp“, wenn er sich wieder auf dem Stuhl zurückbefindet. Braucht der Patient für diese imaginäre Aufgabe weniger als halb so lang wie in Wirklichkeit, ist von einer erheblichen Hirnleistungsstörung (mit potenziellem postoperativem Deliriumsrisiko!) auszugehen!
Abb. 7
Beim imaginären „timed up & go test“ stellt sich der Patient die Aufgabe lediglich vor und beendet sie, indem er beim (imaginären) Wiederplatznehmen auf dem Stuhl „stopp“ sagt. Braucht er dabei in seiner Imagination weniger als die Hälfte der im wirklichen Test gemessenen Sekundenzahl, ist von einer relevanten Hirnleistungsstörung (mit entsprechend hohem postoperativem Deliriumsrisiko) auszugehen. (Nach [10, 13])
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Schlussfolgerung
Zur Operabilitätsbeurteilung älterer Patienten gibt es verschiedene mehr oder weniger zielführende Instrumente der Gebrechlichkeitsabklärung. Multimorbiditätsbasierte Risikoeinschätzungen eignen sich hier nur bedingt, da Multi- oder Polymorbidität lediglich Risikofaktoren für Gebrechlichkeit sind, jedoch nicht eigentliche „frailty“ bedeuten. Alltagsfunktionsbasierte Gebrechlichkeitsklassifikationen lassen nicht nur ein erhöhtes perioperatives Risiko erkennen, sondern geben auch direkte Hinweise auf mögliche therapeutische Optionen, den Gesamtzustand des Patienten zu verbessern. Dies kann v. a. bei elektiven Eingriffen mit einer gezielten Operationsvorbereitung helfen, die Operabilität und postoperative Prognose von fragilen Patienten zu verbessern.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
R.W. Kressig gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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