Dr. Mireille Ngosso setzt sich als Ärztin und Politikerin für Frauengesundheit, Antirassismus und Bildung ein. Im Juni 2020 organisierte Sie die Black Lives Matter-Demonstrationen mit 50.000 Teilnehmer:innen in Wien. Gemeinsam mit Faika El-Nagashi veröffentlichte sie 2022 das Buch "Für alle, die hier sind". Warum speziell der Beruf der Allgemeinmedizinerin ihre ärztlichen und politischen Ziele so gut verbindet, erzählt Ngosso im Interview.
Dr. Mireille Ngosso, Ärztin und Politikerin, Abgeordnete zum Wiener Landtag und Frauenvorsitzende der SPÖ Innere Stadt.
Minitta Kandlbauer
Ärzte Woche: Sie setzen sich als Ärztin und Politikerin für eine faire Versorgung aller Menschen – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Sexualität und Körperbau ein. Wo liegen in Österreich die größten Defizite?
Das Problem ist strukturell. Diskriminierung und Rassismus finden in Österreich statt – und das zieht sich wie ein roter Faden durch viele Institutionen. Wenn die Politik keine gesetzlichen Maßnahmen setzt, wird sich daran auch nichts ändern. Im Gesundheitssystem könnte man schon verändern, wie das Studium läuft, indem man verstärkt Themen wie Gendermedizin in den Lehrplan aufnimmt. Oder auch die Frage: Woran und an wem bzw. für wen wird überhaupt geforscht?
Viele Menschen haben dieses Problem schon erkannt. „Ärztinnen:Connect“ ist ein Netzwerk des Referats Frauenpolitik in der Ärztekammer Wien, wo immer wieder Veranstaltungen von und für Frauen in der Medizin organisiert werden. Trotzdem braucht es die gesetzlichen Rahmenbedingungen, um wirklich etwas verändern zu können. Und hier ist klar die Politik die Entscheidungsträgerin.
Ärzte Woche: Sie haben sich mit Mitte Zwanzig dazu entschieden, Medizin zu studieren. Welche Erinnerungen haben sich aus Ihrer Studienzeit an der MUW besonders eingeprägt?
Stress. Ich habe zu dieser Zeit schon lange allein gelebt und musste dementsprechend viel arbeiten neben dem Studium. Im Unterschied zu vielen meiner Kommiliton:innen habe ich ein ganz anderes Leben geführt. Ich bin auf die Uni, habe eine Vorlesung besucht und danach bin ich arbeiten gegangen. Ich konnte mich nie 100-prozentig nur auf das Studium konzentrieren, das war einfach nicht drinnen. Außerdem habe ich ADHS und als neurodivergente Person war das Studium wirklich nicht leicht für mich. Ich habe sehr, sehr viel kämpfen müssen, um dieses Studium durchzuziehen.
Immer wieder hatte ich auch so ein „Imposter-Syndrom“… Ich komme aus einer Arbeiter:innenfamilie – eine Flüchtlingsfamilie auch noch! Die Sprache im Studium war eine andere, es war einfach alles anders als das, was ich gekannt habe. Ich bin auch die erste in meiner Familie, die diesen Weg gegangen ist. An diesem schwierigen Prozess bin ich aber auch gereift. Hinzukommen zu der Überzeugung: Okay, mit mir ist alles in Ordnung, ich bin gut, so wie ich bin, und ich habe mir diesen Platz hier genauso verdient wie alle anderen.
Dass in unseren Lehrbüchern hauptsächlich weiße Personen abgebildet waren, ist mir als Studentin gar nicht so aufgefallen. Ich kann mich aber erinnern, dass es einen Block gab, wo wir einen kurzen Einblick bekommen haben über Erkrankungen bei Schwarzen Menschen, aber das war eine sehr eurozentristische, weiße Sichtweise mit kolonialistischem Beigeschmack: Also die Menschen „dort“ in Afrika. Krankheiten wie Malaria oder Praktiken wie FGM (Female Genital Mutilation), die „dort“ passieren, aber das hätte ja mit uns in Österreich nichts zu tun.
Erst in der Klinik ist mir dann aufgefallen, dass alle Lehrbücher auf weiße, 80kg schwere Männer ausgerichtet sind. Ich habe weder gelernt, wie sich Hautkrankheiten bei Schwarzen Menschen äußern, noch habe ich gelernt, wie sich bei manchen Medikamenten die Nebenwirkungen bei Frauen und Männern unterscheiden können. Insgesamt ist das Medizinstudium sehr konservativ, sehr an patriarchalen Strukturen ausgerichtet – und sehr weiß. Wir haben eine sehr gute Ausbildung genossen, aber gleichzeitig eine sehr einseitige. Gerade in Österreich, wo etwa jede dritte Person eine Migrationsbiografie hat, ist es wichtig, das im Studium auch zu berücksichtigen. Dazu gehören Symptome, Diagnostik, Therapie und kulturelle Unterschiede im klinischen Alltag.
Ärzte Woche: Die Forschung hat sich aber lange genau an diesem weißen, 80kg schweren, heterosexuellen Cis-Mann orientiert. Welche Auswirkungen haben Sie als Medizinerin beobachten können?
An der Klinik habe ich gemerkt, dass es sehr viel Unwissen gibt und auch viele Vorurteile. Damit möchte ich niemanden anschuldigen, aber man merkt, dass es diese Vorurteile gibt. Zum Beispiel: Menschen, die aus dem Mittelmeerraum stammen, sollen weniger Schmerzen empfinden oder dazu neigen, ihr Leiden zu übertreiben. Oder, dass die Haut Schwarzer Menschen viel dicker ist als die von weißen und deswegen die Nadel nicht gescheit durchgeht. Noch ein anderes Beispiel: Wenn Patient:innen ihre ganze Familie zur Untersuchung mitbringen, wurde oft sehr betont, wie mühsam das ist.
Vorurteile gibt es aber auf allen hierarchischen Ebenen – also vom Pflegepersonal bis hin zur Spitze. In der Medizin, wo es darum geht, Menschenleben zu retten, kann das zu Komplikationen führen. Weil etwa die Diagnosefindung viel später oder gar nicht erfolgt. Aber auch in der Forschung zeigt sich dieses Ungleichgewicht: Viele Studien zu den biases usw. kommen aus dem englischsprachigen Raum, vor allem den USA und Großbritannien. Dabei gibt es diese Probleme nicht nur dort, sondern auch bei uns.
Ärzte Woche: Wenn man den Anspruch verfolgt, alle Menschen medizinisch fair zu behandeln, heißt das nicht unbedingt „immer gleich“ – man muss vielmehr ihre Individualität berücksichtigen. In welchem spezifischen Fall muss die Hautfarbe z.B. eine Rolle spielen?
Ein Beispiel ist der Pulsoximeter. Schon vor einigen Jahren gab es Studien, die belegt haben, dass ein Pulsoximeter auf schwarzer oder dunklerer Haut nicht gleich gut funktioniert wie auf heller. Eben weil er – wie so viele andere medizinische Geräte auch – für weiße Haut konzipiert und an weißer Haut getestet wurde. Auch bei der Künstlichen Intelligenz, die in vielen Bereichen genutzt wird, geht es in diese Richtung. Ich denke, das ist ein strukturelles Problem. Hier braucht es die gesetzlichen Rahmenbedingungen, von denen wir schon gesprochen haben.
Gendermedizin bzw. diversitätsspezifische Medizin muss von Beginn des Studiums an ein Thema werden. Und es müssen Frauen, genauso wie People of Colour und Menschen unterschiedlichen Geschlechts, in Führungspositionen sitzen. Wenn man sich die hierarchische Pyramide anschaut, ist ganz unten das Reinigungspersonal, 90 Prozent Frauen mit Migrationsbiografie, die um Fünf in der Früh ganz still und leise kommen und ungesehen ihre Arbeit verrichten. Die nächste Stufe ist die Pflege – auch da gibt es viele weibliche Arbeitnehmerinnen, auch oft mit Migrationshintergrund. Unter den Ärzt:innen gibt es auch noch sehr viele Frauen, im Studium sogar mehr als Männer. Wenn man sich dann aber die Spitzenposten anschaut, sind die Großteils mit Männern besetzt. Weißen Männern. Hier müsste auch von politischer Seite darauf geachtet werden, dass es ganz oben eine gute Durchmischung gibt. Bevor sich strukturell nichts ändert, werden es immer nur einzelne Individuen sein, die sich engagieren.
Ärzte Woche: Stichwort Zukunft! Gemeinsam mit Faika El-Nagashi (seit 2019 Abgeordnete zum Nationalrat, Grüne) haben Sie das Buch „Für alle, die hier sind“ geschrieben. Darin geht auch darum, junge Menschen für aktivistisches Engagement zu begeistern. Was wünschen Sie sich für die nächsten Generationen – vor allem auch aus gesundheitlicher Sicht?
Ich habe sehr, sehr viel Hoffnung, weil ich sehe, dass die jüngere Generation und auch jüngere Mediziner:innen ganz anders ticken. Im Krankenhaussetting ist mir das besonders aufgefallen: Wenn jüngere Kolleg:innen eine ganz andere Arbeitsweise hatten. Für die ist ganz klar – ich will eine Work-Life-Balance haben, ich bleibe jetzt nicht zehn Stunden länger, weil das System das so von mir verlangt; und ich lasse mir nicht alles gefallen, nur weil wir diese starke Hierarchisierung haben in der Medizin. Aus meiner Sicht müssen diese Veränderungen kommen – und sie werden auch kommen. Das sieht man auch in den Medien… Frauengesundheit ist ein Thema, es kommt immer wieder der Herzinfarkt als Beispiel. Das kann ich jeder Mensch gut vorstellen und deswegen stößt das Thema verstärkt auf Verständnis und Sensibilität in der Bevölkerung aber auch in der Politik.
Ärzte Woche: Oder auch gleiche Bezahlung… Österreich liegt im EU-Vergleich im Spitzenfeld, was den Gender Pay Gap angeht. Als Gründe werden Arbeitszeit, Branchenwahl, Verhandlungsgeschick und Antrittsalter bei der Pensionierung genannt. Gleichzeitig gehen nur 1% der Väter sechs Monate oder länger in Karenz. Wie ist das aus Ihrer Sicht in der Medizin?
Vor allem in bestimmten Fächern – vor allem in den operativen wie der Chirurgie – arbeiten tendenziell mehr Männer. Dort habe ich schon mitbekommen, dass keine Männer in Karenz gehen. Dabei hätte es darunter genügend gegeben, die das gerne gemacht hätten, aber die gar nicht die Möglichkeit dazu bekommen haben. Oft sind sie auch belächelt worden, meist von Kollegen, bzw. hat der Primar gesagt, nein, ich kann dich nicht in Karenz gehen lassen. Wenn die Rahmenbedingungen besser wären, würden mehr Männer die Möglichkeit nutzen, in Elternzeit zu gehen. Ich finde auch wichtig, dass wir das Männerbild ändern.
Wenn ich meine jüngeren Geschwister anschaue, dann ist das bei denen ganz anders. Dieses toxische Männlichkeitsbild, das mehr auf die Karriere als auf die Familie fokussiert, entspricht nicht jedem Mann. In der Medizin sind die Voraussetzungen noch lange nicht gegeben, dass Männer ein, zwei Jahre daheimbleiben können. Außerdem bräuchten wir als Mediziner:innen viel umfangreichere Betreuungsmöglichkeiten, damit wir auch einen 24-Stunden-Dienst übernehmen können. Dass das nicht geht, zeigt sich auch daran, dass viele Frauen, die mehrere Kinder bekommen, Allgemeinmedizinerinnen werden – und das Fach Allgemeinmedizin deshalb sehr weiblich ist. Weil dort lassen sich Beruf und Kinder leichter vereinbaren. Unter ihnen gäbe es aber sicher auch tolle Chirurginnen.
Ärzte Woche: Sie sind bald fertig ausgebildete Allgemeinmedizinerin, sind aber auch schon seit vielen Jahren als Politikerin tätig. Was gefällt Ihnen an Ihren Berufen bzw. dieser Kombination besonders?
Eigentlich wollte ich Kinderärztin werden und dann Gynäkologin. Dann bin ich aber in der Allgemeinchirurgie gelandet, vor allem, weil ich damals eine ganz großartige Oberärztin hatte, die mich sehr beeindruckt hat. Sie war eine tolle Operateurin und hat ihre Patient:innen gleichzeitig mit so viel Empathie behandelt. Sie hat sie von Anfang an bis zur Nachbehandlung belgleitet. Und ich habe mir gesagt: Ich will so sein wie sie! Das zeigt, wie wichtig Vorbilder sind. Ich habe dann auch die chirurgische Ausbildung begonnen, dann aber gesehen, dass es zusammen mit dem politischen Engagement und mit dem Mamasein nicht funktioniert – eben weil ich keine Ressourcen hatte um dauernd Überstunden zu machen, um eine gute Chirurgin zu werden. Das habe ich einfach nicht geschafft.
Über den Wechsel in die Allgemeinmedizin war ich anfangs ein bisschen betrübt, aber jetzt weiß ich gar nicht, warum ich mich nicht von Anfang an für diesen Beruf entschieden habe. Er passt nämlich perfekt zu mir. Die Möglichkeit, Menschen aller Altersstufen ganzheitlich zu betreuen und vieles auch selbst machen zu können, bevor man an andere Fächer überweist, ist toll. Das sind so viele Arten der Medizin, die ich ausüben kann. Ich bin super happy darüber, dass es über Umwege so gekommen ist. Und ich finde es schade, dass dieser Beruf im Studium und in der Ausbildung so wenig wertgeschätzt wird. Und dass er keine Anerkennung bekommt, sondern eher die Ansicht vorherrscht, dass man da ja nur Krankmeldungen schreibt. Dabei ist die Allgemeinmedizin die erste Anlaufstelle für ganz viele Probleme – auch soziale. Es ist ein herausfordernder, vielseitiger und schöner Beruf!
Ärzte Woche: Zukünftig auch mit Facharzt-Status…
Genau! Das ist toll. Ich glaube auch, dass viele sich für das Fach entscheiden würden, wenn sie mehr Anerkennung und auch Vergütung bekommen und wenn schon im Studium darauf hingewiesen werden würde, was mit diesem Beruf alles möglich ist. Das wusste ich nämlich alles gar nicht.