Zum 40er von Louise Brown im vergangenen Jahr wurden Fotos des weltweit ersten „Retortenbabys“ veröffentlicht.
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Eine neue Leitlinie will frustrierenden Unfruchtbarkeitsbehandlungen frühzeitig entgegenwirken – aber wie sehen das die niedergelassenen Ärzte?
Louise Brown ist heute 41. „Daran zu denken, dass mein Leben hier drin begonnen hat, ist sehr seltsam“, sagt sie einer Redakteurin des britischen Guardian . Während des Interviews blickt sie auf eine Petrischale. Die Prozedur dahinter, In-vitro-Fertilisation (IVF) genannt, hat sich seit 1978 als Standard in der Behandlung von Unfruchtbarkeit etabliert. Mehr als acht Millionen IVF-Babys sind seither zur Welt gekommen. Das Ei wird der Frau durch einen kleinen operativen Eingriff entnommen, im Labor mit dem Sperma des Mannes befruchtet, passende Embryos nach einigen Tagen ausgewählt und der Frau wieder eingepflanzt.
Doch wann genau ist eine Unfruchtbarkeitsbehandlung wie IVF notwendig? Prof. Dr. Bettina Toth leitet die Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin an der Universitätsklinik Innsbruck. Etwa eine von vier Frauen, die in ihrer fruchtbaren Zeit ungeschützten Geschlechtsverkehr hat, werde sofort schwanger. Bei 80 Prozent geschehe das im ersten Jahr, bei fünf bis zehn Prozent im zweiten.
Ihr Fokus liegt bei den restlichen zehn bis 15 Prozent: Lebensstilfaktoren wie übermäßiger Alkohol- oder Zigarettenkonsum, psychische Belastungen, Über- oder Untergewicht können bei Unfruchtbarkeit genauso eine Rolle spielen wie pathologische Faktoren: Störungen in der Eizellreifung, Schädigung der Eileiter oder Endometriose sind Gründe bei Frauen, Störungen in Spermienproduktion oder -reifung bei Männern.
Oft handle es sich bei ihren Patientinnen um Frauen, die über 35 Jahre alt sind. Toth und ihre Kollegen beobachten zunehmend, dass viele dieser Frauen mit großen Hoffnungen zu ihnen kommen. „Oft hören wir: „Ich dachte, ich kann mit 45 Jahren auch noch problemlos schwanger werden. Wieso hat mir das nicht schon früher jemand gesagt?“ Das ist einer der Hauptgründe, wieso sie mit Kollegen aus der Urologie und Humangenetik eine neue Leitlinie erarbeitet hat. Diese umfasst auf 200 Seiten mit rund 100 Empfehlungen von Nahrungsergänzung bis zu psychologischer Betreuung von Kinderwunschpatienten.
Bei der Zuweisung gehe es nicht darum, die Patientinnen von niedergelassenen Kollegen und Kolleginnen zu übernehmen, sondern zu kooperieren und ein neues Grundverständnis unter niedergelassenen Gynäkologen zu verankern. Oft herrsche falscher Optimismus: „Ich finde es gut, wenn Ärzte motivieren wollen, anstatt Ängste zu schüren. Aber wenn eine Patientin über 35 Jahre alt ist und seit einem halben Jahr versucht schwanger zu werden, sollte man einfach automatisch schauen, ob es eine Ursache aufseiten der Frau oder des Mannes gibt.“
Das Thema des Alters ist auch etwas, dem Dr. Joseph Zech, ärztlicher Leiter der privaten Kinderwunsch-Clinic in Innsbruck, immer öfter begegnet. Seit 25 Jahren gibt es die Klinik, damals war sie eine der ersten dieser Art; inzwischen führen er und seine Frau Sonja 600 bis 700 künstliche Befruchtungen und mehr als 1.000 Embryotransfers im Jahr durch. Und die Arbeit wird mehr.
Joseph Zech erklärt: „Frauen werden beim ersten Kinderwunsch immer älter. Dazu kommen Umweltbelastungen in der Lebensmittelkette, etwa in Form von sogenannten Hormondisruptoren.“
Speziell im Bereich von Wunschbehandlungen sei der Bedarf für Leitlinien stark, auch weil die Klagebereitschaft weiter zunehme: „Insbesondere in Internetforen kursieren viele Dinge. Da muss man den Patienten zunächst oft aufklären, wieso diese oder jene Sache für sie nicht in Frage kommt.“ Er sieht Leitlinien deshalb als dankbare Anleitung: „Das heißt aber nicht, dass sie keinen Spielraum mehr lassen: Ich kann immer noch ein wenig abweichen, solange ich das argumentieren kann und dem Patienten gegenüber verantwortungsvoll handle.“
Gesunde Selbsteinschätzung
Auch er habe Erfahrungen mit späten Überweisungen von niedergelassenen Ärzten gemacht und begrüßt aus diesem Grund die neue Leitlinie. Doch wie sehen das die betroffenen Gynäkologen selbst? Seit 2006 arbeitet Dr. Hugo Lunzer als Gynäkologe. 2014 eröffnete er seine Facharztpraxis in Kufstein.
Der Kinderwunsch habe sich verändert: „Der Lebensplan der Leute ist heute anders. Früher war die 38-jährige Patientin ein Einzelfall.“ Die Entscheidung, wann man eine Patientin in eine spezialisierte Klinik schickt, ist für ihn eindeutig: „Wenn ich sehe, dass es mit meinen Möglichkeiten realistische Chancen gibt, versuche ich es so lange, wie es das Paar wünscht. Funktioniert es nach einem halben Jahr bis Jahr immer noch nicht, versuche ich die Patientinnen davon zu überzeugen, eine spezialisierte Kinderwunschklinik aufzusuchen.“
Er selbst habe sich lange speziell mit Reproduktionsmedizin beschäftigt, doch die allgemeinen Erwartungen sind hoch: „Ich sehe es als Problem im niedergelassenen Bereich, wenn erwartet wird, jedes Detail von jeder Leitlinie im Kopf zu haben“, sagt Lunzer. Er wünsche sich deshalb prägnante Kurzfassungen und gezielte Informationen, auch wenn man prinzipiell auf die Selbsteinschätzung seiner Kollegen vertrauen solle.
Das bejaht Dr. Kilian Vomstein, mitwirkender Autor der Leitlinie und Arzt im Team von Toth: „Viele niedergelassene Frauenärzte haben ohnehin das richtige Bauchgefühl und schicken die Patientinnen früher, je älter sie werden. Aber dass sie dafür nun in einer Leitlinie schriftlich Bestätigung finden, ist schon sinnvoll.“
Toth sieht in dem neuen Regelwerk nur Vorteile: „Wir wollen ja nicht dafür sorgen, dass wir mehr, sondern weniger zu tun haben. Die Leitlinie tut genau das: Sie zeigt den niedergelassenen Ärzten, was für Maßnahmen sie noch vor einer künstlichen Befruchtung ergreifen können – und wann wir ins Spiel kommen sollten.“
Seit der Geburt des ersten Retortenbabys vor 41 Jahren sind mehr als acht Millionen Babys nach einer Fruchtbarkeitsbehandlung zur Welt gekommen. Das hat eine Auswertung der Datensammlung ICMART ergeben.
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