Open Access 30.08.2023 | Häufige Beratungsanlässe | Leitthema
Medienkompetenz in Familien
Die Bedeutung von „emotionaler Abwesenheit“ durch Mediennutzung in der frühen Eltern-Kind-Beziehung
Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 2/2023
Zusammenfassung
Die Verwendung von Medien in Familien ist ein wichtiges Thema in der heutigen Gesellschaft, da immer mehr Familien auf digitale Medien wie Smartphones, Tablets, Computer und Fernseher zugreifen. Familien sollten Regeln und Richtlinien für die Verwendung von Medien aufstellen. Eltern sollten als Vorbilder agieren und selbst verantwortungsbewusst mit Medien umgehen, um ihre Kinder zu ermutigen, dies ebenfalls zu tun. Die Aufgabe der Fachkräfte, die mit Familien arbeiten, ist es, die Eltern auf diese Herausforderung vorzubereiten und begleitend zu unterstützen. Bildungs- und Ausbildungsprogramme können ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Förderung der Medienkompetenz spielen.
Eltern sind Vorbilder: „Man kann seine Kinder nicht erziehen, sie machen einem sowieso alles nach.“ Dieses Zitat von Karl Valentin trifft besonders zu, wenn es um das Thema digitale Medien geht.
Digitale Medien sind in der heutigen Welt allgegenwärtig – auch für Kinder. Schon die Kleinsten sehen, wie Erwachsene am Laptop sitzen, telefonieren oder fernsehen. Digitale Medien wecken, wie alles, was neu ist, die Neugierde unserer Kinder. Deshalb ist es weder sinnvoll noch realistisch, zu versuchen, die Kinder davon fernzuhalten. Vielmehr geht es darum, altersgerechte Inhalte zu wählen, die Kinder bei ihrem Medienkonsum zu begleiten und vor allem einen verantwortungsbewussten Umgang damit vorzuleben [12]. Aktuelle Ergebnisse einer Studie zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen aus dem Jahr 2023 zeigen, dass die krankhafte Nutzung von Computerspielen und Social Media während der Corona-Pandemie deutlich zugenommen hat [5]. Für Eltern wird es daher immer wichtiger, ihren Kindern einen reflektierten Umgang mit der Technik beizubringen und sich zu fragen, wie man am besten mit dieser Herausforderung umgeht.
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Nicht einmal ein Drittel der Österreicher könnte sich ein Leben ohne Handy vorstellen [24]. Die mit dem Smartphone einhergehenden neuen Verhaltensweisen bedeuten große Herausforderungen für Familien. Ihnen diese Problemstellung bewusst zu machen, ist eine wichtige Aufgabe für all jene, die beruflich mit werdenden Eltern und Familien zu tun haben. Daher stellt sich die Frage, wie Fachkräfte die Eltern bei einem verantwortungsvollen Umgang mit der digitalen Technik begleiten können.
Der Bindungsprozess zum Kind beginnt bereits vor der Geburt [2]. Genau diese erste Beziehung zwischen Eltern und Kind(ern) legt den Grundstein für spätere Verhaltensweisen. Werden in gemeinsamen Interaktionen die Wünsche und Gefühle des Kindes adäquat kommentiert (also auch verbal gespiegelt), führt dies mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer sicheren Bindungsentwicklung [16].
Kommt es bereits in diesem frühen Stadium zu Störungen, kann das weitreichende Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung haben. Feinfühlige Interaktionen und das Einfühlen in die kindlichen Bedürfnisse in den ersten Lebensmonaten sind für die gesunde psychische, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes sehr wichtig. Diese Fähigkeiten können durch den Gebrauch von digitaler Technik beeinträchtigt werden [8, 30].
Eltern stellen sich in ihrer Kommunikation auf die Fähigkeiten des Säuglings ein und zeigen beispielsweise übertriebene Mimik, kurze Sätze oder lange Pausen am Satzende. Sie lassen sich unmittelbar und ohne bewusste Kontrolle von den kindlichen Rückkoppelungssignalen leiten. Dies sieht man u. a. in deren Blickverhalten, Muskeltonus, Lächeln und im Aufmerksamkeitsniveau [20]. Eltern und Kind(er) bauen dabei wiederkehrende Verhaltensmuster auf, und diese verleihen der Beziehung ein Gefühl von Sicherheit. Durch das prompte Reagieren kommt es zu beidseitiger Zufriedenheit. Dieser Kreislauf positiver Gegenseitigkeit verstärkt sich in der Regel selbst. Sensitiv-responsives Verhalten der Eltern ihrem Kind gegenüber erhöht die Wahrscheinlichkeit positiver und zufriedener kindlicher Reaktionen [19].
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Die angeborenen Verhaltensbereitschaften beim Säugling ergänzen sich mit den Verhaltensbereitschaften beim Erwachsenen, die sich entwickelnden selbstregulatorischen Fähigkeiten des Säuglings zu unterstützen und Einschränkungen auszugleichen. Oxytocin ist das Bindungshormon, welches aktiviert wird, wenn wir engen Körperkontakt haben. Es setzt dann eine Art Calm-and-Care-System in Gang. Man geht davon aus, dass das Hormon Oxytocin die Bindung zwischen Mutter und Kind fördert und sich positiv auf das mütterliche Verhalten auswirkt [25]. Prolaktin, das Mütterlichkeitshormon, ermöglicht es der Mutter, angemessen auf die Bedürfnisse ihres Säuglings zu reagieren und ihn zu umsorgen, zu ernähren und zu pflegen [9].
Wie erste Studien zeigen, scheint die Fähigkeit der Erwachsenen, aufmerksam mit ihren Babys und Kleinkindern zu interagieren, von der Smartphone-Nutzung beeinflusst zu sein. So gibt es Zusammenhänge zwischen hoher elterlicher Smartphone-Nutzung und auffälligem kindlichem Verhalten sowie kindlichen Schlaf- und Essstörungen [14, 22].
Der von McDaniel und Radesky neu geschaffene Begriff der „Technoferenz“ beschreibt die Rolle des Geräts nicht für das Individuum allein, sondern für die Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind. Die Forscher gehen davon aus, dass der Blick aufs Smartphone den Eltern kurzfristige Erleichterung vom quengelnden Kind verschafft. Kleinere Kinder reagierten ärgerlich auf ihre Eltern, wenn diese während des Zusammenseins mit ihnen immer wieder aufs Smartphone schauten. In der Studie zeigte sich, dass höhere Technoferenz-Scores mit Berichten der Eltern über ihre eigene zwanghafte oder problematische Mediennutzung [14] sowie mit höherem externalisierendem Verhalten des Kindes im Laufe der Zeit in Zusammenhang standen [15].
Allein die Anwesenheit eines Smartphones verringert die Qualität und Freude an der Interaktion zwischen Gesprächspartnern [6, 17, 28], und Betreuungspersonen sind, während sie ihre Kinder beaufsichtigen, in ihr Telefon vertieft [10]. Zudem sind Mütter, die ihr Smartphone nach eigenen Angaben vermehrt nutzen, weniger in der Lage, ihr Kind nach einer Stresssituation zu beruhigen [18].
Eltern, die ihr Smartphone während der Eltern-Kind-Interaktion benutzten, wurden als weniger sensibel eingeordnet und reagierten sowohl verbal als auch nonverbal weniger auf die Aufmerksamkeitsangebote ihrer Kinder. Dies kann zu einer geringeren Qualität dieser Eltern-Kind-Interaktionen führen [13].
Vor allem eine längere Nutzungszeit des Smartphones steht in Zusammenhang mit niedrigerer Sensitivität in der Mutter-Kind-Interaktion. Die Häufigkeit der Nutzung (Technoferenz) zeigte keine Korrelation mit mütterlicher Sensibilität [29]. In einer Studie reagierten Mütter weniger sensibel und zeigten weniger entwicklungsfördernde Verhaltensweisen gegenüber ihren Babys, während sie ein Tablet benutzten, verglichen mit dem Hören von klassischer Musik [27].
Während des Telefonierens tendieren Eltern dazu, die Interaktionsinitiativen der Kinder zu ignorieren, potenziell gefährliche Situationen zu übersehen und weniger emotional unterstützend zu sein [7]. Zudem reagierten die Eltern seltener auf die Aufmerksamkeitsangebote der Kinder, wenn sie mit ihren Smartphones beschäftigt waren [1].
Wenn die Eltern ihr Telefon benutzten, zeigten sie signifikant weniger Zuneigung, Ansprechbarkeit und Ermutigung für ihre Kinder und die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt auf das Kind reagierten, war fünfmal geringer. Wenn die Eltern auf die Kinder reagierten, waren die Reaktionen weniger zeitnah, schwächer und die Bindungspersonen zeigten weniger Affekt gegenüber dem Kind [23, 26].
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Gemäß der „Displacement“-Hypothese verdrängt und verringert die mit Technologie oder Medien verbrachte Zeit sinnvolle Eltern-Kind-Beziehungszeiten [4]. Eltern berichten von inneren Konflikten, wenn es um die Verwendung mobiler Technik während der Zeit mit ihren Kindern geht [21]. Das zwischenmenschliche Miteinander von Eltern und ihren Kindern scheint also unter der Smartphone-Nutzung zu leiden.
„Es sollte uns klar sein, dass jede Entscheidung für den digitalen Konsum eine Entscheidung gegen das Verbundensein mit der realen Welt ist. Wer seine Umwelt und seine Mitmenschen genau beobachtet, schreibt die schöneren Geschichten vom Leben. Und wer sich ganz auf beides einlässt, verinnerlicht sie auch mehr – und erinnert sich besser an sie“ [3].
Die Familie ist der erste und zentrale Raum der Medienerfahrung. Die Eltern sollten in ihrer Erziehung also bereits Kompetenzen erkennen lassen, und die Medienerziehung als Teil davon setzt eben eine Medienkompetenz von Eltern voraus [11]. Die neue Aufgabe der Gesellschaft sollte es sein, dass Kinder und Jugendliche ebenso wie deren Eltern lernen, die Risiken der Nutzung digitaler Medien einzuschätzen. Prävention und Hilfsangebote sollten ausgebaut und neue Wege im Bildungssystem geschaffen werden. Dadurch kann Medienmündigkeit in Familien ermöglicht werden [5].
Wir leben in einer Zeit, in der wir unseren Kindern das Schönste schenken sollten, das wir haben: unsere Aufmerksamkeit.
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M. Hantinger gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von der Autorin keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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