Das Anti-Müller-Hormon-Mangelsyndrom oder persistierendes Müller-Gang-Syndrom ist eine seltene autosomal-rezessive Mutation des Anti-Müller-Hormon-Gens oder seines Rezeptors. Phänotypische Unterschiede zwischen Patienten mit Hormonmangel oder Rezeptordefekten gibt es nicht. Berichtet wird von einem 24-jährigen Mann, der sich mit einem Anti-Müller-Hormon-Mangel mit bilateralem Kryptorchismus und einem Keimzelltumor vorstellte. Der Patient wurde einer Operation mit adjuvanter Chemotherapie unterzogen. Der Patient starb nach 3 Rezidiven innerhalb von 3 Jahren. Es werden die Auswirkungen einer verzögerten und fehlerhaften Therapie eines Keimzelltumors im Rahmen einer seltenen Erkrankung demonstriert. Wir empfehlen eine genetische Beratung aller Familienmitglieder der betroffenen Patienten.
Hinweise
Beiträge
Entwurf der Arbeit: Fischer N.
Datenerfassung und -analyse: Fischer N.
Ausarbeitung und Überarbeitung: Fischer N., Heidenreich A., Hoffmann M. A.
Endgültige Freigabe: Fischer N., Heidenreich A., Hoffmann M. A.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Hintergrund
Das Anti-Müller-Hormon-Mangelsyndrom oder persistierendes Müller-Gang-Syndrom (PMDS) ist eine seltene genetische Mutation des AMH-Gens oder seines Rezeptors (AMHRII; [1]). Es sind 3 Typen dieses Syndroms beschrieben:
Typ I weist eine Beeinträchtigung der hormonellen Sekretion auf.
Typ II entsteht durch einen Rezeptordefekt, und
Typ III wird durch eine idiopathische (spontane) Mutation definiert [2].
Persistierendes Müller-Gang-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbte Mutation auf Chromosom 19p13.3 bei AMH- und auf Chromosom 12q13.13 bei AMHRII-Defekten [3, 4]. Phänotypische Unterschiede bei diesen Mutationen gibt es nicht. Klinisch wird das Syndrom nach seinen anatomischen Variationen klassifiziert:
I.
Die gekreuzte testikuläre Ektopie mit beiden Hoden und der Gebärmutter in einem einseitigen Processus vaginalis.
II.
Einseitiger Kryptorchismus mit einem Leistenbruch, der einen Hoden, die Tuben und die Gebärmutter enthält.
III.
Der bilaterale Kryptorchismus mit beiden intrapelvin gelegenen Hoden an der Position der Eierstöcke [2].
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Die klinische Inzidenz dieses Syndroms ist gering. Die Diagnose wird oft erst spät gestellt, da betroffene Patienten erst aufgrund von Symptomen wie Kryptorchismus im Kindesalter oder bei Fertilitätsstörungen im Erwachsenenalter auffällig werden. Aufgrund des normalen Testosteronstoffwechsels zeigen die Patienten einen normalen männlichen Habitus. Bisher sind ca. 300 Fälle dieses Syndroms beschrieben [2].
Fallbericht
Berichtet wird über einen 24-jährigen Mann mit einem PMDS mit bilateralem Kryptorchismus und Keimzelltumor beidseits. Die Erstvorstellung erfolgte im Februar 2016 mit Schmerzen der linken Flanke. Die körperliche Untersuchung ergab eine zweitgradig hydronephrotische linke Niere, eine palpable Tumormasse im kleinen Becken sowie einen bilateralen Kryptorchismus bei normaler äußerer Virilisierung. Das äußere Genitale war sowohl von der Genitalmorphologie, -funktion und -behaarung unauffällig, eine Hypospadie bestand nicht. In der Familienanamnese berichtete er, dass sein älterer Bruder als Kind eine einseitigen Orchipexie erfahren hatte und als junger Erwachsener ein Seminom hatte. Die Computertomographie und eine Magnetresonanztomographie zeigten einen 8 cm großen linksseitigen Keimzelltumor im kleinen Becken, einen Uterus mit einem Gebärmutterhals sowie einen kurzen an der Prostata anhängenden Vaginalschlauch. Am Uterus waren Tuben, an denen der rechte Hoden bzw. der linksseitige Tumor hafteten. Zusätzlich wurden mehrere vergrößerte paraaortale Lymphknoten mit einem Durchmesser von bis zu 1,6 cm beschrieben. Der rechte, morphologisch unauffällige Hoden befand sich in der Nähe der rechten Iliakalgefäße (Abb. 1). Laborchemisch wurden initial ein βHCG von 5 mlU/ml, AFP 7970 ng/ml (<11 ng/ml) und LDH 393 U/l (<250 U/l) erfasst.
Abb. 1
Magnetresonanztomographie: (1) Linkseitiger Keimzelltumor, (2) Gebärmutter mit Gebärmutterhals und kurzes (3) Vaginalrohr, welches an der (4) Prostata mündet
×
Die Indikation zur Operation wurde aufgrund der linksseitigen Hodentumormasse gestellt. Beide Hoden sowie die Müller-Gang-Organe wurden reseziert. Histopathologisch wurde ein Nichtseminom des linken Hodens, positiv für PLAP, AFP, CD30, Oct 3–4, Panzytokeratin und CD117 beschrieben, bei embryonalen Karzinom- und Dottersacktumoranteilen. Der rechte Hoden war PLAP- und CD117-positiv mit einer TIN (GCNIS). Die Spermatogenese zeigte sich hier beeinträchtigt oder fehlte ganz. Eine Woche nach der Operation zeigten sich laborchemisch ein normales βHCG <1 mlU/ml, AFP 1792 ng/ml (<11 ng/ml) und LDH 290 U/l (<250 U/l). Das Nichtseminom wurde mit pT2, pN0 (0/15), L0, V0 eingestuft bei einem klinischen Stadium IIA und einer Eingruppierung als „intermediate risk“ (IGCCCG). Eine Woche nach der Entlassung kam es zu einer Wiedervorstellung des Patienten mit paralytischem Ileus und Schleimretention im Operationsgebiet. Er wurde einer zweiten Laparotomie unterzogen. Eine Androgensubstitutionstherapie wurde dann ebenfalls eingeleitet. Drei Wochen später wies der Patient einen massiven Progress auf, der mit 4 Chemotherapiezyklen (Cisplatin/Etoposid/Ifosfamid) therapiert wurde. Darunter kam es zu einer Panzytopenie, einer tiefen Beinvenenthrombose und einer fulminanten Lungenarterienembolie mit begleitender Pneumonie. Eineinhalb Jahre nach der 1. Operation wurden asymptomatische Becken‑, Leber‑, Haut‑, Knochen- und Lungenmetastasen diagnostiziert. Laborchemisch wies der Patient eine βHCG <1 mU/l, AFP 5539 µg/l, LDH 260 U/l auf. Wir applizierten eine Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation. Einen Monat später konnten residuelle Tumormassen reseziert werden, obwohl die Lebermetastasen ein teilweises Ansprechen auf die Chemotherapie zeigten. Ein halbes Jahr später trat das 2. Rezidiv auf. Eine erneute Chemotherapie (Gemcitabin/Oxaliplatin/Paclitaxel) folgte. Ein Jahr später diagnostizierten wir das 3. Rezidiv. Unter palliativen Aspekten wurde eine Monotherapie mit Paclitaxel eingeleitet. Der Patient starb kurz nach der ersten Dosis.
Diskussion
Eine Therapie bei PMDS-Patienten zielt auf die Aufrechterhaltung der Fertilität und ggf. eine Tumorkontrolle ab. Bisher sind etwas über 30 Berichte mit PMDS im Zusammenhang mit Keimzelltumoren publiziert. Dabei handelt es vorwiegend um Seminome bei jungen Erwachsenen. Es wird geschätzt, dass Keimzelltumoren bei bis zu 33 % der PMDS-Fälle auftreten [2, 5]. Kryptorchismus ist als klinischer Hauptrisikofaktor für eine Tumorentstehung von zentraler Bedeutung. Eine Orchidolyse und Orchipexie ist das Verfahren der Wahl bei Kindern, kann jedoch eine maligne Differenzierung nicht vollständig verhindern [6]. Bei Erwachsenen ist die Orchiektomie eines unterentwickelten Hodens der Standard. In unserem Fall verzögerten sich die Diagnose und schließlich auch die Therapie aufgrund eines unbehandelten und vernachlässigten Kryptorchismus [7]. Dies ist insofern bemerkenswert, da der Patient in Deutschland aufwuchs und sein Bruder eine leitliniengerechte Therapie seines Kryptorchismus und Seminoms erfahren hatte. Eine genetische Beratung oder -untersuchung hatte bei beiden Brüdern nicht stattgefunden.
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Die Fertilität unseres Patienten konnten wir bei Vorliegen eines Tumors in beiden Hoden nicht erhalten. Mit diesem Fall berichten wir über den ersten Tod im Zusammenhang mit einem mit PMDS assoziierten Keimzelltumor. Ein weiterer Todesfall wurde bei einem Adenokarzinom bei PMDS berichtet [8]. Auch in diesem Fall war das Adenokarzinom bei später Diagnose fortgeschritten. Die Letalität ist in unserem Fall mit einem fortgeschrittenen Primärtumor und einer späten und lückenhaften Therapie assoziiert: Die späte Vorstellung des Patienten und der Neglekt des Kryptorchismus bis ins Erwachsenenalter führten dazu, dass ein ausgedehnter Primärbefund vorlag. Dieser hätte zunächst mit einer neoadjuvanten Chemotherapie zur Reduzierung der Tumormasse behandelt werden sollen. Die primäre Operation sowie die kurz darauf erfolgte Revision könnten in diesem Kontext auch eine Dissemination des Tumors begünstigt haben. Darüber hinaus zeigte die Revision einen muzinösen Verhalt im Becken, was auf eine mögliche intraoperative Tumorläsion während der primären Resektion hinweist. Zusätzlich wurden nur lokale Lymphknoten reseziert. Eine erweiterte retroperitoneale Lymphadenektomie hätte dem Patienten einen prognostischen Vorteil verschaffen können.
Fazit für die Praxis
PMDS (persistierendes Müller-Gang-Syndrom) ist eine seltene und daher unterschätzte Erkrankung einer ebenso seltenen Mutation.
Aufgrund dessen und der klinisch geringfügigen Symptome kann PMDS leicht übersehen werden.
Daraus resultiert eine Therapieverzögerung und kann, wie hier erstmals beschrieben, einen fatalen Verlauf haben. Deswegen sollten diese Patienten in ein Hodenkarzinomzentrum verlegt und versorgt werden.
Aufgrund der rezessiven Vererbung empfehlen wir eine genetische Beratung und Untersuchung der betroffenen Patienten und deren Familienmitglieder.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
N. Fischer, A. Heidenreich und M. A. Hoffmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Die Genehmigung unserer Ethikkommission wurde eingeholt (042020). Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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