Auswirkung von Krisen auf Menschen mit Demenz
Das Thema „Krise bei Menschen mit Demenz“ ist keineswegs erst mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie entstanden. Die Auswirkungen von Krisen auf diese vulnerable Gruppe sind jedoch nur wenig untersucht. In einer Übersichtsarbeit von MacNeil Vrommen et al. – [
12] zum Thema „Definition von Krisen in der Pflege von Menschen mit Demenz“ konnten lediglich 27 Publikationen eingeschlossen werden [
12]. Die Autoren beschreiben in ihrer Arbeit multiple Auslöser einer Krise im Rahmen der Pflege von Patienten mit Demenz – eine Pandemie vergleichbar mit COVID-19 wurde erwartungsgemäß nicht thematisiert. Dennoch wurde im Artikel eine Definition für „demenzassoziierte Krisen“ formuliert (englisches Original): „
A process where there is a stressor(s) that causes an imbalance requiring an immediate decision which leads to a desired outcome and therefore crisis resolution. If the crisis is not resolved, the cycle continues.“ Trotz dem neu hinzugekommenen Stressor „COVID-19“ hat diese Definition auch für die rezente Krise nicht an Aktualität verloren. Auch in einer aktuell 2020 publizierten Übersichtsarbeit zum Management von Krisen bei Patienten mit Demenz wurde ein Mangel an entsprechenden Studien und die Notwendigkeit der Entwicklung klarer Krisenkonzepte schlussgefolgert [
13]. Als vorrangiges Ziel in den genannten Studien wurde angeführt, Akutaufnahmen und den Transfer an Notfallaufnahmen von Menschen mit Demenz zu vermeiden und ein effektives Krisenmanagement für die Patienten in gewohnter Umgebung zu ermöglichen [
14]. Auch die 2018 veröffentlichen NICE Guidlines heben die Wichtigkeit der Pflege von Menschen mit Demenz im gewohnten Umfeld zuhause hervor [
15]. Diese Ziele haben im Rahmen der COVID-19-Pandemie einen noch höheren Stellenwert und an maßgeblicher Relevanz gewonnen. Es ist bekannt, dass ein Akuttransfer von Menschen mit Demenz bei den Patienten mit hohem Stress, Angst und Schwierigkeiten, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, verbunden ist. Im Rahmen der derzeitigen Pandemie kommen noch zwei wichtige Faktoren hinzu, die einen Transfer ins Krankenhaus zu einer äußerst schlechten Strategie des Krisenmanagements machen:
-
Menschen sind an Kliniken, Krankenhäusern und Notfallaufnahmen einem erheblich erhöhten Infektionsrisiko mit COVID-19 ausgesetzt.
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Durch das maßnahmenbedingte Besuchsverbot in medizinischen Einrichtung kommt es zu einer zusätzlich belastenden sozialen Isolation der Menschen mit Demenz. Aus diesem Grund sollten insbesondere präventive Maßnahmen im Zentrum eines erfolgreichen Krisenmanagements stehen.
Einige rezente Publikationen enthalten bereits Stellungnahmen und Kommentare zu präventiven Strategien für Menschen mit Demenz und deren Betreuungssystem, um allgemeinen negativen Folgen der Pandemie aktiv vorzubeugen [
16‐
18]. In einer Übersichtsarbeit von Boots et al. 2014 [
19] wurden Arbeiten über internetbasierte Interventionsprogramme für Angehörige und Betreuungspersonen von Menschen mit Demenz zusammengefasst. Trotz der wenigen publizierten und der teils methodisch geringen Aussagekraft der Studien wurde ein positiver Effekt auf Pflege und auch die psychische Gesundheit der Pflegenden beschrieben. Gerade in Krisen mit der Notwendigkeit von sozialer Distanz zeigt sich die Relevanz solcher webbasierter, Medien nutzender Interventionsstrategien.
Im Bereich von pharmakologischen Studien steigt seit Beginn der COVID-19-Pandemie vorrangig die Anzahl von wissenschaftlichen Publikationen mit Daten zu möglichen Impfstoffen oder neuen Therapien gegen den COVID-19-Virus. Trotz der dringenden Notwendigkeit und akuten Relevanz solcher Studien, sollten auch die Effekte auf die „Demenz Pandemie“ nicht gänzlich vernachlässigt werden.
Es ist zu erwarten, dass die derzeitige COVID-19-Pandemie auch für die Forschung auf dem Gebiet der Alzheimer-Erkrankung weitreichende Folgen haben wird. Insbesondere die Durchführung von klinischen Studien und Pharmastudien können durch Quarantäne – und umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen sowie Reiseverbote, jedoch auch durch die weitreichenden wirtschaftlichen Folgen behindert und erschwert werden. Diesbezüglich wurden bereits einige Richtlinien für die Durchführung von klinischen Studien bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung erarbeitet und publiziert [
20]. Eine Fortführung von pharmakologischen Studien unter Einhaltung von hohen Sicherheitsmaßnahmen sollte jedenfalls erfolgen.
Ebene: Versorgung, Betreuung und Pflege
Menschen mit Demenz werden in Österreich zu ca. 80 % zu Hause und etwa in 15–20 % in einem Wohnheim oder anderen vollstationären Einrichtung versorgt [
21]. Die Versorgung zu Hause wird zu einem überwiegenden Teil von Angehörigen allein übernommen – teils auch im Rahmen einer 24-h-Betreuung oder auch mit Unterstützung ambulanter Pflegeeinrichtungen gemeistert. Einen wichtigen Teil der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz stellen auch nicht pharmakologische Therapiemaßnahmen wie die Ergotherapie, Musiktherapie oder körperliche und kognitive Aktivierung beispielsweise in Tageszentren dar.
Im Rahmen der COVID-19-Maßnahmen wurden zahlreiche ambulante Betreuungsangebote reduziert oder auch Angebote in Tageszentren gänzlich eingestellt. Die Versorgung mithilfe der 24-h-Pflege wurde über die im Rahmen der Maßnahmen eingeführten Reisebestimmungen und Grenzkontrollen erschwert und musste teils beendet werden. Für Familien mit einem Angehörigen mit Demenz kann eine 24-h-Betreuung eine wertvolle Unterstützung sein. Die Covid-19-Krise führte drastisch vor Augen, wie fragil dieses System ist.
Durch die COVID-19-Krise wurde akut und deutlich der Mangel an einheimischen Pflegekräften aufgezeigt. Auch wenn durch Bemühungen der Regierung Ende April 2020 eine Ein- und Ausreise von Pflegekräften aus osteuropäischen Ländern wieder eingeschränkt ermöglicht wurde, konnte der COVID-19-bedingte akute Pflegenotstand nicht behoben werden.
Nach Auskunft von ambulanten Pflegeeinrichtungen war die Reduzierung im Bereich der ambulanten Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz im Wesentlichen durch die hohe Gefahr der Infektion der zu betreuenden Klienten über die Pflegekräfte begründet. Diese mussten sich einer ethisch schwierigen und belastenden Risiko-Nutzen-Abwägen zwischen Fortführung der Betreuung und Risiko einer Infektion des Klienten stellen. Der Umstand, dass insbesondere Körperpflege ohne körperliche Nähe nicht durchführbar ist, machte eine solche oft unmöglich. Hier ist besonders auf das Fehlen von Schutzkleidung für ambulante Pflegepersonen hinzuweisen. Mit einer ausreichenden Schutzbekleidung und FFP 3 Masken wäre in einem größeren Ausmaß eine Weiterführung der ambulanten Betreuungs- und Pflegemaßnahmen ermöglicht worden.
Für pflegende Angehörige stellten insbesondere die Ausgangsbeschränkungen und die Vorschrift zum Einhalten von sozialer und räumlicher Distanz eine große Herausforderung und Belastung dar. Pflegende Angehörige, die nicht im selben Haushalt mit dem Menschen mit Demenz leben, waren gezwungen, auf den gewohnten Kontakt durch regelmäßige Besuche oder Abholen dieser zu Ausflügen etc. zu verzichten. Die pflegenden und betreuenden Angehörigen wurden zu einer schwierigen auch ethischen Risiko-Nutzen-Abwägung zwischen bestmöglicher Betreuung und Pflege des Betroffenen und bestmöglichem Schutz vor Infektion gezwungen.
Eine alternative Kontaktaufnahme mittels Videotelefonie oder anderen sozialen Medien ist bestenfalls bei Menschen mit leichtgradiger Demenz in beschränktem Ausmaß möglich, in schwereren Stadien oder somatischen und/oder psychiatrischen Komorbiditäten unrealistisch.
Pflegende Angehörigen sind auch unabhängig von der COVID-19-Krise neben den Menschen mit Demenz selbst eine vulnerable Gruppe mit hohem Risiko für physischen und emotionalen Stress und assoziierten Folgeerkrankungen [
22,
23]. Die telemedizinische oder internetbasierte Unterstützung kann für Angehörige ein wichtiges und hilfreiches Angebot darstellen. Der Nutzen von Internet und telemedizinischen Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige wurde bereits vor der COVID-19-Krise untersucht [
19]. Frühere Studien führten als entscheidenden Vorteil der telemedizinischen und internetbasierten Betreuung und Beratung von Angehörigen an, dass diese von zuhause aus erfolgen kann und der zu betreuende Angehörige weniger Isolation empfindet. In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und „sozialem Distanzhalten“ wurden diese genannten Vorteile zu einer akuten Notwendigkeit. Auch unabhängig von der Rolle als pflegender Angehöriger stellt die COVID-19-Epidemie für auch gesunde Menschen ein hohes Ausmaß an Stress dar. Auch in der Allgemeinbevölkerung ist wie bereits nach der SARS-Epidemie 2003 (schweres akutes respiratorisches Syndrom) mit dem Auftreten von psychischen Symptomen wie Angst, depressiven Symptomen bis zu selbstschädigendem Verhalten oder Suizidideen zu rechnen [
24].
In Anlehnung an die Empfehlungen des Chinesischen Ministeriums für zivile Angelegenheiten im Januar 2020 [
25] und jenen vom „US Centers for Disease Control and Prevention“ wurde auch in Österreich ab dem 16.03.2020 ein
Besuchsverbot in Wohnheimen und Betreuungseinrichtungen erlassen. Dieses Verbot stellt für Menschen mit Demenz auf verschiedensten Ebenen eine durch die demenzielle Erkrankung verstärkt hohe Herausforderung und Belastung dar. Menschen mit Demenz in institutioneller Pflege befinden sich zumeist in einem mittel- bis schwergradigen Krankheitsstadium. – Meist liegen auch andere somatische Komorbiditäten vor. Für diese Patientengruppe stellt ein akuter Wechsel der Tagesstruktur und gewohnter Abläufe ein hohes Ausmaß an Stress und Irritation dar. Die Betroffenen sind aufgrund ihrer kognitiven Defizite nichtmehr in der Lage, sich an neue Gegebenheiten zu adaptieren. Auch können sie Informationen wie die teils komplexe Berichterstattung in den Medien nichtmehr auffassen, verarbeiten und konsolidieren. Insbesondere die demenztypischen Defizite im Neugedächtnis und der Informationsverarbeitung machen eine Anpassung an die neuen Umstände rund um die COVID-19-Krise schwierig bis unmöglich. Die Umstellung von persönlichen Kontakten auf „digitale“ Optionen ist nicht nur durch das häufige Fehlen technischer Geräte, sondern besonders durch die demenzassoziierten Defizite nicht möglich.
Aus den Rückmeldungen der gerontopsychiatrischen Abteilungen und Spezialambulanzen (Gedächtnissprechstunden, Gedächtnisambulanzen) der Bundesländer wurden folgende Problemfelder z. B. aus telemedizinischen Betreuungsangeboten erkannt. Unabhängig wurden auf zahlreichen nationalen und internationalen Internetplattformen zum Thema Demenz eigene Informationen zum Thema „Corona und Demenz“ eingefügt. (Tab.
1).
Tab. 1
Darstellung der aufgezeigten Problemfelder im Rahmen der COVID-19-Krise auf Menschen mit Demenz und angebotenen Gegenmaßnahmen
Fehlende Betreuung und Pflege, – insbesondere im Bereich der 24-h-Pflege | Einrichtung von offiziellen Hotlines |
Unsichere Medikamenteneinnahme durch fehlende ambulante Betreuung | |
Mangelhafte Grundversorgung, z. B. hinsichtlich Ernährung aufgrund von geschlossenen Gastbetrieben und Kantinen | Ehrenamtliche Versorgung für Menschen mit Demenz wurde etabliert – Übernahme von Einkäufen und Botengängen |
Fehlendes ambulantes Therapieangebot über Dienstleister wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten | – |
Fehlen von Tagesstruktur und körperlicher/geistiger Aktivierung durch die Schließung von Tageszentren und Gruppenveranstaltungen | |
Schwierige Risiko-Nutzen-Abwägung zwischen engmaschigen Besuchen beim zu pflegenden Patienten und Distanzhalten zum Schutz vor Infektion | Tägliche und umfassende Information über nationale und internationale Medien. Einrichtung von offiziellen Hotlines |
Anstieg von Angst, Aggression und Agitation in Wohnheimen (auch wegen hoher Covid-19-bedingter Sterberate der Heimbewohner/Heimbewohnerinnen) | Angebot von zahlreichen telemedizinischen psychologischen Beratungsangeboten |
Medizinische Ebene
Auf der medizinischen Ebene und auch im Rahmen der medizinischen Versorgung haben sich für Menschen mit Demenz durch COVID-19 verschiedenste Belastungen und Schwierigkeiten ergeben.
Neben zahlreichen abgesagten und verschobenen elektiven Behandlungen wurden auch ambulante Behandlungsmöglichkeiten vielfach reduziert oder gänzlich auf eine telefonische Erreichbarkeit umgestellt. Trotz des wichtigen und wertvollen Beitrags der telemedizinischen Versorgung während der COVID-19-Krise muss wiederum der eingeschränkte oder fehlende Nutzen für Menschen mit Demenz hervorgehoben werden. Nicht wenige pflegerisch und ärztliche Mitarbeiter werden sich in dieser Krise die immer wieder diskutierten technischen und computerassistierten Möglichkeiten für die Versorgung von Menschen mit Demenz – Schlagwort „Pflegeroboter“ – herbeigewünscht haben. Dennoch zeigt sich in der derzeitigen Situation gerade der hohe Stellenwert von sozialen Kontakten für Menschen mit Demenz.
In der stationären Versorgung ist für Menschen mit Demenz besonders schwer zu verstehen, warum sie sich ohne Menschen, die sie lieben, an einem ihnen unbekannten Ort aufhalten. Sie werden sogar noch einsamer und verängstigter sein als andere. Auch sind sie weniger in der Lage, zu kommunizieren oder Anweisungen und Sicherheitsmaßnahmen zu befolgen. All diese Faktoren können dazu führen, dass sie während ihres Krankenhausaufenthalts ein erhöhtes Risiko haben, ein Delir zu entwickeln. Wie im Abschnitt über ein erfolgreiches Krisenmanagement für Menschen mit Demenz beschrieben, sollte insbesondere in der Zeit von COVID-19 eine strenge Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, inwieweit ein Krankenhausaufenthalt unvermeidbar ist oder alternative Versorgungsmöglichkeiten genutzt werden können.
In welchem Maße das Covid-19-Virus Einfluss auf mögliche neurologische Symptome und auf die Inzidenz und Prävalenz von Demenzerkrankungen hat, ist derzeit nicht sicher zu beurteilen.
Mit der wachsenden Zahl an Covid-19-Patienten werden bei diesen aber immer mehr neurologische Symptome bekannt. COVID-19 kann das Nervensystem über vier potenzielle Mechanismen beeinflussen, die sich überschneiden können. Der erste Mechanismus ist eine direkte virale Schädigung des Nervengewebes, wie sie bei der Herpes-simplex-Enzephalitis auftritt. Obwohl es einige suggestive Fallberichte gibt, gibt es keinen eindeutigen Beweis dafür, dass das SARS-CoV-2-Virus das zentrale Nervensystem (ZNS) direkt schädigt [
26]. Die zweite Art von Verletzung resultiert aus einer exzessiven Immunantwort in Form eines „Zytokinsturms“. Zytokine können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und sind mit einer akuten nekrotisierenden Enzephalopathie verbunden. Es wurde nur ein Fall gleichzeitig mit COVID-19 gemeldet. Der dritte Mechanismus der Schädigung des Nervengewebes resultiert aus unbeabsichtigten Wirkungen der Immunantwort des Wirts nach einer akuten Infektion. Ein Beispiel für diese Art der indirekten neuronalen Schädigung ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Es wurde über mehrere Fälle von GBS in Verbindung mit COVID-19 berichtet, aber die Beweise für Ursache und Wirkung sind schwach [
27]. Der vierte Mechanismus der indirekten viralen Schädigung resultiert aus den Auswirkungen einer systemischen Erkrankung. Längere Behandlungen auf der Intensivstation können neuropsychiatrische Symptome verursachen. Die meisten Fälle von COVID-19-bezogenen neurologischen Komplikationen scheinen in diese Kategorie zu fallen. In einer retrospektiven Fallserie wurde über eine hohe Inzidenz neurologischer Symptome bei 214 hospitalisierten Patienten mit bestätigter COVID-19-Infektion in Wuhan, China, berichtet [
28]. Achtundsiebzig (36,4 %) Patienten hatten Symptome des ZNS (24,8 %), des PNS (8,9 %) oder der Skelettmuskulatur (10,7 %). Die beiden häufigsten ZNS-Symptome waren Schwindel (16,8 %) und Kopfschmerzen (13,1 %), wobei auch über eine akute zerebrovaskuläre Erkrankung, Ataxie, Epilepsie und Bewusstseinsstörungen berichtet wurde. Rezente Fallberichte aus New York, aber auch Berichte aus Österreich, zeigten Fälle von COVID-19-assoziierten zerebrovaskulären Ereignissen [
29]. Die längerfristigen Auswirkungen auf Inzidenz und Progredienz von Demenzerkrankungen kann derzeit noch nicht wissenschaftlich beantwortet werden. Von negativen Auswirkungen auf die Demenzprogression oder eine Zunahme der Demenzinzidenz muss bei den berichteten direkten negativen Effekten auf das Gehirn ausgegangen werden.
Soziale Ebene
Die COVID-19-Pandemie stellt durch die notwendig gewordenen Schutzmaßnahmen auf der sozialen Ebene für Menschen mit Demenz eine hohe Belastung und Herausforderung dar. Durch das Einhalten von körperlicher Distanz und das sog. „social distancing“ wird das Risiko für Vereinsamung und Reizdeprivation erhöht. Insbesondere die offizielle Empfehlung, Kleinkinder nicht in die Nähe von älteren Menschen zu bringen, schottete Großeltern meist von ihren Enkelkindern ab. Auch werden Menschen mit Demenz von der so wichtigen Ressource für Resilienz – nämlich den sozialen Kontakten und der zwischenmenschlichen Interaktion – abgeschnitten. In vielen bisherigen Studien zu Resilienz bei Menschen mit Demenz wurde gerade der Faktor von sozialer Unterstützung und sozialer Interaktion als wesentlich und wichtig beschrieben [
30]. Im Rahmen der Demenz nehmen auch Möglichkeiten zur Nutzung und Entwicklung von Coping-Strategien ab. Während im Jugend- und Erwachsenenalter die Nutzung von sozialen Medien und die digitale Kommunikation als Alternativen für persönliche Sozialkontakte genutzt werden können, stehen diese Wege Menschen mit Demenz, insbesondere im fortgeschrittenen Stadium, meist nicht mehr zur Verfügung. Die COVID-19-Krise kann somit bei Menschen mit Demenz zu großer Einsamkeit führen. Einsamkeit wird definiert: „
als eine unangenehme Erfahrung, welche erlebt wird, wenn ein Individuum einen qualitativen und qualitativen Verlust von sozialen Beziehungen über einen längeren Zeitraum erfährt.“ Einsamkeit kann in eine soziale und emotionale Ebene unterteilt werden. Die COVID-19-Pandemie und ihre Konsequenzen für das tägliche Leben haben das Risiko für Einsamkeit auf beiden Ebenen entscheidend erhöht. Auf emotionaler Ebene musste der Kontakt mit Menschen mit Demenz sehr stark auf eine verbale Kommunikation z. B. per Telefon reduziert werden. Gerade die nonverbale Kommunikation mit Mimik und Gestik oder auch Berührung hat bei Menschen mit Demenz im Krankheitsverlauf eine zunehmende Bedeutung. Durch Verlust von kognitiven Funktionen können ausschließlich verbal präsentierte Informationen nichtmehr ausreichend verarbeitet und aufgenommen werden – jene mit nonverbalem Inhalt jedoch bis ins schwerstgradige Demenzstadium. Auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erschwert Menschen mit kognitiven Einschränkungen und teils auch Visusminderung die Kommunikation mit ihren Mitmenschen. In Gesprächen mit Angehörigen wurde vielfach berichtet, dass Menschen mit Demenz auch auf Angehörigen mit Mund-Nasen-Schutz ängstlich bis ablehnend reagierten. Einsamkeit auf sozialer Ebene wird durch die COVID-19-Krise einerseits durch die Reduktion vom ambulanten Pflegeangebot, dem Untersagen von Treffen in Gruppen und von Veranstaltungen und auch dem Besuchsverbot in Krankenanstalten und Wohnheimen gefördert. Insgesamt wird in der älteren Bevölkerung je nach Wohnort von einer Prävalenz von Einsamkeit zwischen 20 und 40 % ausgegangen [
31]. In einer rezenten Stellungnahme von Armitage et al. [
32] wird besonders auf die Gefahr von Einsamkeit und ihren Folgen für die ältere Bevölkerung im Rahmen der COVID-19-Pandemie hingewiesen [
32]. Bereits frühere Arbeiten haben gezeigt, dass sich durch Einsamkeit das Risiko für somatische Erkrankungen [
33] und psychische Symptome wie Angst und Depression erhöht [
34]. Wie auch in der angeführten Stellungnahme sollte die COVID-19-Pandemie zum Anlass genommen werden, aktiv der sozialen Isolation und Einsamkeit älterer Menschen vorzubeugen. Für gesunde ältere Menschen oder Menschen mit Demenz im Beginnstadium können auch telemedizinische und digitale Medien präventiv eingesetzt werden. Für mittel-bis schwergradig an Demenz Erkrankte sollte auf eine Ausweitung von persönlichen und mit sozialer Interaktion verbundenen Strategien fokussiert werden. Auch sollte immer darauf Wert gelegt werden, die Angehörigen und das Betreuerumfeld in die präventiven Strategien mit einzubeziehen.
Während die maßnahmenbedingte soziale Distanz besonders für allein lebende Menschen mit Demenz belastend und problematisch ist, zeigt sich für Menschen, die mit ihrem Partner oder in der Familie leben ein teils konträres Bild. Durch die Quarantänemaßnahmen, die fehlende Möglichkeit des Rückzugs in z. B. Lokale, in Tageszentren, in den Freundeskreis oder auch in die Natur kann es zu einem gezwungenen Maß an sozialer Nähe kommen. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurde von den Medien und auch psychologischen Stellungsnahmen vorwiegend auf resultierende Konflikte von Eltern und Kindern oder in der Partnerschaft fokussiert, die durch die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und die erzwungene vermehrte gemeinsame Zeit auf engem Raum resultieren. Diese nun intensive und teils ganztägige Konfrontation mit einem im selben Haushalt lebenden an Demenz erkrankten Angehörigen kann ebenfalls zu einer erheblichen Belastung für den Patienten das Betreuungsumfeld führen. Gerade hier besteht dringender Bedarf, aktiv pflegende Angehörige in schwierigen Situationen wie Quarantäne und Ausgangsbeschränkungen aktiv zu unterstützen und zu beraten. Zwar wurden zahlreiche COVID-10-Krisen-Hotlines und telefonische Beratungen eingerichtet, – ob diese jedoch auch im Längsschnitt ausreichend und effektiv waren, werden erst die nächsten Monate zeigen.
Kognitive, emotionale und Verhaltensebene
Zu den typischen Symptomen der Alzheimer-Demenz und anderen neurodegenerativen Demenzformen gehören Defizite in der Informationsverarbeitung, der Auffassung und der Erfassung von verbalen Informationen. Auch die Informationsgeschwindigkeit ist im Rahmen der Demenz in Abhängigkeit des Schweregrads reduziert (American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5th edn). Bis zu 90 % der Menschen mit Demenz leiden im Verlauf der Erkrankung an Verhaltensauffälligkeiten oder neuropsychiatrischen Symptomen [
35]. Ein erheblicher Anteil ist auch von komorbiden psychischen Störungen wie Depression, Angst oder Schlafstörungen betroffen [
36]. Auch wenn die Folgen der COVID-19-Pandemie auf Menschen mit Demenz und deren Angehörige und Betreuungspersonen noch nicht bestimmt vorausgesagt werden können, ist doch aus den Erfahrungen der SARS-Epidemie 2013 von einem hohen Risiko für negative Konsequenzen für die psychische Gesundheit auszugehen. In Folge der SARS-Epidemie, welche insbesondere Hongkong betraf, wurde von einem Anstieg der Suizidraten von 30 % in der Gruppe der über 65-Jährigen berichtet. Ähnlich wie bei COVID-19 waren auch von SARS überwiegend Personen über 60 Jahre von einem letalen Ausgang der Erkrankung betroffen. Trotz den in Hongkong ohnehin höheren Suizidraten als in westlichen Ländern, muss auch bei uns mit einem Anstieg der Suizide oder suizidalen Krisen in der älteren Bevölkerung gerechnet werden. Auch kam es bei 30–50 % der Menschen, die eine SARS Infektion überstanden hatten, zu persistierenden Angstsymptomen und bei der Gruppe von Mitarbeiten im Gesundheitsbereich zu anhaltendem emotionalen Stress [
24]. In einer Studie nach der SARS-Epidemie wurden folgende Faktoren als besonders belastend in der Krise beschrieben: Gefühl der Isolation, Hoffnungslosigkeit, Überflutung mit negativen Nachrichten, Verlust sozialer Integration, unspezifische Angst und das Gefühl, Angehörige zu belasten [
37].
Bei Menschen mit Demenz ist der Umgang mit negativen Gefühlen durch die bestehenden kognitiven Defizite zusätzlich erschwert. Insbesondere in Krisen sind hilfreiche Coping-Strategien und die Fähigkeit zur Resilienz bei Menschen mit Demenz oft nur eingeschränkt umsetzbar. Unter dem Begriff Resilienz wird nach Windle
ein dynamischer Prozess der aktiven Auseinandersetzung, Adaptierung und der Bewältigung von stressvollen und traumatischen Erfahrungen verstanden [
38]. Unter Coping wird die Anwendung von Bewältigungsstrategien verstanden, um eine schwierige Lebenssituation zu überstehen. Für Menschen mit Demenz sind insbesondere Sozialkontakte ein wesentlicher die Resilienz stärkender Faktor [
39]. Nicht zuletzt hat die kognitive Fähigkeit des sog. „decision making“ im Rahmen der COVID-10-Krise einen wichtigen und hohen Stellenwert für die Gesundheit und das Leben von Menschen mit Demenz bekommen. Die Fähigkeit reflektiert und für sich selbst oder andere Entscheidungen zu treffen, erfordern kognitive Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und unterschiedliche frontal-exekutive Funktionen [
40]. Vor allem diese kognitiven Funktionen sind im Rahmen der Demenz defizitär. Studien mit an Demenz erkrankten Menschen konnten zeigen, dass deren Fähigkeit zur Entscheidungsfindung reduziert ist [
41]. Folglich besteht bei Menschen mit Demenz die Gefahr, für sie unvorteilhafte oder sogar schädliche Entscheidungen zu treffen. Besonders wenn die Entscheidungen schnell getroffen werden müssen und auf vielen und komplexen Informationen basieren, zeigen Menschen mit Demenz klare Nachteile gegenüber Gesunden [
42]. In der derzeitigen COVID-19-Krise geraten Menschen mit Demenz besonders schnell und leicht in solch schwierigen Situationen. Auch die komplexe Informationsflut über die Medien und der teils fehlende Austausch mit vertrauten Mitmenschen birgt die Gefahr von potenziell schädlichen Entscheidungen. – Als Beispiel seien nur die häufigen kriminellen Hilfs- oder Kreditangebote, oder gezielte Falschinformationen über COVID-19-Maßnahmen genannt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich viele Menschen mit Demenz allein aufgrund krankheitsbedingter Defizite in der Entscheidungsfindung gegen das Befolgen von Sicherheitsmaßnahmen oder auch das Einhalten von Ausgangsbeschränkungen entschieden haben. Als Gegenmaßnahme wurden verstärkt in den Medien auch Nachrichten „in einfacher Sprache“ gesendet. Auf manchen webbasierten Demenzportalen wurden eigens für Menschen mit Demenz schriftliche und bildliche Erklärungen der erlassenen COVID-19-Maßnahmen veröffentlicht. Wieder wird darauf hingewiesen, dass eben solche Maßnahmen Menschen mit Demenz in besonders fortgeschrittenen Stadien nicht erreichen und ein dringender Bedarf in Krisen besteht, die verfügbaren Informationen für alle Bürger eines Staates verfügbar zu machen.