Weihnachtszeit und Jahreswechsel sind keine stillen Zeiten. Sie bringen viele Menschen an den Rand ihrer psychischen Belastungsgrenzen. Die gute Nachricht: Wer sich auf Weihnachten und die Feiertage freut, wird sich auch erholen.
Motiv: Springer Medizin via Midjourney-KI
Eine Familie mit fünf Kindern. Zwei Schwestern und zwei Brüder sitzen am Weihnachtstisch, eine Schwester, die älteste, steht hinter ihnen und wartet. Sie hat zwei Bleche mit Apfelstrudel aufgewartet, die wie der Elefant im Raum auf der Anrichte stehen. Die Apfelstücke hat sie dick geschnitten, die Rosinen sind saftig, mit dem Staubzucker hat sie nicht gespart. Sie steht im Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer und beobachtet, ob sich ihre Geschwister über die Kuchen hermachen. Doch die haben keine Lust auf so viel Süßes unmittelbar nach dem Abendessen. Die Aufforderung, sich zu setzen und vom Selbstgebackenen zu kosten, lehnt sie entschieden ab. Nach einer Stunde verlässt die Magersüchtige das Zimmer und das Haus. Weihnachten wird sie daheim verbringen, allein.
So kann es gehen. Ausgerechnet Weihnachten, das christliche Familienfest schlechthin, scheitert regelmäßig in großem Stil. Es sind nicht nur die wochenlange Vorbereitung und die damit verbundenen Erwartungen, es ist vor allem die Zusammenkunft von Menschen, die einander fremd geworden sind, die zu Problemen führt.
Dabei ist es schon ein Erfolg, dass die Schwester überhaupt gekommen ist. Normalerweise sagt sie Familienfeierlichkeiten ab oder erfindet einen Grund, um nicht zu kommen. Die gesunden Geschwister waren sich der bohrenden Blicke in ihren Rücken bewusst. Doch wollte – angesichts der Krankheit der Schwester – niemand über die Sinnhaftigkeit von so viel Essen streiten. Das ist grundsätzlich auch richtig, egal ob es sich um Magersucht, Depression, Süchte oder Angsterkrankungen handelt. Ein Nein sei zu akzeptieren, sagt die deutsche Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer.
Das Wichtigste für Angehörige sei: Fragen, wie man die psychisch erkrankte Person unterstützen kann. „Wie kann ich es dir leicht machen, dass das Fest so angenehm wie möglich wird? Das bedeutet also: reden, reden, reden“, sagt die Expertin Anke Glaßmeyer. Und zwar schon im Vorfeld. Sie selbst litt als Kind an Essstörungen. Es sei wichtig, mit nahestehenden Personen vorher zu sprechen und zu klären, wo Schwierigkeiten liegen und wie man unterstützt werden könnte, sagt Glaßmeyer. „Dann aber auch akzeptieren, dass das Fest vielleicht nicht so wird, wie man es sich wünscht.“
Mit psychischen Leiden müssen sich viele Familien auseinandersetzen. Der Umgang mit einem psychisch kranken Verwandten bei einer Familienfeier ist für die anderen Familienmitglieder eine große Herausforderung. Dr. Jolana Wagner-Skacel ist Professorin für Medizinische Psychologie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Med Uni Graz. Sie beantwortet die Frage nach dem Wie grundsätzlich: „Menschen haben im Unterschied zu Tieren, die auch ein Bewusstsein haben, die Fähigkeit, einen Perspektivenwechsel einzunehmen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir auch den Umgang miteinander wieder ein bisschen in den Fokus rücken, also nicht nur die Selbstfürsorge und Selbstachtsamkeit, sondern auch die Achtsamkeit im Gegenüber; dass wir Beziehungen, die uns schützenswert scheinen, dass wir die nicht mit Vorwürfen kaputt machen oder mit destruktiven Handlungen, also dass wir wirklich einen guten Umgang finden, dass wir Dinge sagen können“, sagt Wagner-Skacel.
Doch auch wenn man nicht mit der psychischen Erkrankung eines nahen Verwandten konfrontiert wird, ist die sogenannte „mental load“ nicht zu unterschätzen. Advent und Weihnachten ist eine Zeit mi tzwei Seiten: Auf der einen Seite stehen schöne Dinge wie gesellige Christkindlmarktbesuche, Weihnachtsfeiern und besinnliches Beisammensein im warmen Kerzenschein mit Vanillekipferln. Auf der anderen Seite kann diese Zeit als besonders stressig empfunden werden, weil zusätzliche Aufgaben im privaten Bereich wie das Besorgen von Geschenken anstehen und es zu einer Verdichtung von Arbeitsaufgaben im Beruf kommt, die vor dem Jahreswechsel abzuschließen sind. Man denke etwa an Lehrerinnen, die Schulaufführungen zu leiten haben.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat vor wenigen Jahren eine Tagebuchstudie durchgeführt, zu Erholung und Wohlbefinden rund um Weihnachten. „Wir wollten wissen, inwieweit sich das Wohlbefinden im Verlauf der Weihnachtszeit und des Jahreswechsels verändert und welche Faktoren Erholung und Wohlbefinden beeinflussen“, sagt die Wirtschaftspsychologin Christine Syrek, Professorin an der Hochschule Rhein-Sieg.
Berufstätige füllten dazu über mehrere Monate ( von Dezember bis März, Anm. ) hinweg standardisierte Fragebögen zu ihrem Wohlbefinden und ihren Erholungserfahrungen aus. Die Analysen der Tagebücher zeigten einen wellenartigen Verlauf: Das Wohlbefinden verbesserte sich bereits in der Adventzeit und erreicht seinen Höhepunkt zu Weihnachten. Insbesondere die Vorfreude spielte hier eine wichtige Rolle. Bei Befragten, die sich auf Weihnachten freuten, stieg die positive Stimmung schneller an. Negative Stimmungen nahmen insbesondere bei denjenigen ab, die voller Vorfreude Weihnachten erwarteten und die vor Weihnachten nicht so viele unerledigte Aufgaben hatten.
„Für die Weihnachtstage zeigt sich: Abstand von der Arbeit tut gut, und das sollte ganz bewusst genutzt werden“, sagte Syrek. „Wer es schafft, die freien Tage zu nutzen, einmal komplett die Arbeit – auch in Gedanken – ruhen zu lassen und abzuschalten, der tut sich selbst einen langfristigen Gefallen und startet entspannter in das neue Jahr.“
Doch manche Menschen kommen gar nicht in den Zustand der Vorfreude. Sie sind am Rand ihrer Belastbarkeit, kommen an ihre psychischen Grenzen. Das belegen 5,8 Millionen Krankenstandstage, die hierzulande im Jahr 2023 mit der Diagnose „Psychische Erkrankung“ gezählt wurden. Liegt das nun daran, dass wir unserer mentalen Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken als unsere Elterngeneration, oder sind wir wirklich kränker geworden? „Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Es gibt natürlich veränderte Bedingungen, die auf uns einwirken und unsere mentale Gesundheit beeinträchtigen. Themen wie Digitalisierung und KI bringen viel Gutes, verursachen aber auch Ängste. Die Erreichbarkeit – im Privaten wie Beruflichen – ist ein häufiger Grund, den ich als Stressauslöser beobachte. Die ständige Verfügbarkeit erlaubt uns kaum Pausen.
Die zweite Seite der Medaille ist die gesellschaftliche Sensibilisierung, die sehr zu begrüßen ist. Wenn man sich nicht selbst betroffen fühlt, kennt fast jeder jemanden, der schon einmal betroffen war. Dadurch gibt es eine deutlich höhere Akzeptanz gegenüber psychischen Erkrankungen.“ Das sagt Mag. Regina Nicham, Arbeits- und Organisationspsychologin, spezialisiert auf betriebliche Gesundheit.
Die Akzeptanz psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft sei „ein großer Kampf von uns Psychiaterinnen, Psychosomatikerinnen und Psychotherapeuten“, sagt Wagner-Skacel. Begründung: „Wir gehen davon aus, dass psychische Krankheiten metabolische Erkrankungen sind. Da geht es um inflammatorische Prozesse. Ich vergleiche es für die Patienten, weil es so leichter zu fassen ist, mit Herzerkrankungen oder mit Diabetes mellitus oder mit Bluthochdruck oder etwa mit Colitis ulcerosa.“
Die magersüchtige Schwester wird in den nächsten Tagen und Wochen wieder groß aufbacken. Wieder wird nur ein Teil davon verzehrt werden. Doch die Familie ist diesmal vorgewarnt, einer wird hoffentlich auf sie zugehen. Weihnachten ist das Fest der Hoffnung. Der in Tschechien geborenen Wagner-Skacel fällt dazu ein Satz von Václav Havel ein: „,Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.’ Der Gedanke gefällt mir sehr gut, dass Weihnachten eigentlich etwas Sinnstiftendes sein soll.“