Die Entwicklung der psychiatrischen Ausbildung in Österreich – Fokus psychotherapeutische Medizin
Mit der Fächertrennung zwischen Psychiatrie und Neurologie im Jahr 1994 entstanden in Österreich die eigenständigen Berufsbilder „Facharzt für Psychiatrie“ und „Facharzt für Neurologie“. Im Bundesgesetzblatt (
1994) und damit auch im Rasterzeugnis wurden für die ärztlich-psychiatrische Ausbildung Kenntnisse über psychotherapeutische Verfahren und bio-psycho-sozialer Behandlungsstrategien gefordert. Im Rasterzeugnis mit Gültigkeit von 1994 bis 2005 folgte eine genauere Formulierung. Kenntnisse bezüglich der „Indikation psychotherapeutischer Verfahren, zugrundeliegender Hypothesen und Konzepte“ (Bundesgesetzblatt
1994, S. 2195) und ein Grundwissen über psychotherapeutische Institutionen und therapieimmanente Folgewirkungen von Psychotherapie wurden benannt. Die Grundsteine einer bio-psycho-sozialen Ausrichtung wurden gelegt, in dem die Kompetenzen im Bereich der professionellen Gestaltung der therapeutischen Beziehung als Lehr- und Lernziel formuliert wurden und die psychiatrische Untersuchung aus biologisch-somatischen, psychologischen, psychodynamischen und sozialen Gesichtspunkten definiert wurden. Fertigkeiten im Bereich psychotherapeutischer Strategien im Rahmen der psychiatrischen Rehabilitation finden sich explizit.
Die Ausbildungsnovelle 2006 definierte erstmals die konkrete Ausbildung in psychotherapeutischen Kompetenzen und das neue Berufsbild „Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin“. Bis 2006 verlief somit die psychotherapeutische Ausbildung für Fachärzt:innen für Psychiatrie unabhängig vom Rasterzeugnis sowie zur Gänze als freiwilliger Weg der Weiterbildung. Ab 2007, mit Inkrafttreten der Ausbildungsnovelle 2006, wurde die psychotherapeutische Ausbildung als verpflichtender Teil in die Fachärzt:innenausbildung integriert. Zum damaligen Zeitpunkt erfolgte der Kompetenzerwerb entweder über das Weiterbildungsangebot der PSY-Diplome oder die Ausbildung nach dem Psychotherapiegesetz.
Mit dem Rasterzeugnis 2011 wurde schließlich durch die Angabe der geforderten Ausbildungsstunden die Integration der psychotherapeutischen Kompetenzen in den psychiatrischen Arbeitsalltag klar definiert. Die konkret geforderten Ausbildungsstunden schafften auch die Grundlagen dafür, dass heute in den meisten österreichischen Bundesländern eine umfassende Finanzierung der Ausbildung in psychotherapeutischer Medizin erreicht ist. Das Curriculum für psychotherapeutische Medizin wurde im Rasterzeugnis mit genauen Stundenanzahlen präzisiert, um die Finanzierung und Umsetzung der Ausbildung in Orientierung an europäischen Standards zu ermöglichen. Damit ist eine Benachteiligung der Fachärzt:innen-Ausbildung in Psychiatrie und psychotherapeutischer Medizin gegenüber Ausbildungen anderer medizinischer Fächer durch hohe finanzielle Belastungen heute deutlich reduziert.
Die Ausbildungsnovelle 2015 ergänzte psychotherapeutische Ausbildungsinhalte in den Modulen der Schwerpunktausbildung (27 Monate) „Abhängigkeit/Sucht“, „Forensische Psychiatrie“, „Gerontopsychiatrie“, „Psychosomatische Medizin/Fachspezifische Schmerztherapie“, „Psychiatrische Rehabilitation“, und „Adoleszentenpsychiatrie“.
Rahmenbedingungen, Selbsterfahrung und Supervision
Die dokumentierten und supervidierten psychotherapeutischen Behandlungen von Patient:innen müssen explizit an der Ausbildungsstätte stattfinden. In der Regel wird heute eine Therapie mit psychotherapeutischem Schwerpunkt jenen Patient:innen durch die Assistenzärzt:innen angeboten, die auch in stationärer oder ambulanter Behandlung der jeweiligen Ausbildungsstätte stehen. Damit sind auch alle formalen Voraussetzungen erfüllt, um als Assistenzärzt:in unter Supervision ärztlich tätig sein zu dürfen. Daraus ergibt sich eine besondere Möglichkeit Patient:innen für die psychotherapeutische Behandlung durch Assistenzärzt:innen mit geeigneter Passung zu finden und Patient:innen auch über den stationären Aufenthalt hinaus am Ausbildungsstandort psychotherapeutisch sowie integrativ psychiatrisch zu behandeln.
Die Selbsterfahrung sowohl im Einzelsetting als auch im Gruppensetting muss klar abgegrenzt und unabhängig von der ausbildungsverantwortlichen Abteilung stattfinden. Die Wichtigkeit der Selbsterfahrung wird in der Psychotherapieforschung zwar selten beforscht (Pruette
2022), jedoch zeigen etliche Studien deren Wichtigkeit (Kaplowitz et al.
2011) für den Therapieoutcome. Die Kultur dafür zu schaffen ist essentiell (Habl et al.
2010). Eine didaktische Gliederung in biographische Selbsterfahrung (Reflexion eigner Persönlichkeitsmuster/Lebensgeschichte), fallbezogene Selbsterfahrung (Balintgruppen/Interaktionelle Fallarbeit) und anwendungsorientierte Selbsterfahrung (Entwicklung von interventioneller Performanz in Theorie-Technik-Methodikseminaren) hat sich in vielen Ausbildungskontexten bewährt.
Die Supervision begleitet die Assistenzärzt:innen in den Behandlungsprozessen kontinuierlich in der Zusammenarbeit mit ausbildungsverantwortlichen Fachärzt:innen. Als konkrete Stundenzahl sind 120 Einheiten fallorientierte Supervision der Tätigkeit in psychotherapeutischer Medizin von den 120 Einheiten Supervision der klinisch psychiatrischen Tätigkeit formal klar abgrenzt.
Die Brücke zwischen Supervision und Selbsterfahrung bilden mind. 40 Einheiten Balint-Gruppe und/oder interaktionsbezogene Fallarbeit (IFA).
Kompetenzprofil psychotherapeutische Medizin für Psychiater:innen in Ausbildung
Im Rahmen der UEMS-Section of Psychiatry wurde 2017 ein konkretes Kompetenzprofil für Psychiater:innen ausgearbeitet. Die UEMS (Union Européenne des Médecins Spécialistes) repräsentiert als Organisation einzelne nationale medizinische Fachgesellschaften auf europäischer Ebene. Die European Psychiatric Association (EPA) beschreibt im Jahr 2015 (UEMS
2017) die Rolle sowie Verantwortungsbereiche von Psychiater:innen (vgl.
https://www.uems.eu/__data/assets/pdf_file/0019/43561/ETR-Psychiatry-201703.pdf).
Das „UEMS Competency Based Framework for training in psychiatry“ empfiehlt weiterhin als Organisationssystem für ärztlich psychiatrische Kernkompetenzen das „Canadian Royal College of Physicians and Surgeons’ framework – CanMeds“ zu verwenden (Frank
2005): (im Original) Medical Expert, Communicator, Collaborator, Leader, Scholar, Professional. Hier wird im Bereich der medizinischen Expert:innenrolle die Entwicklung von therapeutischen Kompetenzen im Bereich Psychotherapie explizit neben den biologischen und sozialpsychiatrischen Behandlungskompetenzen beschrieben. In Abstimmung mit allen CanMeds-Kompetenzen (Frank
2005) wird jedoch auch deutlich, dass sich für die medizinische Expert:innen-Rolle eine störungs-/problem- bzw. fall‑/anlass-spezifische Ausbildung abbildet. Zusätzlich wird die Rolle der Kommunikation und interprofessionellen Zusammenarbeit, wie auch die des Managers und Verantwortungsträgers betont.
Aus den Inhalten des Rasterzeugnisses für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin lässt sich mit dem Fokus auf psychotherapeutische Ausbildungsinhalte ein konkretes Kompetenzprofil für den Bereich psychotherapeutische Medizin ableiten, das auch Übergänge in die biologischen, sozialpsychiatrischen und psychosomatischen Kompetenzbereiche ermöglicht. Die UEMS-Arbeitsgruppe für Ausbildung in der Psychiatrie veröffentlichte 2017 Leitlinien für die psychotherapeutischen Lernerfahrungen im Rahmen der psychiatrischen Ausbildung (
http://uemspsychiatry.org/h/board/). Die nun folgende Formulierung eines spezifischen Kompetenzprofils für den Bereich psychotherapeutische Medizin in der fachärztlich-psychiatrischen Ausbildung soll nun mit den Leitlinien (Level One) in Verbindung gebracht werden.
Im Rahmen ihrer sechsjähren Facharztausbildung aus über 8000 Praxisstunden sammeln Assistenzärzt:innen für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin zweifellos eine Vielzahl an Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlich schwer erkrankten Patient:innen aller Diagnosegruppen. Die Module der neuen Ausbildungsordnung sollen sicherstellen, dass klinische Kompetenzen und interdisziplinäres Patient:innenmanagement im Akutbereich und in unterschiedlichen Spezialgebieten der Psychiatrie und psychotherapeutischen Medizin erworben werden. Da der Kompetenzerwerb im Bereich der Psychiatrie und psychotherapeutischen Medizin auf Basis
der ärztlich-psychiatrischen Identität verläuft, sind Unterschiede zum verfahrensorientierten psychotherapeutischen Kompetenzerwerb verständlich (EAP
2013).
Es lässt sich das Ziel formulieren, Fachärzt:innen für Psychiatrie und psychotherapeutischer Medizin als Expert:innen und Vermittler:innen für inter- sowie intrapsychische Prozesse im bio-psycho-sozialen Feld auszubilden (Lugsch et al.
2022).
Ein primärer Fokus dabei ist es psychotherapeutische Kompetenzen in der fachärztlichen Tätigkeit integriert anzuwenden. Vom akutpsychiatrischen Setting bis zur Berufsausübung in der psychiatrischen Ordination bleiben stets auch psychotherapeutische Blickwinkel Teil des Behandlungsprozesses. Gleichzeitig ist analog zum PSYIII Diplom oder einer Ausbildung nach dem Psychotherapiegesetz mit dem Abschluss der Facharztausbildung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin die Grundlage für eine selbständige psychotherapeutische Tätigkeit geschaffen.
Das aktuelle Rasterzeugnis (vgl. Tab.
1) bietet einen klaren Rahmen bezüglich des Kompetenzprofils im Bereich der psychotherapeutischen Medizin. Die konkret geforderten Stundenzahlen richten sich größtenteils nach den PSYIII Curricula der Ärztekammer.
Tab. 1
Vertiefte Ausbildung Psychotherapeutische Medizin – Rasterzeugnis (ÄAO
2015), inhaltlich ident seit ÄAO 2006, seit ÄAO 2011 Ergänzung durch Richtzahlen und Ausbildungseinheiten
80 Einheiten „Basiscurriculum“: Psychotherapie-Technik und praktische Anwendung der psychotherapeutischen Medizin aus den wissenschaftlich anerkannten Traditionen: psychodynamische Tradition, verhaltenstherapeutische Tradition, systemische Tradition, humanistische Tradition |
120 Einheiten: Vertiefte Ausbildung in Therapeutischen Kurzzeitmethoden, Therapeutischen Langzeitmethoden, Störungsspezifischen Therapieansätzen, Therapeutische Praxis in verschiedenen Settings (Einzel‑, Paar‑, Gruppen- und Familientherapie, ambulante und/oder stationäre Versorgung) |
Dokumentation von 60 selbständig durchgeführten, supervidierten und dokumentierten Erstuntersuchungen (davon fünf Erstgespräche in direktem Beisein eines Supervisors) |
Dokumentierte Vorstellung von Patientinnen und Patienten im Rahmen einer Fallkonferenz anhand von fallorientiertem/problemorientiertem, integrativem Lernen |
Dokumentierte integrative psychiatrische (mit somato-, sozio- und psychotherapeutisch-medizinischen Verfahren) Behandlung von 30 Patient:innen mit unterschiedlichen Diagnosen unter Supervision |
Von den 30 Patient:innen sollten bei mindestens 6 längere spezifische psychotherapeutisch-medizinische Verfahren unter Supervision zur Anwendung kommen (2 Therapien über mindestens 40 h und 3 Therapien über mindestens 15 h). Abweichungen davon sind nur in begründeten Fällen unter Berücksichtigung schulenspezifischer Behandlungsrichtlinien möglich |
120 Einheiten fallorientierte Supervision der Tätigkeit in psychotherapeutischer Medizin – Einzel- bzw. Gruppe |
120 Einheiten dokumentierte Supervision der klinisch-psychiatrischen Tätigkeit |
40 Einheiten Balint-Gruppe und/oder interaktionsbezogene Fallarbeit (IFA) |
Insgesamt 190 h Selbsterfahrung, davon mindestens 50 Einheiten Einzel-Selbsterfahrung |
Psychotherapeutische Medizin in der ärztlich-psychiatrischen Kompetenz soll nicht nur im klassischen 50 min Setting der psychotherapeutischen Einzelbehandlung gelebt werden, sondern letztendlich in alle Bereichen der Patient:innen-Begegnung miteinfließen. Dies erklärt auch die Differenz im Bereich der psychiatrisch fachärztlichen Ausbildung bezüglich der psychotherapeutisch medizinischen Behandlungsprozesse (Fertigkeiten), sowie der 6 längeren psychotherapeutisch medizinischen Behandlungsprozesse (2 mal 40 h, 3 mal 15 h, 1 mal freie Länge) im Vergleich zu den 600 supervidierten Psychotherapiestunden aus dem Fachspezifikum nach Psychotherapiegesetz. Dem gegenüber stehen über 8000 h supervidierter Tätigkeit in zunehmender Patient:innen-Fallführung im Rahmen der fachärztlich psychiatrischen Ausbildung im Vergleich zu 550 h Praktikum im Rahmen der Ausbildung nach dem Psychotherapiegesetz.
Das Spezifikum der ärztlich-psychiatrischen und psychotherapeutischen Kompetenzen ist dabei auch ein gelebtes psychotherapeutisches Denken und Handeln innerhalb der ärztlicher Kerntätigkeit, wie der ärztlichen Visite. Denn ein großer Teil der Fachärzt:innen für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sieht sich in Zukunft nicht im Sinne von Psychotherapeut:innen tätig, sondern fachärztlich psychiatrisch und psychotherapeutisch-medizinisch. Beispielsweise lassen sich Ressourcenaktvierung und Problemklärung auch in einen kurzen Visitenkontakt integrieren. Eine professionelle Beziehungsgestaltung reicht dabei weit über die Kompetenzen in ärztlicher Gesprächsführung hinaus. In der UEMS Leitlinie wird dabei auch die Kompetenz einer klaren, nonverbal und verbal emphatischen Kommunikation betont, die Patient:innen in ihrer individuellen Innenwelt abholt, um die Grundlage für Reflexion und „shared decision making“ zu schaffen.
Mit dieser Berücksichtigung der biologischen, sozialen und psychotherapeutischen Dimensionen in allen Begegnungen mit Patient:innen soll die parallel verlaufende psychotherapeutische Behandlung nicht ersetzt, sondern im besten Fall ergänzend gefördert werden. Wenn Fachärzt:innen für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin auch die psychotherapeutische Behandlung übernehmen, dann können psychopharmakologische, soziotherapeutische und psychotherapeutische Behandlung auch in einer Person angeboten werden. Das Ziel der psychotherapeutischen Ausbildung in der Psychiatrie ist somit ein Kompetenzprofil, wo allgemeine psychotherapeutische Wirkfaktoren wie beispielsweise eine professionelle therapeutische Beziehungsgestaltung internalisiert und angepasst an das jeweilige Setting wirksam werden können. Einen weiteren wesentlichen Kompetenzbereich umfasst die Indikationsstellung zur psychotherapeutischen Behandlung sowie die Fähigkeit Patient:innen spezifische Empfehlungen zur passenden Wahl einer Psychotherapie zu geben (UEMS
2017 und UEMS
2013, sowie UEMS Section Psychiatry
2019).
Die Ausbildung im Bereich der psychotherapeutischen Medizin für psychiatrische Fachärzt:innen verfolgt folglich zwei wesentliche Ziele. Zum einen soll psychotherapeutische Medizin wie oben beschrieben in allen psychiatrisch-ärztlichen Kerntätigkeiten integriert einfließen. Das zweite wesentliche Ausbildungsziel besteht darin, Kompetenzen für mittlere und längere psychotherapeutische Behandlungen ähnlich den Ausbildungszielen der PSY III Weiterbildung oder der Ausbildung nach dem Psychotherapiegesetz zu entwickeln.
All diese Bereiche des Kompetenzprofils erfordern die Entwicklung einer großen Rollenflexibilität, sowie einer integrierten Identität (UEMS
2017). In einem Moment kann eine fürsorglich-nachnährende Haltung oder ein deutlich prozessbegleitendes und non-direktives Handeln in der Patient:innenbegegnung passend sein. In weiteren Momenten ist eine empathisch konfrontierende Haltung, ein direktives Handeln bis hin zur Abwendung von akuter Gefahr im Sinne des „Unterbringungsgesetztes“ indiziert. Die Selbsterfahrung bildet dabei eine wichtige Basis, um eigene Persönlichkeitsmuster sowie die eigene Biografie so weit zu reflektieren und zu integrieren, dass sie therapeutische Prozesse durch professionelle Beziehungsgestaltung unterstützten. Gerade innerhalb der ärztlich-psychiatrischen Identität ist hier ein hohes Maß an ethischer Reflexion und Selbstreflexion gefordert, die die Würde und Integrität der Patient:innen als höchstes Gut versteht, sowie ausreichende Selbstfürsorge und Psychohygiene der Professionist:innen ins Zentrum rücken (UEMS Section of Psychiatry
2019).