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Wer schon vor der Krise seelisch angeschlagen war, der hat in den vergangenen beiden Jahren doppelt gelitten. Unsere Solidarität mit den Krisengebeutelten ist aber nicht im gleichen Ausmaße mitgewachsen.
Merken Sie es auch? Wir helfen einander immer seltener, sind nicht mehr so empathisch, nehmen wenig Rücksicht. Wir stehen unter Druck, jeder schaut vermehrt auf sich, die Habenden wenden sich von den Nicht-Habenden ab. Die „antisozialen Medien“ – O-Ton Prim. Dr. Georg Psota – verstärken diese Unarten. Bröckelt die Solidarität, wird es ernst. „Es ist uns ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass Unterstützung und Kooperation die Basis für eine gesunde Gesellschaft darstellen und ein Gebot der Stunde sind, um sozialen Frieden und eine gelingende Krisenbewältigung zu ermöglichen“, sagt Psota. Er ist Chefarzt des Kuratoriums für psychosoziale Dienste in Wien. „Praktisch alle Umfrageergebnisse und Untersuchungen der vergangenen Jahre zeigen, dass in den verschiedenen Krisen unsere Psyche gelitten hat und zumindest ein Drittel der Bevölkerung gefährdet bis tatsächlich psychisch erkrankt ist. Auch hier gilt: Die Psyche derjenigen, die schon vorher eine angeschlagene seelische Gesundheit hatten, hat noch mehr gelitten.“ Was also tun? Die Basis für ein stabiles Leben schaffen. „Dieses bekommt man aber in der heutigen Zeit nur, wenn man gut ausgebildet ist und eher Vollzeit arbeitet. Um dies für möglichst viele Menschen erreichbar zu machen, müssen massive Bildungsoffensiven geschaffen werden“, sagt Dr. Günter Klug, Präsident von pro mente Austria. Lebenslänge und Lebensqualität werden maßgeblich durch vier Faktoren beeinflusst: das Gesundheitsverhalten (30 %), die klinische Versorgung (20 %), soziale und ökonomische Faktoren (40 %) sowie die physische Umgebung (10 %). Um den bedeutendsten Punkt 3 ging es am Tag der psychischen Gesundheit, am 10. Oktober ganz besonders.
Wir laufen Gefahr, den sozialen Kitt zu verlieren
Priv.-Doz. Dr. Günter Klug, Präsident von pro mente Austria
Carina Ott
„Untersuchungen der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zeigen, dass in Ländern, in denen die Schere zwischen Arm und Reich sehr groß ist, alle – sowohl Arme als auch Reiche – an Lebensqualität verlieren, da der gesellschaftliche Zusammenhalt und der soziale Friede verloren gehen. Wir leben in einem Land, das traditionell einen hohen gesellschaftlichen Zusammenhalt hatte. Durch viele Entwicklungen in unserer sich massiv verändernden Gesellschaft laufen wir aber Gefahr, diesen nachhaltig zu verlieren. Zu den Treibern dieser Entwicklungen gehören Veränderungen am Arbeitsmarkt – immer mehr Ausbildung und Flexibilität werden nötig –, der zunehmend ungleiche Zugang zu Bildung, zunehmend ungleich verteilte Chancen durch nicht ausreichende Unterstützung für ein teilhabendes Leben, Veränderung der Altersstruktur – immer mehr Ältere – sowie soziale Netzwerke mit ihren Algorithmen, die nur mehr die eigene Meinung bestätigen, Meinungsvielfalt verengen und damit Vorurteile massiv schüren.
Dazu kommen multiple Krisen, die Ängste aktivieren, den Fokus auf das eigene Wohlergehen verstärken, wodurch das Gemeinwohl an Gewicht verliert. In Summe führt das dazu, dass der langfristige Druck und damit auch der chronische Stress für jeden steigen. Je mehr Problembereiche eine Person hat, desto schlimmer werden Druck und Stress. Es ist ganz klar bewiesen, dass chronischer Stress körperlich und seelisch krank macht. Hier geht es nicht um Befindlichkeitsstörungen, sondern um weit mehr: Krebserkrankungen, Infektionen, Schlaganfälle, Herz-Kreislaufprobleme, Diabetes etc. und mehr Angsterkrankungen, Depressionen, Sucht und Suizid können durch chronischen Stress getriggert bzw. bedingt sein. Was sind die Gründe für diese Belastungen? Armut gehört zu den wichtigsten Faktoren. Wer keinen Job hat, wer Probleme hat, sich Wohnen und ausreichende Ernährung leisten zu können, ist in seinen sozialen Möglichkeiten massiv eingeschränkt. Herrscht hier Mangel, führt dies zu Rückzug, Hoffnungslosigkeit und Scham und damit direkt zu Einsamkeit. Wenn dann auch noch massive private Probleme dazukommen oder die Neigung zu einer psychischen Problematik vorhanden ist oder bereits eine psychische Problematik besteht, wird es dramatisch, da sich die Belastungen potenzieren. Stigmatisierung und Scham führen zu Rückzug mit körperlichen und psychischen Folgen. Es beginnt ein Circulus vitiosus: Probleme machen krank, und Krankheit macht Probleme.“
Priv.-Doz. Dr. Günter Klug, Präsident von pro mente Austria
Das Erfolgsgeheimnis der Menschen ist die Kooperation
Prim. Dr. Georg Psota, Chefarzt des Kuratoriums für psychosoziale Dienste in Wien (PSD)
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„Das Jahr 2020 hat unter anderem den ,Unbegriff’ des Jahrzehnts hervorgebracht, welcher erfreulicherweise mittlerweile weniger oft in Erscheinung tritt. Er lautet: social distancing!
Dabei ging es auch in den schlimmsten Zeiten der Corona-Pandemie niemals um ein soziales Distanzieren, schon gar nicht um ein emotionales Distanzieren, sondern es ging immer und einzig und allein um ein körperliches Distanzieren. Unser soziales Ich ist allerdings sehr stark daran gewöhnt, körperliche Nähe in verschiedensten sozialen Situationen anzuwenden – etwa beim Händedruck, bei der Umarmung und in vielen anderen Situationen. Selbstverständlich geht soziale Nähe leichter bei körperlicher Nähe, aber Spiegelneuronen funktionieren auch über große räumliche Distanzen, und gerade in krisenhaften Zeiten sind Empathie und ein gedeihliches Miteinander die Mittel der Wahl.
Es ist eine menschliche Eigenheit, die Yuval Noah Harari in seinem Buch ,Eine kurze Geschichte der Menschheit’ wunderbar beschrieben hat: die soziale Kooperation.
Diese Eigenheit betrachtet und erklärt er als das Erfolgsgeheimnis des Menschen auf diesem Planeten. Es beruht auf seinen sozialen Fähigkeiten, ganz besonders darauf, sogar in sehr großen Gruppen gemeinsam zu handeln, eine gemeinsame Idee und sogar Geschichte zu entwickeln, an sie zu glauben und sie gemeinsam zu erzählen.
Natürlich gibt es auch Störfaktoren, die gegen die große Chance der sozialen Kooperation wirken. Und in gewissem Sinne haben es diese Gegenkräfte heute leichter denn je. Die sozialen Medien – die ich gerne als die antisozialen Medien bezeichne – sind ein Ort der völlig haltlosen Behauptungen, der völlig verlogenen Propaganda und zahlloser seltsamer Verschwörungstheorien, die einem Psychiater schon aufzeigen, wie nah der menschlichen Psyche der Wahn liegt.
Zurück zur sozialen Kooperation als große Chance: Eine groß angelegte und 2010 in der Zeitschrift PLOS Medizin publizierte Studie zeigte auf, dass soziale Integration und sozialer Support stärkere Gegengewichte zur Sterblichkeit sind, als mit dem Rauchen aufzuhören – so lange es unter 15 Zigaretten/ Tag sind. Nicht nur damit ist gut belegbar, dass soziale Kooperation und Integration gesundheitsfördernd wirken, und zwar letztlich für uns alle. Sozialer Support und soziale Integration sind gesund für unsere Psyche und unser körperliches Wohl.“
Prim. Dr. Georg Psota, Chefarzt des Kuratoriums für psychosoziale Dienste in Wien (PSD)
Kinder und die Gesellschaft zahlen einen hohen Preis
Prof. Dr. Kai von Klitzing, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Leipzig
Stefan Straube / UKL
„Die Corona-Pandemie hat auf das Problem der Kindesvernachlässigung wie ein Brennglas gewirkt. Besonders in der ersten Phase der Pandemie wurden bald die Kindergärten und Schulen geschlossen. Auch die Jugendämter und Sozialdienste stellten zeitweise ihre Hausbesuche ein. Die Kinder durften sich ja noch nicht einmal auf dem Pausenhof treffen, wo man ihnen wenigstens eine warme Mahlzeit hätte anbieten können. Schon gesunde Kinder haben darunter gelitten.
Diejenigen, die in einem vernachlässigenden Milieu leben, waren ganz auf sich gestellt. Nach der Wiedereröffnung haben wir dann in unseren Ambulanzen Kinder und Jugendliche gesehen, deren eh schon schlechte soziale Situation sich dramatisch zugespitzt hatte. Gleichzeitig waren unsere Behandlungsmöglichkeiten durch die coronabedingten Kontaktregeln reduziert. Wir müssen diesen Auswirkungen im weiteren Pandemieverlauf und bei künftigen Pandemien einfach mehr Rechnung tragen. Welchen Effekt der Krieg in der Ukraine auf die Kinder hat, ist noch nicht wirklich abzusehen.
Bei steigender Kriegsgefahr zeigt sich beispielsweise eine Zunahme von Angstsymptomen vor allem bei den Kindern, die ihre Sorgen nicht mit fürsorglichen Eltern teilen können. Die Kinder, die selbst im Krieg leben oder mit ihren Familien vor dem Krieg fliehen müssen, sind besonders betroffen.
Sicher ist die Sensibilität gegenüber psychischen Problemen von Kindern höher geworden. Die Bereitschaft, Kinder in ihrer Bedürftigkeit, aber auch in ihrem seelischen Leiden wahrzunehmen und ihnen zu helfen, ist zwar gestiegen. Trotzdem findet sich unsere Gesellschaft damit ab, dass mehr als zehn Prozent unserer Kinder nach wie vor in misshandelnden Lebensbedingungen aufwachsen. Die Kinder zahlen dafür einen hohen Preis, nämlich ein deutlich erhöhtes, lebenslanges psychisches und körperliches Krankheitsrisiko. Aber auch die Gesellschaft zahlt dafür einen Preis in Form von erhöhtem Suchtmittelkonsum, Kriminalität, verschwendeten menschlichen Ressourcen und vermindertem Zusammenhalt.“
Prof. Dr. Kai von Klitzing, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Leipzig