Skip to main content
Erschienen in:

Open Access 11.11.2024 | Reizdarm | Journal Club

Neuromodulation bei Reizdarmsyndrom – jetzt auch beim Hausarzt

verfasst von: Prof. Dr. med. Daniel Pohl

Erschienen in: Schweizer Gastroenterologie | Ausgabe 4/2024

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Originalpublikation
Ford AC, Wright-Hughes A, Alderson SL et al (2023) Amitriptyline at low-dose and titrated for irritable bowel syndrome as second-line treatment in primary care (ATLANTIS): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet 402:1773–1785. https://​doi.​org/​10.​1016/​S0140-6736(23)01523-4
Hintergrund.
Das Reizdarmsyndrom (RDS) oder „irritable bowel syndrome“ (IBS) ist eine häufige chronische Darmerkrankung aus dem Formenkreis der DGBI („disorders of gut-brain interaction“), die durch Bauchschmerzen und veränderte Stuhlgewohnheiten gekennzeichnet ist. Obwohl die NICE-Richtlinien die Verwendung von trizyklischen Antidepressiva wie Amitriptylin bei unzureichendem Ansprechen auf Erstlinientherapien empfehlen, gibt es bisher nur begrenzte Belege für ihre Wirksamkeit in der Primärversorgung. Die meisten früheren Studien wurden in spezialisierten Einrichtungen durchgeführt, in denen die Patienten häufig schwerere und komplexere Symptome aufweisen, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Primärversorgung einschränkt. Die diskutierte ATLANTIS(Amitriptyline at Low-Dose and Titrated for Irritable Bowel Syndrome as Second-Line Treatment in primary care)-Studie untersucht den Einsatz von niedrig dosiertem Amitriptylin in der Primärversorgung.
Methoden.
  • Die randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Phase-3-Studie wurde in 55 Allgemeinpraxen in 3 Regionen Englands (West Yorkshire, Wessex und Westengland) durchgeführt.
  • Sie umfasste aus einer Studienanfrage, die an 15.672 Patienten gesendet wurde, 463 erwachsene Patienten (Durchschnittsalter: 48,5 Jahre, 68 % Frauen) mit nach den Kriterien von Rom IV diagnostiziertem Reizdarmsyndrom, die trotz Erstbehandlung wie Ernährungsumstellung und Medikamenten anhaltende Symptome hatten. Zum Einschluss der Patienten war eine mindestens mild-moderate Symptombelastung gefordert, gemessen mit dem IBS-Severity Scoring System (IBS-SSS), mit einem Wert von mindestens 75 Punkten.
  • Die Studienteilnehmenden erhielten nach dem Zufallsprinzip entweder niedrig dosiertes Amitriptylin (10 mg täglich, erhöht auf bis zu 30 mg mittels Selbsttitration basierend auf Nebenwirkungs‑/Wirkungsprofil) oder ein Placebo über einen Zeitraum von 6 Monaten. Die Dosisanpassung erfolgte auf der Grundlage der Verträglichkeit und der Symptomreaktion.
  • Der primäre Endpunkt war die Veränderung des IBS-SSS nach 6 Monaten. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die subjektive globale Bewertung (SGA) der Symptomlinderung und die Auswirkungen auf somatische Symptome, Angst- und Depressionswerte sowie die soziale Funktionsfähigkeit.
Ergebnisse.
  • Amitriptylin führte im Vergleich zur Placebogruppe zu einer signifikanten Verringerung der Schwere der Reizdarmsyndrom-Symptome. Der durchschnittliche Unterschied beim IBS-SSS nach 6 Monaten betrug −27,0 Punkte (95 % Konfidenzintervall −46,9 bis −7,1; p = 0,0079), was auf eine bessere Linderung der Symptome hindeutet.
  • Die subjektive globale Bewertung der Symptomlinderung (SGA) zeigte, dass 61 % der Patienten in der Amitriptylin-Gruppe eine Linderung ihrer Symptome angaben, verglichen mit 45 % in der Placebo-Gruppe (Odds-Ratio 1,78; 95 % KI 1,19−2,66; p = 0,0050).
  • Eine ausreichende Linderung der Symptome für mindestens 50 % der Wochen während der 6 Monate wurde bei 41 % der Patienten in der Amitriptylin-Gruppe und bei 30 % der Patienten in der Placebo-Gruppe erreicht (p = 0,0008).
  • Unter Amitriptylin traten häufiger Nebenwirkungen auf, was auf die bekannten anticholinergen Wirkungen des Medikaments zurückzuführen ist. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehörten Mundtrockenheit (54 %), Schläfrigkeit (53 %) und Verstopfung (56 %), die jedoch meist nur leicht ausgeprägt waren. Die Abbruchrate aufgrund von Nebenwirkungen war in der Amitriptylin-Gruppe (13 %) etwas höher als in der Placebo-Gruppe (9 %), wobei die Gesamtabbruchrate in der Placebo-Gruppe numerisch höher als in der Verum-Gruppe war (26 % vs. 20 %).

Kommentar zur Studie

Diskussion.
Die ATLANTIS-Studie ist die bisher grösste Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit eines trizyklischen Antidepressivums bei Reizdarmsyndrom und die erste, die ausschliesslich in der Primärversorgung durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass niedrig dosiertes Amitriptylin (10–30 mg täglich) bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, die nicht ausreichend auf Erstbehandlungen ansprechen, wirksamer ist als ein Placebo. Das Medikament verbesserte mehrere symptomatische Endpunkte und wurde von den meisten Patienten gut vertragen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Nutzen von Amitriptylin bei der Behandlung von IBS eher auf seine peripheren Effekte auf die Darmmotilität und das Schmerzempfinden zurückzuführen ist als auf Verbesserungen bei psychischen Symptomen wie Angstzuständen oder Depressionen. Die Studie zeigte während des 6‑monatigen Behandlungszeitraums keine signifikante Wirkung auf somatische Beschwerden oder Angst- und Depressionswerte. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Studie ist die längere Behandlungsdauer von 6 Monaten, die über die in den meisten Medikamentenstudien für RDS üblichen 12 Wochen hinausgeht. Dies entspricht den Empfehlungen der Europäischen Arzneimittel-Agentur für Behandlungsstudien bei RDS und liefert realistischere Daten zur langfristigen Wirksamkeit von Amitriptylin bei einer chronischen Erkrankung wie RDS. Da über 80 % der Studienteilnehmer ein RDS vom Subtypus Diarrhoe oder gemischt (IBS‑D, IBS-M) aufwiesen, ist die Effektivität bei Patienten mit unklassifizierbarem oder obstipiertem Reizdarm (IBS‑U, IBS-C) schwerer zu beurteilen.
Schlussfolgerung.
Die Ergebnisse der ATLANTIS-Studie unterstützen die Verwendung von niedrig dosiertem Amitriptylin als sichere und wirksame Zweitbehandlung bei Reizdarmsyndrom in der Primärversorgung. Allgemeinmediziner sollten Amitriptylin bei Patienten mit Reizdarmsyndrom in Betracht ziehen, die nicht ausreichend auf Erstbehandlungen ansprechen. Eine angemessene Unterstützung bei der Anpassung der Dosierung, wie sie in der Studie als Selbsttitrationsdokument angeboten wird, ist hilfreich, um die Akzeptanz und Wirksamkeit der Behandlung zu maximieren. Darüber hinaus sollten zukünftige Leitlinien diese Erkenntnisse berücksichtigen und aktualisiert werden, um die Verwendung von trizyklischen Antidepressiva als Behandlungsoption für IBS-Patienten in der Primärversorgung zu stärken.

Interessenkonflikt

D. Pohl gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
Metadaten
Titel
Neuromodulation bei Reizdarmsyndrom – jetzt auch beim Hausarzt
verfasst von
Prof. Dr. med. Daniel Pohl
Publikationsdatum
11.11.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schweizer Gastroenterologie / Ausgabe 4/2024
Print ISSN: 2662-7140
Elektronische ISSN: 2662-7159
DOI
https://doi.org/10.1007/s43472-024-00146-5