In den letzten Jahren ist der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung spürbar angestiegen und Prognosen sagen voraus, dass diese Entwicklung weiter anhalten wird. Dadurch ist naturgemäß auch der Anteil geriatrischer Patient:innen in der Gesamtpopulation relevant angestiegen. Da geriatrische Patient:innen häufiger unter chronischen Schmerzen leiden, ist es wichtig, sich mit dieser Patientengruppe und deren schmerzmedizinischer Versorgung im perioperativen Setting gezielt auseinander zu setzen.
Geriatrische Patient:innen
Geriatrische Patient:innen sind definiert durch Multimorbidität und höheres Lebensalter (über 70 Jahre) oder als Alter über 80 Jahre. Von großer Bedeutung in dieser Altersklasse ist die erhöhte Gefahr des Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen, einer Chronifizierung, vergesellschaftet mit dem Risiko des Verlustes von Autonomie und Selbsthilfefähigkeit [
1].
Geriatrische Patient:innen sind somit aufgrund altersbedingt reduzierter Reservekapazitäten und/oder grenzwertig kompensierter Funktionseinschränkungen Hochrisikopatient:innen. Bereits durch relativ banale Erkrankungen oder Minimalveränderungen im persönlichen Umfeld sind sie gefährdet, wesentliche Einbußen der bisherigen Selbstständigkeit zu erleiden bzw. in Pflegeabhängigkeit zu geraten.
Geriatrische Patient:innen mit bestehender Multimorbidität sind durch eine höhere Komplikationsrate sowie eine reduzierte Spontanrekonvaleszenz gefährdet und benötigen eine entsprechende (Früh‑)Rehabilitation.
Die demografischen Prognosen sagen voraus, dass der Anteil der über 65-Jährigen in der EU-27-Population 2030 ca. 25 % betragen wird, 2060 bereits 30 %. Die über 80-Jährigen werden 2030 ca. 7 % der Gesamtbevölkerung bilden, bis 2060 wird deren Anteil auf mehr als 12 % ansteigen. Somit gilt die Bevölkerungsgruppe 80+ als die am schnellsten wachsende Altersgruppe [
2].
Es ist belegt, dass mit dem zunehmenden Alter auch die Prävalenz von Schmerz, vor allem die Rate chronischer Schmerzen, zunimmt. Circa 50 % der älteren Menschen leiden an Schmerzen, in Pflegeheimen sind es über 80 %. Am häufigsten sind die Schmerzen aufgrund einer Arthrose oder Osteoporose bzw. aufgrund anderer Erkrankungen den Bewegungsapparat betreffend oder durch Tumoren verursacht. Aber auch neuropathische Schmerzen, wie zum Beispiel bei Post Zoster-Neuralgie, Polyneuropathie, nach Insult oder Amputation nehmen zu. Aufgrund von Schmerzen führt die zunehmende Immobilität zu einem Verlust an Muskelmasse, wodurch ein erhöhtes Risiko für Stürze gegeben ist. Dadurch droht die Gefahr des Verlustes der Selbstständigkeit und der Entwicklung einer depressiven Stimmungslage [
3].
Daher ist es das Ziel der schmerztherapeutischen Versorgung geriatrischer Patient:innen, neben der Schmerzlinderung durch ein multimodales, multidisziplinäres Behandlungsregime und der Prävention von Komplikationen, die Vermeidung einer Schmerzchronifizierung (PPSP – persistent post surgical pain), die Verbesserung der Lebensqualität sowie den Erhalt der Selbstständigkeit zu erreichen [
4].
Physiologische Veränderungen im Alter
Die Schmerztherapie geriatrischer Patient:innen gestaltet sich herausfordernd, da sie die altersspezifischen funktionellen Defizite sowie physiologische und psychische Veränderungen beachten muss, die eine Abnahme der Kompensationsmechanismen bedingen. Die biophysikalischen Veränderungen bei älteren Patient:innen erhöhen das Risiko einer medikamentösen Schmerztherapie aufgrund möglicher auftretender Nebenwirkungen. Von großer Bedeutung ist diesbezüglich ein progredienter Verlust wichtiger Organfunktionen [
5].
Die geriatrischen Patienten haben eine veränderte Pharmakokinetik und Pharmakodynamik mit häufig verminderter Nieren- und Leberfunktion aufgrund einer verminderten Organperfusion, eine verlangsamte Magenentleerung sowie einen sinkenden Stoffwechsel. Es kommt zur Veränderung der Verteilungsvolumina mit einem höheren Fett- und einem niedrigeren Wasseranteil, zu Proteinmangelzuständen und verminderter Muskelmasse. Zu beachten sind auch die zumeist vorhanden arteriosklerotischen bzw. kardiovaskulären Veränderungen.
Die Veränderungen der Leber führen zur Verminderung der Metabolisierung von Medikamenten. Es kommt auch zur Verminderung des renalen Blutflusses (ab 50. Lebensjahr ca. 1 % pro Jahr) und der glomerulären Filtrationsrate. Insgesamt ist der Abbau und die Ausscheidung einiger Medikamente relevant beeinträchtigt. Durch verminderten Körperwasseranteil kommt es zur höheren Plasmakonzentration hydrophiler Medikamente, durch höheren Fettanteil zur verzögerten Elimination lipophiler Medikamente. Da auch Plasmaalbumin reduziert ist, steigt der Anteil nichtgebundener Medikamente, weswegen ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko gegeben ist [
6].
Tab.
1 zeigt das Ausmaß der physiologischen Veränderungen bei über 75-Jährigen (in %) im Vergleich zu 30-Jähringen (entspricht 100 %) [
6].
Tab. 1
Ausmaß der physiologischen Veränderungen bei über 75-Jährigen (in %) im Vergleich zu 30-Jähringen (entspricht 100 %). (Quelle: Modifiziert nach Herminghaus et al. 2012 [
6])
Gesamt-Körperwasser | −18 |
Muskelmasse | −30 |
Mineralgehalt der Knochen | −30 (Frauen)/−15 (Männer) |
Maximale Dauerbelastung | −30 |
Maximale kurzfristige Spitzenleistung | −60 |
Grundstoffwechsel | −16 |
Gehirngewicht | −44 |
Regulationsgeschwindigkeit des Blut-pH | −83 |
Herzschlagvolumen in Ruhe | −50 |
Renaler Blutfluss | −50 |
Vitalkapazität | −44 |
Aus den genannten Gründen gestalten sich Schmerztherapie und Narkoseführung bei geriatrischen Patient:innen viel komplexer als bei jüngeren Patient:innen.
Generell muss man davon ausgehen, dass die Arzneistoffe im Alter längere Halbwertszeiten haben und bei nicht angepasster Dosierung kumulieren können.
Herausfordernd bei dieser Patientengruppe ist die zumeist bestehende Multimorbidität. Am häufigsten handelt es sich um Probleme des Herzkreislaufsystems, Veränderungen der Lungen‑, Nieren‑, Leberfunktion, Diabetes mellitus und Krebserkrankungen. Daraus folgt eine mögliche Polymedikation, die zu Interaktionen mit unerwünschten Nebenwirkungen führen kann. Auch körperliche Schwäche, kognitive Defizite, Demenz bzw. Insult wirken erschwerend. Viele geriatrische Patient:innen zeigen auch das klinische Bild einer Depression [
7].
Daher wird bei geriatrischen Patient:innen prinzipiell ein individuell angepasster, balancierter, multimodaler, multidisziplinärer perioperativer Therapieansatz angewendet, wobei neben der medikamentösen Therapie und invasiven regionalanästhesiologischen Behandlungsmöglichkeiten auch nichtinvasive Verfahren wie Akupunktur, TENS sowie bewegungstherapeutische, psychologische und pflegerische Interventionen eine Rolle spielen.
Wenn sich geriatrische Patient:innen einer Operation unterziehen müssen, sind besondere Vorsicht und Sorgfalt in der schmerztherapeutischen Betreuung dieser Patient:innen im perioperativen Setting anzuwenden [
8].
Präoperative Betreuung
Von der Notwendigkeit einer Operation sind 26–56 % der Patient:innen über 65 Jahre betroffen. Nachdem ab dem 40. Lebensjahr die Leistungsfähigkeit der meisten Organsysteme um 0,5–1 % pro Jahr abnimmt, haben geriatrische Patient:innen insgesamt ein erhöhtes Risiko für peri-/postoperative Komplikationen.
Mit dem 70. Lebensjahr ist die körperliche Leistungsfähigkeit um 60 % vermindert und die Vitalkapazität fast halbiert. Die Phase-I-Elimination von Pharmaka ist deutlich verlängert. Veränderungen des Blut-pHs und eine Hypothermie werden nur noch verzögert kompensiert. Dies sind, zusammen mit dem reduzierten Atemantrieb und der verminderten Oxygenierungsfunktion der Lunge, die altersspezifischen Herausforderungen während der Anästhesie. Die Erholung verläuft oft verzögert und die Restitutio ad integrum wird nicht immer erreicht.
Daher muss bei geriatrischen Patient:innen eine Morbiditäts- und Mortalitätsprävention bereits präoperativ erfolgen. Allerdings hängen Morbidität und Mortalität weniger vom Alter, sondern in erster Linie von der Gebrechlichkeit (Frailty) und den Begleiterkrankungen ab. Frailty ist definiert als ungewollter Gewichtsverlust, herabgesetzte Gehgeschwindigkeit, ein subjektives Gefühl der Erschöpfung oder Schwäche beziehungsweise niedrige Handkraft sowie verminderte körperliche Aktivität. Auch die Sarkopenie (altersbedingter Muskelmasseverlust) steigt an. Rund 10 % der über 65-Jährigen gelten als frail, bei den über 80-Jährigen sind es bis zu 50 %. Eine Erhebung mittels „Mini-Mental-Status-Test“ zur Beurteilung möglicher postoperativer kognitiver Leistungseinschränkungen (Frailty-Assessment) ist empfohlen [
9].
Die präoperative Evaluation soll mit gezielter Diagnostik und nicht als „Alltagsroutine“ erfolgen. Es soll gezielt nach den Risiken gesucht und sinnloser Aufwand vermieden werden [
10]. Zum geriatrischen Assessment gehören neben der Erhebung der körperlichen Funktionsfähigkeit eine Anamnese zur Evaluierung der aktuell vorrangigen Diagnose, möglicher Begleiterkrankungen, laufender Therapien, kognitiver Beeinträchtigung, von Stimmung und Schlaf sowie die Identifikation und mögliche Reduktion einer Polymedikation.
Multimorbidität bei älteren Patient:innen ist verbreitet, sie besteht bei ca. 73 % der über 80-Jährigen. Nahezu 20 % der über 65-Jährigen mit Multimorbiditäten nehmen 10 oder mehr Medikamente. Multimorbidität verändert Nutzen und Risiko einer Schmerztherapie. Daher sollen, wenn zeitlich möglich (bei elektiven Operationen), Organinsuffizienzen und Begleiterkrankungen präoperativ abgeklärt und entsprechend optimiert werden (zum Beispiel mittels Atemtherapie, Korrektur von Anämie und Mangelernährung, Therapie von Komorbiditäten). Kritisch zu sehen sind auch marginal erniedrigte präoperative Sauerstoffsättigungswerte. Diese sind mit einer signifikant schlechteren postoperativen Prognose korreliert [
11].
Nüchternheitsregeln sollen befolgt werden, wobei man präoperativen Volumenmangel vermeiden und auf möglichst kurze Nüchternzeiten achten soll.
Bezüglich Prämedikation haben mehrere Studien nachgewiesen, dass die präoperative Gabe vom Midazolam eine schlechtere kognitive Erholung im Aufwachraum verursacht. Außerdem gibt es verlängerte Extubationszeiten und keinen Vorteil hinsichtlich der Patient:innenzufriedenheit [
12]. Daher sollen Benzodiazepine nur in Ausnahmefällen, bei bekanntem Alkoholabusus, Abhängigkeit bzw. „highly anxious patients“, als Prämedikation zur Anwendung kommen.
Intraoperative Betreuung
Die Betreuung der geriatrischen Patient:innen soll intraoperativ mit besonderer Aufmerksamkeit durchgeführt werden [
13]. Die verminderte kardiale Reserve und verlängerte Kreislaufzeiten führen zur erhöhten Anfälligkeit für Hypotension und kardiale Ischämien. Veränderung im respiratorischen System mit Obstruktion der oberen Atemwege, Verminderung der Einsekundenkapazität (FEV
1) und der forcierten Vitalkapazität (FCV), Atrophie der Muskulatur und Elastizitätsverlust des Bindegewebes sowie schmerzbedingte Schonatmung führen zur erhöhten Hypoxie- und Aspirationsgefahr.
Die Verminderung der Größe der Neuronen und Synapsenzahl im Nervensystem führt zur Einschränkung geistiger Fähigkeiten („age-related cognitive decline“). Insgesamt steigt die Gefahr einer postoperativen kognitiven Dysfunktion (POCD) und eines postoperativen Delirs (POD). Als POD wird eine akute, meist reversible Organdysfunktion mit fluktuierenden Symptomen, u. a. Unruhe, Orientierungslosigkeit, Halluzinationen, die bis zu 5 Tage nach Operation auftreten können. Tab.
2. zeigt peri- und postoperative Risikofaktoren für die Entwicklung eines POD [
14,
15].
Tab. 2
Risikofaktoren für die Entwicklung eines postoperativen Delirs. (Quelle: Modifiziert nach Kleinschmidt 2010 [
14] und Spies et al. 2019 [
15])
Seheinschränkungen | 1,70 (1,01–2,85) |
Polypharmazie > 7 Medikamente | 1,90 (1,11–3,24) |
Dehydration | 2,02 (0,72–5,64) |
Elektrolytstörungen | 2,40 (1,09–5,27) |
Depressionen | 2,43 (0,93–6,35) |
Blasenkatheter in situ | 2,70 (1,44–5,05) |
Infekt | 2,96 (1,42–6,15) |
Alter über 65 Jahre | 3,03 (1,19–7,71) |
Schweregrad der Erkrankung | 3,49 (1,48–8,23) |
Alter über 80 Jahre | 5,22 (2,61–10,44) |
Kognitive Einschränkung | 6,30 (2,98–13,74) |
Fraktur bei Einweisung | 6,57 (2,23–19,33) |
Aufgrund physiologischer Leistungseinbußen der Organe ist bei geriatrischen Patient:innen mit einer erhöhten Rate an Medikamentenneben- und -wechselwirkungen zu rechnen. Das gilt auch für die meisten in der Anästhesie und Analgesie eingesetzten Substanzen. Narkoseführung und Auswahl der Substanzen müssen daher an das Alter angepasst werden [
16].
Das Alter hat erheblichen Einfluss auf die Wirkung von Propofol, daher soll die Einleitungsdosis um 25–50 % reduziert werden. Es muss auch die verlängerte Halbwertszeit (HWZ) von Propofol bei geriatrischen Patient:innen berücksichtigt werden. Sie beträgt bei Jugendlichen etwa 10 min (nach 1 h totaler intravenöser Anästhesie [TIVA]), bei geriatrischen Patient:innen dagegen 30 min. Das Opioid Remifentanil ist von diesem Effekt kaum betroffen. Praktisch bedeutet dies, dass bei älteren Patient:innen auf das Narkosetiefe-Monitoring (wie Bispektralindex [BIS]) zurückgegriffen werden muss. Auch bei inhalativen Narkosen ist sie notwendig. Da der intraoperativ notwendige MAC-Wert (minimale alveoläre Konzentration) der inhalativen Anästhetika um 0,6 % pro Lebensjahr sinkt, verursacht eine Dosisreduktion zwar weniger hämodynamische Nebenwirkungen, birgt aber die Gefahr einer Awareness.
Das alte Gehirn reagiert empfindlicher auf Opiate, daher sollte auch hier die Dosis reduziert werden. Bei Muskelrelaxanzien kommt es zum verzögerten Wirkeintritt, die Wirkdauer ist verlängert mit großer Variabilität, daher sollte eine entsprechende Dosisreduktion und Verlängerung der Nachinjektionsintervalle durchgeführt werden. Eine verlängerte Dauer der Relaxierung macht ein neuromuskuläres Monitoring notwendig, da ein Overhang unbedingt vermieden werden muss.
Das intraoperative Monitoring muss die größere hämodynamische Labilität dieser Patient:innen berücksichtigen. Die Indikation zur arteriellen Blutdruckmessung und einem zentralen Venenkatheter (ZVK) soll großzügig gestellt werden.
Das intraoperative Management ist im Prinzip einfach, es sollen alle Werte im Normbereich gehalten werden [
17]:
1.
Normoventilation mit Normokapnie.
2.
Physiologischer Wasser-Elektrolyt-Haushalt.
3.
Normovolämie anstreben, keinesfalls Hypervolämie zulassen.
4.
Normothermie anstreben, da die Zeit bis zur Wiedererwärmung verlängert ist und die Gefahr perioperativer Hypothermie besteht. Damit sind potenzielle kardiovaskuläre, hämorrhagische und entzündliche Komplikationen, ein erhöhtes POD-Risiko und eine verlängerte Krankenhausverweildauer verbunden. Daher sind ein großzügiges Prewarming, intraoperative Wärmemaßnahmen, intraoperative Temperaturmessung mit dem Zielwert 36,5–37 °C gefragt.
5.
Ein Overhang von Prämedikation, Anästhetika, Opioiden, Relaxanzien muss vermieden werden. Zu tiefe Narkosen mit Burst-Suppression-EEG ist ein unabhängiger Risikofaktor für postoperatives Delir (POD). Daher sollen möglichst kurzwirksame Medikamente mit angepasster Dosis und Titration meistens per Perfusor verwendet werden [
18].
6.
Blutdruck-Zielwerte sollen sich an dem „Hausblutdruck“ orientieren, ein Abfall > 20–30 % muss vermieden werden. Dies ist immens wichtig, da intra- und postoperative Hypotonie (systemischer arterieller Druck [SAP] < 100 mm Hg) ein zweifach erhöhtes Risiko für Schlaganfall und ein 1,33-fach erhöhtes Risiko für Tod bewirkt (Perioperative Ischemic Evaluation-POISE Study). Eine Subgruppeanalyse geriatrischer Patient:innen zeigte den Anstieg der Letalität, wenn intraoperativ länger dauernde Hypotonien bestanden. Ein mittlerer arterieller Druck (MAP) < 55 mm Hg für 1–5 min bewirkt ein erhöhtes Risiko für Niereninsuffizienz und Myokardinfarkt. So genannte „double low“ – MAP < 75 mm Hg und BIS < 45 – gehen mit einer verdoppelten Sterblichkeit einher [
19].
Patient:innen sollen daher mit zusätzlichen Neuromonitoring, BIS/Narcotrend, wenn verfügbar auch Analgesiemonitoring wie NOL (Nociception Level Index) oder ANI (Analgesia Nociception Index), umfassend überwacht werden.
Als Alternative zur Vollnarkose stehen bei entsprechenden Indikationen regionale bzw. rückenmarksnahe Verfahren zur Verfügung. Alle Regionalverfahren sind bei entsprechender Indikation durchführbar mit dem Vorteil einer postoperativ weitergeführten Schmerztherapie. Bei peripheren Blockaden ist meistens die Anschlagzeit verkürzt und die Dauer der Blockade verlängert.
Rückenmarksnahe Verfahren wie kombinierte Spinal-Epidural-Anästhesie (CSE) oder Periduralkatheter (PDK) sind aufgrund degenerativer Veränderungen häufig erschwert. Studien haben gezeigt, dass es bei rückenmarksnahen Verfahren bei gleicher Dosierung im Vergleich zu jüngeren Patient:innen zur einer Blockade 3–4 Segmente höher kommt, weil die Dura altersbedingt durchlässiger ist. Daher ist eine Dosisreduktion ebenso notwendig wie eine engmaschige Überwachung. Mögliche Probleme beinhalten eine verstärkte Sympathikolyse mit resultierender Hypotonie, daher sind ein präoperativer Ausgleich von Volumenmangel und ein frühzeitiger Einsatz vasoaktiver Substanzen notwendig.
Die Studien bezüglich Regionalanästhesie in der Traumatologie bei geriatrischen Patient:innen mit ASA > 3 zeigten postoperativ weniger Delir, weniger fatale Lungenembolie, weniger tiefe Venenthrombosen (TVTs), und eine knapp signifikant geringere Krankenhaus-Mortalität im Vergleich zur Allgemeinanästhesie [
20]. Anderseits stellt eine rezente Studie fest, dass bei Spinalanästhesie im Vergleich zur Allgemeinanästhesie kein Benefit bezüglich postoperativen Delirs gezeigt werden konnte [
21].
Postoperative Betreuung
Die postoperative Betreuung dient einer schnellen Erholung und Wahrung der Autonomie. Daher soll die Indikation zur Betreuung auf der Intermediate Care (IMC)/Intensivstation bei geriatrischen Patient:innen großzügig gestellt werden, da diese Patient:innen signifikant von den intensiveren personellen Behandlungen profitieren.
Eine suffiziente und rasche perioperative Schmerztherapie ist das zentrale Thema, mit möglichst sparsamer Opioidgabe. Diese kann – und soll, wann immer möglich – durch Regionalanalgesie unterstützt werden. Diese ist von großem Vorteil, vor allem dann, wenn keine Opiate gegeben werden sollten. Regionalanästhesie bietet vor allem in den ersten postoperativen Stunden eine optimale Schmerzkontrolle mit weniger Nebenwirkungen.
Wegen des erhöhten Risikos für POD und kognitive Funktionsstörungen sollen funktionelle Hilfen wie Hörgeräte, Brillen oder Zahnprothesen sofort postoperativ zur Verfügung stehen. Bei Möglichkeit soll eine frühzeitige Mitbetreuung durch Angehörige veranlasst werden.
Gefragt sind Fast-Track-Konzepte mit frühzeitigem Kostaufbau und Mobilisation. Schluck‑, Verdauungsstörungen, Harnverhalt, Anämie, Delir sollen suffizient behandelt werden. Zur supportiven analgetischen Behandlungen gehört auch Physiotherapie, pflegerische und physikalische Maßnahmen, Lagerung, Aufmerksamkeit, Empathie und Kommunikation.
Geriatrische Patient:innen profitieren außerdem von der raschen Verlegung auf spezielle geriatrische Stationen [
22].
Postoperative medikamentöse Schmerztherapie
Kombiniertes Stufenschema und supportive Analgesiemaßnahmen sind der Schlüssel für eine Maximierung der Analgesie und Minimierung der Nebenwirkungen. Eine ausführliche Darstellung der Besonderheiten der Schmerztherapie bei geriatrischen Patient:innen bietet ein DFP-Artikel von OÄ Dr. Waltraud Stromer [
23].
Die postoperative medikamentöse Schmerztherapie bei geriatrischen Patient:innen soll vor allem bei Verwendung von Medikamenten mit möglichen zentralnervösen Nebenwirkungen (Opioide, Antikonvulsiva, Antidepressiva) immer mit einer niedrigen Dosis beginnen und langsam hochdosiert werden: „Start slow, go slow!“ Bei bestehender Organdysfunktion muss die Dosis entsprechender Analgetika angepasst werden [
24].
Paracetamol wird in der Leber metabolisiert. Dabei entsteht ein toxischer Metabolit. Und gerade bei kachektischen Patient:innen, bei denen dieser Metabolit durch Glutathion nicht ausreichend neutralisiert werden kann, muss eine Dosisreduktion bzw. auch bei Niereninsuffizienz eine Intervallverlängerung vorgenommen werden. Die maximale Tagesdosierung beträgt 2 g (Standarddosierung in der Geriatrie: 4 × 500 mg/d). Vorsicht bei Alkoholabusus, Herzinsuffizienz, Malnutrition: Hier können schon 2 g/d eine Leberzellnekrose verursachen [
25]. Es ist mittlerweile bekannt, dass Paracetamol in Abhängigkeit von der Dosis das Risiko kardiovaskulärer, gastrointestinaler und auch renaler Nebenwirkungen steigert.
Metamizol, als einer der wichtigsten Vertreter der Pyrazolone, wird von der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) bei akuten und chronischen leichten bis mittelstarken Schmerzen als Mittel der Wahl empfohlen. Nach der aktuellen Studienlage ist das Interaktions- und Nebenwirkungspotenzial von Metamizol als gering anzusehen. Metamizol wird meistens in der Dosierung 4 × 1000 mg (max. Tagesdosis 4 × 1 g) verabreicht. Häufige Nebenwirkungen vor allem bei zu rascher intravenöser Verabreichung sind ein plötzlicher Blutdruckabfall oder Schweißausbrüche. Bei Niereninsuffizienz ist die Dosis zu reduzieren. Eine Agranulozytose ist in Mitteleuropa als selten zu klassifizieren.
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) führen bei alten Patient:innen häufig zu Nierenschäden, Magenulzera und kognitiven Dysfunktionen. Bei NSAR und Coxiben ist aufgrund der gastrointestinalen, kardiovaskulären und renalen Nebenwirkungen besondere Vorsicht geboten [
26]. Präparate mit kurzer Plasmahalbwertszeit werden rascher metabolisiert und eliminiert, was wiederrum das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen verringert. Auf Retardpräparate sollte daher verzichtet werden.
Falls eine Acetylsalicylsäure(ASS)-Therapie besteht, soll ASS 30 min vor oder 8 h nach Ibuprofen eingenommen werden. Eine Kombination von NSAR mit Antikoagulanzien, Kortikosteroiden und selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) erhöht das gastrointestinale Blutungsrisiko. Daher ist die Abschirmung mit Protonenpumpenhemmer notwendig [
27]. Coxibe zeigen eine niedrigere Inzidenz von gastrointestinalen Komplikationen im Vergleich mit NSAR [
28].
Topische NSAR eignen sich zur Therapie lokalisierter, vor allen muskuloskelettaler Schmerzen [
29].
Es konnte gezeigt werden, dass geriatrische Patient:innen einen geringeren Opioidbedarf haben als junge Patient:innen, da die Sensitivität des Gehirns auf Opioide mit dem Alter um bis 50 % zunimmt. Opioide müssen immer vorsichtig titriert werden. Die eingeschränkte Nierenfunktion kann bei diesen Patient:innen zur Akkumulation bestimmter Opioide (Fentanyl, Morphin, Oxycodon, Tramadol) führen, was das Risiko einer opioidbedingten Atemdepression steigert. Daher sind engmaschige Kontrollen empfohlen. Häufige Nebenwirkungen einer Opioidtherapie sind Übelkeit, Erbrechen, kognitive Dysfunktionen und Obstipation. Eine antiemetische Prophylaxe kann anfänglich bis zur Toleranzentwicklung indiziert sein. Eine Obstipationsprophylaxe sollte bei älteren Patient:innen immer verordnet werden. Einen Vorteil von Opioiden im Vergleich zu Nichtopioid-Analgetika stellt die geringere Organtoxizität dar [
30].
Das schwache Opioid Tramadol ist ein Opioidrezeptor-Agonist und hemmt die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. Tramadol kann unerwünschte zentrale serotonerge Effekte auslösen. Im hohen Alter ist die Elimination bei Niereninsuffizienz verzögert. Die Halbwertzeit (HWZ) erhöht sich von 6 auf 12 bis 20 h, daher soll die Dosierung reduziert werden. Bei schweren Leberschäden ist Tramadol nicht empfohlen [
31].
Morphin ist bei Niereninsuffizienz nicht empfohlen, da es zur Kumulation von aktiven Metaboliten (Morphin-6-Glucuronid) kommen kann. Besser geeignet für geriatrische Patient:innen sind die Opioide Hydromorphon oder Buprenorphin. Buprenorphin-TTS ist aufgrund des geringen Wechselwirkungsspektrums für Patient:innen mit einer Vielzahl an Begleitmedikationen ein geeignetes Opioid, das in der Dosierung nicht an die Nierenfunktion adaptiert werden muss. Ausgezeichnet geeignet für geriatrische Patient:innen ist Hydromorphon, aufgrund der geringen Plasmaeiweißbindung und der Cytochrom-unabhängigen Metabolisierung. Bei Nieren- und Leberinsuffizienz ist eine Dosisreduktion nicht notwendig [
32]. Hydromorphon zeigt daher ein geringes Interaktions- und Akkumulationsrisiko.
Koanalgetika
Antikonvulsiva wie Gabapentin und Pregabalin müssen in der Dosierung an die Nierenfunktion angepasst werden. Beide Substanzen werden nicht in der Leber metabolisiert, sondern fast vollständig unverändert durch die Niere ausgeschieden. Somit ist eine Dosisanpassung an die Clearance notwendig. Antikonvulsiva können anfänglich Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel auslösen. Da bei chronischen Schmerzen im Alter fast immer eine neuropathische Komponente vorhanden ist, sind Antikonvulsiva in der Behandlung unverzichtbar. Sie haben einen besonderen Stellenwert im Rahmen der perioperativen Schmerztherapie und in der Vermeidung von chronisch persistierenden neuropathischen Schmerzen.
Auch bei geriatrischen Patient:innen beeinflussen chronische Schmerzen die psychische Verfassung. Daher sind Antidepressiva, vor allem Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) neben den psychologischen Therapieansätzen ein unverzichtbarer Teil der multimodalen Therapie. Trizyklische Antidepressiva können bei älteren Patient:innen häufig zu cholinergen wie auch adrenergen Nebenwirkungen mit Hypotonie, Verwirrtheit, Müdigkeit, Obstipation und Harnverhalt führen. Daher soll das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin, eine Substanz, die häufig zur Therapie neuropathischen Schmerzen verwendet wird, bei alten Patient:innen unter Beobachtung in niedrigen Dosen beginnend eingesetzt werden. Bei Anwendung muss davor ein EKG (AV-Block II–III als Kontraindikation) geschrieben werden und mögliche Vorerkrankungen wie Prostathypertrophie und Glaukom müssen erfasst werden, die ebenfalls eine Kontraindikation darstellen. Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Hemmer wie Duloxetin können erfolgreich bei geriatrischen Patient:innen angewendet werden [
33], müssen in der Dosierung jedoch sowohl an die Nieren- als auch Leberfunktion angepasst werden.
Bei lokalen neuropathischen Schmerzen können topisch applizierbare Substanzen wie Lidocain-5 %-Pflaster oder Capsaicin-8 %-Pflaster als Mittel der ersten Wahl zur Anwendung kommen [
34].
Grundregeln der perioperativen Schmerztherapie bei geriatrischen Patient:innen
Eine Betreuung dieser Patient:innengruppe soll schon präoperativ stattfinden, damit die Evaluierung und Optimierung des physischen, psychischen und kognitiven Zustands in allen Aspekten erfolgen kann. Wichtig ist die Prävention weitreichender Komplikationen, wie die Vermeidung chronisch persistierender postoperativer Schmerzen oder Kognitionsstörungen. Die umsichtige Narkoseführung, frühe postoperative enterale Ernährung und Mobilisation, eine schnelle Entlassung in die häusliche Pflege bzw. in die gewohnte Umgebung sowie eine rasche und gezielte Rehabilitation sollen angestrebt werden. Die Erstellung eines ganzheitlichen suffizienten Schmerztherapie- und Nachbetreuungsplans einschließlich einer Kontrolle des Erfolgs und der Nebenwirkungen ist von großer Wichtigkeit. Der interdisziplinäre, multimodale Therapieansatz für die postoperative Betreuung soll die Wünsche und Ziele der geriatrischen Patient:innen beachten und einfache und übersichtliche Dosierungsschemas zur Verbesserung der Compliance beinhalten [
35].
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.