Open Access
12.12.2024 | Sozialmedizin | Originalien
Early Life Care gewährleistet Kinderschutz und Unterstützung von Familien
verfasst von:
Gerhild Aigner, BScN, MScPH, Dr. Ulrike Metzger, MSc, Dr. Beate Priewasser, Elisabeth Bürgler, BScN, MScN, Dr. Christina Irresberger, Astrid Rass, Univ.-Prof. Dr. Thorsten Fischer, Univ.-Prof. Dr. Roman Metzger, Univ.-Prof. Dr. Daniel Weghuber
Die drei Universitätskliniken für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, für Kinder- und Jugendheilkunde sowie Kinder- und Jugendchirurgie, die Pflegedirektion und die Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) Salzburg haben sich zum Ziel gesetzt, neben einer bindungsorientierten, familienzentrierten und entwicklungsfördernden Pflege und Versorgung insbesondere Familien in Belastungssituation frühzeitig im Klinikalltag zu identifizieren und ihnen bedarfsgerechte Unterstützung zu vermitteln. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde das Konzept der Early Life Care (ELC) angewandt. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres und integratives Konzept der Gesundheitsförderung und -versorgung mit dem Ziel, möglichst optimale Bedingungen für Familien rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit zu schaffen. Durch Beratung, Begleitung, Diagnostik, Therapie und Betreuung wird versucht, bereits am Lebensbeginn die besten Voraussetzungen anzubieten.
Hinweise
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Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort besagt, dass „es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen“, denn Kinder benötigen ein bindungsförderndes Umfeld, um sich gesund entwickeln zu können, doch generationales Lernen geht weitgehend verloren, da Familie oder Mütter kaum noch in großfamiliären Strukturen aufgewachsen sind. Darüber hinaus nimmt die Vulnerabilität von Familien durch einen steigenden Anteil von Armut, Sozialisolation, Stigmatisierung und Abhängigkeit zu. Der sozialpsychologische Druck auf die Familien steigt beständig [8]. Dies bewirkt, dass das schützende Dorf für die Kinder ins Wanken gerät.
Problemstellung
Die Forschung bestätigt, dass bereits die pränatale Phase, das physische und soziale Umfeld sowie die frühkindliche Entwicklung die Grundlagen der Gesundheit beeinflussen. Frühe Belastungen können aufgrund der Entwicklung des Gehirns, des Immunsystems und der Stoffwechselregulation zu lebenslangen chronischen Gesundheitsbeeinträchtigungen führen [9]. Wesentliche Grundlagen für ein gesundes Aufwachsen und eine langfristige Lebensqualität werden demnach bereits in der frühen Kindheit gelegt. Belastende Lebenssituationen können jedoch eine gute frühkindliche Entwicklung stören, weshalb frühzeitige Unterstützung essenziell ist. Ein koordiniertes Hilfsangebot für Eltern und Kinder in der frühen Kindheit wirkt den Folgen von negativen Kindheitserfahrungen entgegen und fördert gesundes Aufwachsen [3].
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Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde das Konzept der Early Life Care (ELC) entwickelt. Es handelt sich um ein interdisziplinäres und integratives Konzept der Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung mit dem Ziel, möglichst optimale Bedingungen für Familien rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit zu schaffen. Bereits am Lebensbeginn sollen mithilfe von Beratung, Begleitung, Diagnostik, Therapie und Betreuung die besten Voraussetzungen angeboten werden. In den ersten Lebensjahren eines Säuglings werden Bindungserfahrungen, Gehirnentwicklung, Stressregulation und die Immunologie entscheidend geprägt. Das Erkennen von Belastungssituationen ist daher essenziell, um tragfähige Beziehungen und eine gesunde biopsychosoziale Entwicklung zu ermöglichen. Belastungssituationen sind beispielsweise Risikoschwangerschaft, vorzeitige Geburt, Erkrankungen der Eltern oder des Kindes mit erhöhtem Betreuungsbedarf, finanzielle Belastungen, Sucht und Gewalt [1, 3, 5‐7].
Das Institut für ELC, das 2016 an der PMU Salzburg gegründet wurde, ist weltweit das erste universitäre Forschungsinstitut mit dem expliziten Auftrag, fundiertes Wissen über biologische, psychologische, soziale, ökologische und spirituelle Aspekte rund um Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre zu erheben. Ziel ist es, die Gesundheitsversorgung für Familien in diesen Phasen zu optimieren. In den Projekten werden psychologische Inhalte wie Bindung, Eltern-Kind-Interaktion, Emotionsregulation und Mentalisierung mit biologischen/physiologischen Maßen verbunden. Es werden sowohl Grundlagen- als auch anwendungsbasierte Projekte durchgeführt [4, 6].
Aufgaben des ELC-Zentrums
Neben der Verankerung von ELC in der Wissenschaft (durch das Institut für ELC) und in der Lehre (durch den Universitätslehrgang für ELC) zeigte sich die Notwendigkeit einer Verankerung von ELC im Klinikalltag, um
Kinder zu schützen, da möglichen Fehlentwicklungen in der Familie entgegengewirkt werden kann, um frühe Vernachlässigung und Gewalt zu verringern,
Eltern zu entlasten, indem bedarfsgerechte und individuelle Unterstützung für die jeweilige Familie und Situation angeboten wird,
Gesundheitspersonal zu entlasten, indem Ärzt:innen, Pfleger:innen und Therapeut:innen bei belasteten Familien ein Konsil für ein ELC-Expert:innen-Gespräch stellen können.
Ziele des ELC-Zentrums
Als Ziele für die Versorgung der Patient:innen wurden ein strukturierter Versorgungspfad, eine strukturierte Vor- und Nachsorge, eine dadurch entstehende hohe Versorgungsqualität durch ein familienzentriertes Behandlungskonzept, die Umsetzung spezifischer Prävention, die Reduktion von Belastungssituationen in den Kliniken, eine reibungslose Transition in die frühen Hilfen und in das Versorgungsnetzwerk im niedergelassenen Bereich, gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen und die Zusammenarbeit mit etablierten Selbsthilfegruppen definiert.
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Ökonomische Ziele werden in der optimalen Nutzung und bedarfsgerechten Koordination der bereits vorhandenen Strukturen, der Nutzung von Synergien durch weitgehende Reduktion paralleler Betreuung und Strukturen, der Entlastung der Notfallambulanz und der Kinderstationen, einer Vermeidung des sogenannten „Drehtüreffekts“, der Reduktion von Krankenhausaufenthalten und nicht zuletzt im gesamtgesellschaftlichen Mehrwert („social return on investment“ [SROI]) gesehen.
Als wissenschaftliche Zielsetzung wurde definiert, Studien zur Identifikation (hoch-)belasteter Familiensysteme, zum Einfluss von äußeren Belastungen auf das Familiensystem, zum Einfluss von supportiven Angeboten auf Familiensysteme und zu spezifischen Fragestellungen des SROI durchzuführen, an nationalen und internationalen Studien teilzunehmen und den Campus der PMU durch die vernetzte klinisch-institutionelle Zusammenarbeit zu stärken.
Die Ziele für die Fort- und Ausbildung beinhalten die Organisation von zertifizierten Fortbildungen, die Ausbildung von Studierenden und die Beteiligung am Studiengang ELC an der PMU.
Zentrumsgründung
Beim ELC-Zentrum am UK Salzburg handelt es sich um ein multiprofessionelles Zentrum der UK für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der UK für Kinder- und Jugendheilkunde, der UK für Kinder- und Jugendchirurgie, der Pflegedirektion sowie der PMU Salzburg (Institut für ELC). Das virtuelle Zentrum hat das Ziel, familiäre Belastungen und Überforderungen im Klinikbetrieb frühzeitig zu erkennen und den Familien eine bedarfsgerechte Unterstützung im Kliniksetting als auch extramural anbieten zu können.
Aufbau und Struktur
Da es sich um ein virtuelles Zentrum handelt und die bereits vorhandenen Strukturen verwendet werden, um das gemeinsame Netzwerk zu bilden, wurde ein Überblick über die vorhandenen intra- und extramuralen Angebote erstellt. Hierfür konnte auf bereits vorhandene Literatur zurückgegriffen werden [4].
Das Zentrum für ELC (Abb. 1) besteht aus dem klinischen Bereich (hellgrün) und dem externen Bereich mit den Frühen Hilfen und der Niederlassung (pink). Es fusioniert im Kern in der interdisziplinären ELC-Koordinierungsstelle (orange), welche die Netzwerkpartner synergetisch nutzt und verbindet. Ein besonderes Merkmal ist die koordinierte Verbindung von Vorsorge und Nachsorge und damit vom klinischen in den außerklinischen Bereich unter der Berücksichtigung des ELC-Gedankens.
Abb. 1
Aufbau des ELC-Zentrums
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Finanzierung des Zentrums
Die Umsetzung des Zentrums sollte kostenneutral erfolgen. Dementsprechend werden die ambulanten und stationären Bereiche des Zentrums wie bisher mit dem Personal der jeweiligen Kliniken/Abteilungen abgedeckt. Somit werden die vorhandenen Strukturen verwendet, die gemeinsam das Netzwerk für das virtuelle ELC-Zentrum bilden. Durch den Fokus auf eine bedarfsgerechte Koordination können darüber hinaus Parallelstrukturen innerhalb der Klinik abgebaut werden. Eine Reduktion der Krankenhausaufenthalte und Ambulanzbesuche wird durch die direkte Anbindung an den extramuralen Bereich möglich.
Die Erlöse aus den einzelnen Leistungen werden zu 100 % den jeweiligen Kliniken/Abteilungen zugeordnet. Gewinn wird durch eine Verbesserung der Qualität der Betreuung und der Strukturierung der Betreuungspfade erreicht. Hierbei wird darauf geachtet, dass keine Leistungen anderer Leistungserbringer erneut erbracht werden, sondern eine Vernetzung zu bestehenden Leistungsanbietern hergestellt wird.
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Ablauf
Neben einer bindungsorientierten, familienzentrierten und entwicklungsfördernden Pflege und Versorgung sollten Belastungssituationen während des Klinikaufenthalt frühzeitig erkannt werden, diese sind beispielsweise Risikoschwangerschaft, vorzeitige Geburt, Erkrankungen der Eltern oder des Kindes mit erhöhtem Betreuungsbedarf, finanzielle Belastungen, Sucht und Gewalt [1, 5, 7].
Folglich umfasst der Ablauf die systematische Identifizierung von Familien mit vermehrten Belastungsfaktoren, die Erhebung des Bedarfs und die Koordination der Hilfe durch intra- und extramurale Vermittlung der Familien in die weitere Betreuung. Um klare Zuständigkeiten darzustellen und alle bestehenden Strukturen zu integrieren, wurde ein Versorgungspfad entwickelt (Abb. 2).
Abb. 2
Versorgungspfad
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Pilotierung und Ausblick
In einer sechswöchigen Pilotierungsphase auf der Wochenbettstation erfolgte eine möglichst frühzeitige und lückenlose Identifikation der Familien mit erhöhter psychosozialer Belastung mithilfe eines standardisierten Screenings (in Anlehnung an den Babylotse-Puls-Screeningbogen [2]). Bei sehr kurzer Bearbeitungsdauer werden die häufigsten Belastungsfaktoren erfasst. Ist das Screening positiv, erhebt eine ELC-Expertin den konkreten Unterstützungsbedarf anhand einer definierten ELC-Anamnese und vermittelt die Familie intra- bzw. extramural bedarfsgerecht weiter. Unterstützend wurde hierfür eine direkte Kooperation mit den Frühen Hilfen geschlossen.
In der Literatur werden rund 20 % der Familien auf einer Wochenbettstation mit erhöhtem Betreuungsbedarf beschrieben [2]. Diese Anzahl konnte auch in der Pilotierungsphase bestätigt werden. Das Screening auf der Wochenbettstation wurde im Anschluss als fester Bestandteil in den Klinikalltag übernommen. Eine Ausrollung auf weitere Stationen des Kinderzentrums ist in Planung. In enger Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für ELC werden Forschungsprojekte implementiert und durchgeführt, darunter eine Evaluierung des Screeningprozesses.
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Des Weiteren wird ein Qualifizierungskonzept erstellt. Dieses betrifft Einführungsfortbildungen sowie vertiefende Ausbildungen wie Family and Infant Neurodevelopmental Education (FINE) 1 & 2, das Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program (NIDCAP) und die Abschlüsse Akademische Expertin/Akademischer Experte bzw. Master Continuing Education des Universitätslehrgangs für ELC an der PMU.
Um die Versorgungsqualität für Kinder und Familien zu verbessern, ist darüber hinaus eine Early-Life-Care-Zertifizierung für Kliniken, Ordinationen, Vereine und Selbständige in Ausarbeitung. Voraussetzungskriterien und weitere Informationen diesbezüglich sind am Institut für ELC der PMU erhältlich.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G. Aigner, U. Metzger, B. Priewasser, E. Bürgler, C. Irresberger, A. Rass, T. Fischer, R. Metzger und D. Weghuber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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