Der aktuelle Zeitgeist ist teils gekennzeichnet von Polarisierung und Kommunikationsverweigerung. In digitalen Sozialräumen zeigt sich insbesondere, welche Bandbreite an festen Überzeugungen genährt werden kann, die dann immer wieder aufeinanderprallen und zu Vorwürfen und Isolation führen können. Der Prozess AEye mit der Methodik OO7 setzt an unterschiedlichen Orientierungsbedürfnissen an, die in einem systemischen Kontakt – und Moderationsprozess therapeutisch genutzt werden können. Anhand der Identifikation eines aktuell präferierten Orientierungsmusters wird die Möglichkeit für systemische Familientherapeut:innen illustriert, den Blick der Kontaktpersonen auf momentan ausgelassene Orientierungsmöglichkeiten zu weiten. In einem wohldosierten Oszillationsprozess kann diese Voraussetzung für die neuerliche Ankopplung isolierter Personen erreicht werden. Therapeut:innen werden ermutigt, mit ihrem Gegenüber in Schwingung zu gehen, um dann eine geeignete Amplitude und Frequenz zur Einführung unterschiedsbildender Denkmuster zu wählen, welche Klient:innenseitig den selbstregulativen Anpassungsprozess moderiert.
Hinweise
Franz Schiermayr ist Sozialarbeiter, Systemischer Familientherapeut und Lehrtherapeut mit partieller Lehrbefugnis ÖAGG, Professur für Praxis an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang Soziale Arbeit in Linz. Forschungsschwerpunkte sind „Digisocialisation“ – die individuelle Sozialisation im Einklang mit der Digitalisierung gesellschaftlicher Systeme sowie die Methodenentwicklung in Beratung, Therapie und Sozialer Arbeit.
Charlotte Sweet MA, MA ist Kulturwissenschafterin, Linguistin, Assistenzprofessur an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang Soziale Arbeit in Linz. Forschungsschwerpunkte sind „Digisocialisation“ – die individuelle Sozialisation im Einklang mit der Digitalisierung gesellschaftlicher Systeme sowie die Methodenentwicklung in Beratung, Therapie und Sozialer Arbeit.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Einleitung
Die therapeutische Arbeit mit Familien wurde schon früh in der psychoanalytischen Praxis entdeckt. Auch die behaviorale Therapie versuchte die Erkenntnisse der Lerntheorie insbesondere in den USA auf Paar- und Familiensettings bzw. soziale Systeme zu übertragen. Zu dieser Zeit erfolgte Therapie im Sinne einer Kybernetik erster Ordnung (von Schlippe und Schweitzer 2012). Die wesentliche Weiterentwicklung der systemischen Familientherapie erfolgte in einem gesellschaftlichen Übergang von der Moderne in die sogenannte Postmoderne. Die Entdeckung des Beobachters in der Kybernetik zweiter Ordnung und der soziologischen Systemtheorie nach Niklas Luhmann führte dazu, dass sich Realitäten bzw. „fixe Erzählungen“ auflösen und die systemische Familientherapie mit ihren Methoden bisher ausgeblendete Perspektiven und Möglichkeiten in der therapeutischen Praxis wieder aktualisieren und zur Verfügung stellen konnte.
In einer sich verändernden gesellschaftlichen Stimmung – der sogenannten Post-postmoderne, die sich wieder an vermeintlichen Eindeutigkeiten orientieren will und auf „Altbewährtes“ zurückgreift (Sweet und Schiermayr 2019) – erscheint systemische Familientherapie mit ihrem radikal konstruktivistischen Herangehen wenig attraktiv oder sogar zusätzlich verunsichernd. Es stellt sich also die Frage, welche Herausforderungen sich für Orientierungsbedürfnisse im aktuellen Zeitgeist verorten lassen und wie systemische Familientherapeut:innen diese Herausforderungen in ihrer Haltung und Methodik als Ressource verwenden können?
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Mit Hilfe einer kulturphilosophischen Analyse im Rahmen eines von der FFG (österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft) geförderten kooperativen Projektes „Artificial Eye“ möglicher Orientierungsmuster im gesellschaftlichen Austausch, soll die notwendige Weiterentwicklung systemischer Familientherapie thematisiert und dargestellt werden, um auch in sich verändernden Kontexten wirksam zu sein.
Psychotherapie – von der Systematik zur Systemik
Die Begriffe systematisch und systemisch sind mittlerweile gängige und positiv konnotierte Bezeichnungen. Wenn Psychotherapeut:innen systemisch arbeiten, wird erwartet, dass eine Orientierung über das Individuum hinaus angelegt und das Bezugssystem in die Therapie einbezogen wird. Was aber mit systemisch gemeint ist, wird zunehmend seltener thematisiert (von Schlippe und Schweitzer 2012). Effektiv ist Therapie dann, wenn systematisch an die Probleme herangegangen wird und dann Interventionen systemisch wirksam erfolgen. Systematisch scheint also in einem logikorientierten, aufklärerischen Sinne mit methodisch gleichgesetzt zu werden, dass einer ursprünglichen strukturell-funktionalen Betrachtungsweise folgt. Systemisch therapeutisch wirksam zu sein ist hingegen eine postmoderne Innovation, die sich auf das Erkennen von Differenz bezieht, wie das schon Derrida (1973) illustriert. Luhmann (1987, S. 26) entwickelte die Systemtheorie und damit wesentliche Grundlagen systemischer Therapie weiter, indem der das Paradigma „Differenz von Identität und Differenz“ etablierte. Doch ist dieses Paradigma im aktuellen gesellschaftlichen Zeitgeist, in dem Bauer (2018) mit seinem Buchtitel „Die Vereindeutigung der Welt“ einen permanenten Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt konstatiert, noch anschlussfähig?
Die Kulturphilosophie ordnet der Zeitspanne der Aufklärung gerne den Begriff der Moderne zu. In dieser Zeit findet die logik- und vernunftorientierte methodische Wissenschaft ihren Ausgangspunkt und war geprägt von Annahmen grundsätzlicher angeborener Ungleichheit zwischen Menschen. In den 1970er-Jahre wurden zumindest in Westeuropa, diese Grundsätzlichen strukturellen Überzeugungen in Frage gestellt und Lyotard (1979) führte den Begriff Postmoderne ein, wodurch modernes Gedankengut aufgeweicht wurde und damit Verunsicherung entstand. Nach wie vor wird die aktuelle Ära von manchen Autor:innen als Postmodern oder „Spätmodern“ (Reckwitz 2019) bezeichnet. Diese postmoderne Verunsicherung, mit ihrer Dekonstruktion von Überzeugungen und gewohnter Systematik wird im aktuellen Zeitgeist nun offenbar mit den Mitteln der Moderne bekämpft und droht gleichzeitig daran zu scheitern. Wir leben aktuell offenbar in einer „Post-Postmoderne“ (Sweet und Schiermayr 2019), die systemische Perspektiven zwar eröffnet, sie aber dann systematisch begrenzt und abhandelt. „Wir leben in einer Epoche der Brüche und Diskrepanzen, einer Epoche, in der alles – oder fast alles – möglich ist, während man nichts – oder so gut wie nichts – in der Gewissheit, es zu durchschauen, selbstbewusst angehen kann.“ (Bauman 2018, S. 187). Mithilfe von systematischem Vorgehen wird versucht Kontingenz zu vermeiden und Eindeutigkeit herzustellen. Kreatives Denken und die Entwicklung von Lösungen benötigen allerdings andere Denkweisen, wie beispielsweise Peirce (2016) beschreibt, wenn er formuliert, dass nur die Abduktion neue Erkenntnisse mittels kreativer Rückschlüsse liefern kann. Um im sozialen Austausch mit dieser inhärenten (doppelten) Kontingenz umzugehen formuliert Luhmann (1987) die Notwendigkeit, sich auf Umstände einzulassen und Vertrauen zu entwickeln.
Vom Stammesfeuer zur digitalen Gesellschaft – Funktionale Differenzierung
Der Übergang von einer tribalen zu einer hochkultivierten Gesellschaft war begleitet von einer zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft. Diese Differenzierung lässt sich als wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft beschreiben. Sie hat zur Folge, dass sich die entstandenen bzw. konstruierten Systeme in einen Zustand der „selbsterzeugten Unbestimmtheit“ versetzen (Luhmann 2021b, S. 743 ff). Wenn immer mehr Funktionssysteme voneinander abgegrenzt werden, steigern sich Unbestimmbarkeit und Systemkomplexität und die Akteur:innen sind aufgefordert, ihre Ambiguitätstoleranz zu erhöhen. Funktionssysteme sind autopoietisch organisiert und können als sogenannte „nichttriviale Systeme“ (von Foerster und Pörksen 2019, S. 54 ff) beschrieben werden. Das bedeutet, dass Funktionssysteme nicht zielgerichtet gesteuert werden können.
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Diese Unterscheidung von Systemen betrifft nicht nur gesellschaftliche Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, sondern lässt sich auch beim „System Mensch“ als „interne Systemdifferenzierung“ (Barthelmess 2014, S. 24) beobachten. Solche internen Differenzierungen moderieren die Sicht auf relevante Umwelten, z. B. zu anderen Menschen, die in Kontakt treten wollen. Für die therapeutische Arbeit und ihre Grundlage des „in Kontakt seins“ ist dies ein wesentlicher Umstand. Gerade der Beginn einer therapeutischen Unterstützung stellt viele Weichen für einen gelingenden therapeutischen Prozess (Prior 2006). Klient:innen wie auch Therapeut:innen haben interne Differenzierungen entwickelt: eine „Spezialisierung der Perspektiven“ (Kleve 2016, S. 25), die der Komplexitätsreduktion in Bezug auf die relevanten Umwelten dient. Dies erzeugt subjektiv Sicherheit und erleichtert das Navigieren. Die Herausforderung für Therapeut:innen ist es, Anschluss an die jeweiligen spezialisierten Perspektiven ihrer Klient:innen zu finden. Dieses „in Kontakt kommen“ oder „Ankoppeln“ stellt die Grundlage des therapeutischen Prozesses dar und begründet zudem Verstehen und Vertrauen, also die Form der therapeutischen Beziehung.
Verstehen und Vertrauen
Gerade zu Beginn eines Therapieprozesses führt Vertrauen der Klient:innen dazu, dass Auftragsklärung möglich wird. Herrscht Vertrauen innerhalb des therapeutischen Systems, so ist es möglich gerade jene Therapieaufträge zu kommunizieren, die von den Klient:innen als beschämend oder erniedrigend bewertet werden. Luhmann (2014) beschreibt Vertrauen als Reduktion sozialer Komplexität. Es erzeugt Sicherheit in der Interaktion mit der Umwelt. „Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre.“ (Luhmann 2014, S. 9). Um solches Vertrauen zu bilden, erscheint es wichtig, dass sich die Kommunikationspartner:innen auch verstehen. Dabei nimmt Luhmann (1986, S. 85) an „daß als Verstehen alles in Betracht kommt, was das verstehende System für Verstehen hält.“
Wie können Therapeut:innen nun Verstehensprozesse so unterstützen, dass Vertrauen in die Therapie entsteht? Im Sinne der generischen Prinzipien (Haken und Schiepek 2010) stellt Verstehen vor allem im ersten Prinzip – Schaffen von Stabilitätsbedingungen – eine Notwendigkeit dar, um für spätere Destabilisierung im Zuge therapeutischer Interventionen die notwendigen stabilen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dieses erste Prinzip beschreibt als Teil günstiger Grundbedingungen auch Vertrauen in die Therapeut:innen (Rufer 2012). Um diese Sicherheit bzw. Stabilität zu bieten, sollte die Kommunikation insbesondere in der Erstkontaktphase so gestaltet werden, dass die Klient:innen sich auch verstanden fühlen. Dabei stehen vor allem die Handlungen der Kommunikationsteilnehmer:innen im Fokus. Reagiert das Gegenüber in einer Art und Weise, wie es die Sprecher:innen erwartet haben, so wird üblicherweise von Verstehen ausgegangen. Auf der sozialen Ebene von Verständigung hängt also das Verstehen von den Anschlusshandlungen ab (Kraus 2013). Gelingt es in dieser ersten Kontaktphase, in der Phase des Ankoppelns an das Klient:innensystem rasch Verstehen zu signalisieren, dann werden Bezug bzw. Beziehung erlebt. Sachse (2016) konzipiert Verstehen als Aspekt der Beziehungsgestaltung, der insbesondere dann wirksam wird, wenn Therapeut:innen ihr Verstehen für die Klient:innen nachvollziehbar machen können. Als wesentliche Funktion von Verstehen wird in diesem Zusammenhang der Aufbau von „Kompetenzvertrauen“ (Sachse 2016, S. 41) zu den Therapeut:innen erkannt. Zudem schafft es für die Klient:innen Entlastung, da sie bemerken, dass es jemandem gelingt, ihre Emotionen oder Denk- und Verhaltensweisen nachzuvollziehen und sie möglicherweise nicht die einzigen sind, denen es so ergeht.
Orientierung in der Interaktion
Um sich in einer Interaktion orientieren zu können, scheint es hilfreich zu sein, wenn ein gewisses Maß an Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung, oder anders gesagt, eine geringe Ausprägung doppelter Kontingenz, vorherrscht. Besteht dieses Maß an Übereinstimmung, so steigt auch die Chance auf erfolgreiche Kommunikation. Steht nun mehr Übereinstimmung in den Denk- und Handlungsmustern zur Verfügung, oder erweiterte sich das Wissen über die Interaktionsmuster des Gegenübers durch häufige und wiederkehrende Interaktionen, so werden sich die Beteiligten verstehen und sich dabei als erfolgreich erleben (Kraus 2013). Da Therapie häufig auf sprachlicher Interaktion beruht, ist es nötig, sich auf Grundlage sprachlicher Äußerungen zu orientieren und Klient:innen ebenso verbal Orientierung zu bieten. Maturana (1985, S. 55) schreibt dazu: „Sprachliches Verhalten ist Orientierungsverhalten“.
Um im therapeutischen Prozess oftmals verunsicherten Klient:innen Sicherheit bieten zu können, ist es notwendig, Orientierung anzubieten, insbesondere in einer Phase des Kontaktaufbaus und des Ankoppelns. In der Sozialen Arbeit wird in diesem Zusammenhang von einer Orientierung an der Lebenswelt von Klient:innen gesprochen (Kleve 2007), in der man sich bemüht, das Denken bzw. die Denkmuster von Klient:innen zu erkennen, um Anschlusskommunikation zu erzeugen. Natürlich würde es die therapeutische Arbeit wesentlich erleichtern, wenn dies für Therapeut:innen exakt erkennbar wäre und die Klient:innen durchgängig einem Muster folgen würden. Allerdings „[…] können Orientierungserwartungen bestenfalls als grundlegende Muster gedacht werden und nicht als exakte Modelle.“ (Kraus 2013, S. 109). Orientierungsmuster lassen sich als „dispositionale Orientierung“ im Sinne Antonovskys (1997, S. 109) betrachten. Gemeint ist eine umfassende und allgemeine Betrachtungsweise der sozialen Welt, die sich dabei sowohl auf den kulturellen und sozialen Kontext, die historische Periode und die idiosynkratischen Ereignisse in der Entwicklung von Menschen bezieht. Diese dispositionale Orientierung prägt Denk- und Verhaltensweisen in einer grundsätzlichen Art und Weise und drückt sich in unterschiedlichen Situationen entsprechend der Orientierung aus. Ebenso wird durch das Orientierungsmuster auch die emotionale und kognitive Bewertung einer Situation moderiert (Antonovsky 1997).
Orientierung als Grundlage von Haltung und Intervention wird auch von anderen psychotherapeutischen Ausrichtungen in den Fokus genommen. So beschreibt Zwiebel (2018) aus psychoanalytischer Sicht sogenannte „Bipolaritäten“, zwischen denen Analytiker:innen oszillieren um Widersprüche zu bewahren und gemeinsam mit Klient:innen erkunden und verstehen zu können. Er bezeichnet dies auch mit dem Begriff „Ambiguitätstoleranz“, die gerade auch von Luhmann (1987, S. 418) als die Notwendigkeit sich auf Sicheres/Unsicheres einzulassen beschrieben wird. Durch Ambiguitätstoleranz wird Struktur(neu)bildung gefördert. Diese Neubildung bedeutet allerdings nicht einfach den Wechsel von Unsicherheit hin zu Sicherheit, sondern vor allem, sich auf diese Differenz einzulassen und quasi darin mit einer ambiguitätstoleranten Haltung zu oszillieren.
Ebenso werden als Teil von verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen, insbesondere in der Förderung von Motivation, Techniken wie „geleitetes Entdecken“ beschrieben, die Klient:innen anregen sollen sich zu orientieren. Dabei wird in diesem Entdecken häufig auch auf bewährte Modelle zurückgegriffen, die auch den Therapeut:innen Orientierung bieten sollen (Hötzel und von Brachel 2022, S. 52).
Wie könnten nun solche Orientierungsmuster, die das „In Kontakt kommen“ im Sinne eines Ankoppelns an Klient:innensysteme erleichtern und gegenseitiges Verstehen fördern, beschrieben werden? Genau dieser Frage wurde in einem zweijährigen, von der FFG geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojekt nachgegangen. Das Projekt bezog sich zwar auf Kontaktarbeit im digitalen Sozialraum, aber die Erkenntnisse für die soziale bzw. therapeutische Interaktion sind auch auf den Präsenzraum übertragbar.
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Entwicklung von Orientierungsmustern im Forschungsprojekt Artificial Eye
Im kooperative Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Artificial Eye“ wurden im Wesentlichen folgende Ziele verfolgt:
Es sollte ein Prozess entwickelt werden, der es ermöglicht, zunehmend ausgegrenzte bzw. durch die Digitalisierung „exkommunizierte“ Menschen zu erreichen und sie wieder zur Teilhabe einzuladen bzw. ihr Wiederankoppeln an soziale Systeme zu gestalten.
Methodische Vorgehensweise
Das Studiendesign wurde als zirkulärer Entwicklungsansatz nach der Grounded Theory konzipiert (Corbin und Strauss 2008). Das triangulierte, multimethodische Vorgehen (Kelle 2014) umfasste Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit insgesamt 49 Expert:innen und Betroffenen mit einer Gesamtdauer von rund 27 h. Neben problemzentrierten Interviews mit User:innen und Online-Sozialarbeiterinnen und Gruppendiskussionen wurde auch eine Onlinebefragung (n = 485) mit unterschiedlichen Zielgruppen von User:innen umgesetzt. Die „Struktur-Lege-Technik“ (Flick 2012, S. 205) wurde zur kommunikativen Validierung der Aussagen verwendet. Eine typenbildende Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018) unterschied vier „Orientierungsmuster“ im Kontakt. Diese stellen die Grundlage für eine „soziale Matrize“ (Ruesch und Bateson 1951) für die Kontaktarbeit auf der Basis der unterschiedenen Orientierungsmuster dar. Dieses Design wurde insbesondere gewählt, da die Forschung zu einer noch neuen Form des „In-Kontakt-Tretens“, also aufsuchender sozio-digitaler Arbeit, zu neuen Erkenntnissen gelangen wollte und somit Abduktion als wesentliche Forschungslogik zur Anwendung kommen sollte (Reichertz 2011).
Die Studie orientierte sich grundsätzlich an den Gütekriterien, die Strübing et al. (2018) mit Gegenstandsangemessenheit, empirischer Sättigung, theoretischer Durchdringung und Originalität sowie textueller Performanz beschrieben haben. Die Umsetzung des Grounded Theorie Designs beinhaltete, dass der Forschungsprozesses, die Charakteristika und Vorannahmen der Forschungspersonen und die Forschungs(zwischen)ergebnisse laufend einer strukturierten, kritischen Reflexion innerhalb der Forschungsgruppe unterzogen wurden (Breuer et al. 2019).
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Ergebnisse und Orientierungsmuster – Zugang und Haltung
Der methodische Zugang und die dazugehörigen Haltungen orientieren sich an systemtheoretischen Grundsätzen sowie kulturphilosophischen Zeitgeistunterscheidungen (modern, postmodern, post-postmodern). Diese Beschreibungen werden allerdings ahistorisch und gleichberechtigt verwendet, ohne eine Entwicklung zu unterstellen. So werden die Kontakte vier verschiedenen Orientierungsmustern zugewiesen, die Aufschluss darüber bieten, wie Therapeut:innen am besten ankopplungsfähig sein können. Aus der Identifikation des beim Gegenüber aktuell dominierenden Orientierungsmusters leitet sich das jeweilige therapeutische Vorgehen ab – welche Orientierungshilfen müssen angeboten werden, um als Kontakt interessant und hilfreich zu sein? Darüber hinaus liegt diesem Vorgehen eine systemtheoretische Haltung zugrunde, die besagt, dass gegenseitiges Verstehen nur eingeschränkt möglich ist. Nur über Kontingenzen (Berührungspunkte) können soziale, psychische und physische komplexe Systeme miteinander in Kontakt treten, und wenn sie dies tun, dann stört das ihre jeweiligen selbstorganisierenden Operationsstrukturen und erzeugt erstmal Unsicherheit, bis sie sich angepasst haben. Wie sie sich anpassen, hängt letztlich nur von den Systemen und ihren höchst individuellen Operationsstrukturen ab – Therapeut:innen können somit keinen geradlinigen Einfluss auf die Auswirkungen der jeweiligen Intervention ausüben.
Nachfolgend werden die vier Orientierungsmuster (siehe Abb. 1), die den Gesprächspartner:innen zugeordnet werden können, genauer betrachtet. Wichtig ist dabei, dass alle Menschen zu jeder Zeit Anteile aller vier Muster zeigen – zu unterscheiden ist nur, welche(s) Muster aktuell das(die) dominante(n) Bedürfnis(se) darstellt. Wenn die Haltungen der Gesprächspartner:innen im unten besprochenen Chart markiert werden, können Therapeut:innen einerseits erkennen, wie diese aktuell schwingen und auf dieser Basis günstig zu erreichen sind. Zugleich ist zu erkennen, in welchem Ausmaß Differenz eingeführt werden kann (Wahl der Amplitude) und wie häufig diese Unterschiedsbildung geschehen soll (Wahl der Frequenz), um höchstwahrscheinlich eine Erweiterung der Perspektiven bzw. Möglichkeiten zu erzielen.
Die Geradlinigen
Das „strukturiert-deterministische“ oder „moderne“ Orientierungsmuster. Dies basiert auf der Grunderwartung, die Welt könne durch lineare Kausalzusammenhänge fast restlos erklärt werden – ausständig ist lediglich das Erkennen aller dieser Zusammenhänge. Als „Leitdifferenz“ dieses Orientierungsmusters lässt sich die flexible Deutung der Gestaltungsmöglichkeiten im Gegensatz zu einer unflexiblen Deutung erkennen. Menschen mit diesem Orientierungsbedürfnis entsprechen sehr stark der ursprünglichen Ausrichtung der westlichen Wissenschaft, die tatsächlich in vielen Lebensbereichen Licht ins Dunkel und Berechenbarkeit in das bis dahin Unberechenbare brachte. Wo zuvor die Vorstellung von Gottes Zorn die Disziplinierung der Menschen über leidvolle Erfahrungen einforderte, entstand nun ein Gefühl der Kontrollierbarkeit und der relativ freien menschlichen Handlungsfähigkeit. Menschen, die aktuell sehr auf verlässliche Kausalzusammenhänge fokussieren, sind durch diese meist stark orientiert, in ihrem Blick auf Möglichkeiten aber auch eingeschränkt. Sollte ein Therapiebedürfnis zum Ausdruck gebracht werden, wird es sehr klar formuliert und sachlich in den Mittelpunkt gerückt. Therapeut:innen müssen in diesem Fall einerseits Sorge tragen, dass sie die Anforderungen an Klarheit erfüllen, die diese Gesprächspartner:innen stellen; andererseits sollen sie genau diese einschränkende Klarheit aufweichen, um neue Möglichkeiten für die Lebensgestaltung erscheinen zu lassen.
Die Suchenden
Das „strukturanalytische“ oder „postmoderne“ Orientierungsmuster. Menschen, die sich aktuell dominant auf diese Weise orientieren, erkennen Brüche und Ungereimtheiten in der linearen Logik und fokussieren sehr stark darauf. Als „Leitdifferenz“ kann eine klare, zielgerichtete Realitätsbeschreibung im Unterschied zu einer offenen, unscharfen Beschreibung formuliert werden. Die bereits etablierte Orientierung löst sich für sie auf. Dies entspricht etwa der neueren Erkenntnis in der Physik, dass es kleinste Teilchen gibt, deren Verhalten den klassischen Gesetzen der Makrophysik nicht unbedingt folgt. Genau wie die theoretische Physik demnach mit dem Ingenieurswesen in Konflikt geraten kann, so können Menschen mit einer postmodernen Orientierung die Erkenntnisse und Sicherheiten der modernen Weltanschauung stark in Frage stellen und sogar ablehnen. Je nachdem, ob sie bereits eine neue, eigene Orientierung entwickeln oder eher frustriert und wenig orientiert driften, können Therapeut:innen mit hoher oder geringer Abweichung von der Logik der Gesprächspartner:innen intervenieren, um ihren Blick für Möglichkeiten zu erweitern.
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Die Bewahrenden
Das „dynamisch-strukturierte“ Orientierungsmuster baut auf den Erkenntnissen des postmodernen Musters auf. Zukunftsorientiert versus vergangenheitsorientiert stellt die „Leitdifferenz“ dieses Musters dar. Die Einsicht, dass lineare Kausalzusammenhänge höchstwahrscheinlich nicht zur Analyse der gesamten Umwelt führen werden, sondern eher zweckgebundene Vereinfachungen darstellen, die nur eingeschränkt Sicherheit bieten, liegt dem nostalgischen Muster zugrunde. Allerdings wird die Verunsicherung mit althergebrachten Lösungsstrategien bekämpft. Anstatt nach vorne zu blicken und Innovationen kreativ zu entwickeln, orientiert man sich an einer vermeintlich idealen Vergangenheit, in der alles noch eindeutig war. Wieder intervenieren Therapeut:innen entweder mit geringer Störungsamplitude, um das Gegenüber nicht zu verschrecken, oder mit hoher Amplitude, grob abweichend von der Logik des Gegenübers, da es den Perspektivenwechsel ohnehin befürwortet.
Die Wendigen
Das „dynamisch-probabilistische“ Orientierungsmuster stellt eine Anpassung an eine Zeit dar, die von Vielfalt und rascher sozialer Veränderung geprägt ist. Als „Leitdifferenz“ dieses Musters kann zwischen vielfältigen und geringen Gestaltungsideen unterschieden werden. Menschen, die dieses Muster bevorzugen, versuchen nicht mehr generelle Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sondern fokussieren hauptsächlich kurzfristige, kontextbezogene Zusammenhänge, die ihrer Lebenssituation nützlich sind. Je nachdem, wie vielfältig die Gestaltungsmöglichkeiten der Gesprächspartner:innen ausgeprägt sind, kann dieser Orientierung mit hoher oder geringer Störungsamplitude, je nach Ausprägung der Leitdifferenz, begegnet werden und eine Oszillation in Gang bringen.
Abb. 1
Orientierungsmuster, Eigene Darstellung
×
Oszillierende Orientierung
Das Ziel der Kontaktarbeit ist die „Oszillierende Orientierung“, d. h. es soll erreicht werden, dass Gesprächspartner:innen durch Oszillieren zwischen Orientierungsmustern möglichst viele von ihren Umweltmöglichkeiten erkennen und miteinbeziehen können. Dies bedeutet einerseits, dass sie ein besseres Verständnis für andere Perspektiven und deren Funktion entwickeln, wodurch Angst bzw. Ablehnung sich verringern. Darüber hinaus werden die eigene Handlungsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz erweitert, da introspektive Ressourcengeneration und somit Resilienz gefördert werden.
Oszillieren beschreibt in diesem Zusammenhang den Wechsel von wählbaren Beziehungen oder Möglichkeiten in komplexen Systemen und Umwelten. Die Fähigkeit zur Oszillation beschreibt Baecker (2016) als Voraussetzung für eine Evolutionsgeschichte der menschlichen Gesellschaft. Dieses Wechseln von unterschiedlich bewerteten Zuständen oder Referenzen öffnet ein Potenzial für Überraschungen. Oszillieren „[…] konfrontiert sich selbst mit einer für es selbst unbestimmbaren Zukunft, für die gleichsam Anpassungsreserven für unvorhersehbare Lagen gespeichert sind.“ (Luhmann 2021a, S. 46).
Die „Oszillierende Orientierung in 7 Schritten – OO7“ (siehe Abb. 2) entwickelt sich wie folgt:
1.
Kontakten
2.
Orientieren
3.
Amplitude wählen
4.
Frequenz wählen
5.
In Schwingung gehen
6.
Oszillieren
7.
Abkoppeln
Abb. 2
OO7, Eigene Darstellung
×
Anders ausgedrückt sollten Therapeut:innen mit ihren Gesprächspartner:innen auf der gleichen Wellenlänge in Kontakt kommen, um dann diese Wellenlänge in passender Weise zu erweitern. Gemeinsames Oszillieren durch Wahl einer passenden Amplitude und Frequenz soll das Gegenüber mit seiner Umwelt wieder verträglich in Schwingung bringen.
Conclusio
Orientierungsmuster von Menschen werden von der Interaktion mit ihren Umweltbeziehungen gestaltet. Sie unterliegen dabei auch gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Zeitgeist. Systemische Familientherapie in ihrer aktuellen theoretischen Ausrichtung entwickelte sich in einem gesellschaftlichen Umfeld der Aufweichung von scheinbar sicheren Strukturen und Denkmustern. Die Systemtheorie wurde stark beeinflusst von postmodernen Denker:innen. Gerade aktuell zeigt sich sehr offensichtlich, dass unterschiedliche Orientierungsbedürfnisse sich gegenseitig stören und zu Polarisierung führen können – ein Prozess, in dem Denkmuster sich verfestigen und Individuen sich zunehmend zurückziehen und abkoppeln. Der systemische Ansatz des Störens setzt genau dort an, vollzieht die Störung aber dosiert und moderiert den Anpassungsprozess, um Ankopplung wieder möglich zu machen. AEye als Kontaktprozess mit der Methode OO7 zur wohldosierten Störung und Oszillation, die den Blick für Möglichkeiten der Ankopplung wieder weitet, versucht hier einen wesentlichen Beitrag zu leisten.
Interessenkonflikt
F. Schiermayr und C. Sweet geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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