Wenn man die großen Entscheidungen nur am Rande mitbekommt.
Thomas Kainrath
Zurzeit überschlagen sich die Ereignisse. Die Augen der Welt sind wahlweise auf die Ukraine, die USA, den Vatikan, den Nahen Osten, das Bundeskanzleramt oder dieses eine Video gerichtet, in dem ein Mann versucht, einen Smart in seinem Kühlschrank zu parken. Es tut sich was, denn irgendwo ist immer irgendwas los.
Manchmal will es das Schicksal, dass man genau dort ist, wo Geschichte gemacht wird – etwa in Washington. Rund um das ukrainisch-amerikanische Präsidententreffen gab es eine kleine Randnotiz, die mein Interesse geweckt und eine Gedankenkaskade ausgelöst hat. Denn abseits der großen Verwirrung in Bezug auf die Weltpolitik gab es vermutlich ein paar Räume weiter eine kleine Verwirrung in Bezug auf das Essen. So war man in der Küche des Weißen Hauses (Kitchen One) vermutlich zu beschäftigt, um den historischen Disput vor laufender Kamera zu verfolgen.
Schließlich musste man, anlässlich der geplanten Unterzeichnung des Rohstoffabkommens, das Mittagessen fertigstellen: Fein abgestimmt auf Gastgeber und ukrainische Delegation fertigte man eine in nächtelangen Sitzungen ersonnene Speisenabfolge von Borschtsch, gefüllte Teigtaschen nach Kiewer Art und „Honigkuchen Wolodymyr“ bis zum klassischen Rib-Eye-Steak an McDonaldTrump’s Burger und Kirsch-Vanille-Eiscup aus grönländischem Eis mit einem kleinen US-Fähnchen darauf. Und alles ist auch zeitgerecht fertig geworden. Doch niemand kam zu Tisch. Selensky war überstürzt abgereist und die anderen hatten auch keine Lust auf Essen. „Unberührte Salatteller wurden wieder zusammengepackt“ hieß es da. Aber was soll man machen, wenn dem Weltgeschehen der Appetit vergeht?
Örtlich so nah an der Geschichte dran und doch ferner als ein X-beliebiger Smartphone-User, der in einem anderen Kontinent die Debatte im X-Livestream verfolgt. Das ist das Schicksal, wenn man als kleines Rädchen die großen Bewegungen notgedrungen mitmachen muss, ohne zu wissen, wohin die Reise geht und ohne die Zeit, von den Lower Decks aus dem Fenster zu sehen.
Dabei muss man gar nicht die großen Ereignisse heranziehen. Wenn die Mitarbeiter bei der Weihnachtsfeier vom Chef für den größten Umsatz in der Firmengeschichte gelobt werden, selbst aber das Jahr über mit veralteten Kopierern und teilmotivierten Kollegen gearbeitet haben, passt das Bild irgendwie nicht zusammen. Auch wenn man im Untertagebau einer Klinik in den Tiefen menschlicher Gedärme herumwühlt, nach Monaten zum ersten Mal wieder das Tageslicht erblickt und dann feststellt, dass sich überirdisch statt dem A.ö. Krankenhaus Braunstätten nun ein Golfplatz befindet, so hat man etwas Größeres verpasst.
Generell haben wir als Menschen auf unserem kleinen Planeten im Universum ohnehin recht wenig Ahnung, wohin die Reise geht. Wir kochen, wir essen, wir kopieren, wir endoskopieren, während da draußen die ganz großen Entscheidungen passieren. So geht Leben.