Über die Oberflächlichkeit der Begegnungen
Thomas Kainrath
Im Alltag einer allgemeinmedizinischen Praxis, in der Schnupfen, Bluthochdruck und juckende Hautausschläge einander die Klinke in die Hand geben, sind außergewöhnliche Diagnosen eine willkommene Abwechslung. Auch wenn man beim Dengue-Fieber, der Orient-Beule oder dem familiär kälteassoziierten autoinflammatorischen Syndrom lediglich ein Ibuprofen verordnet, weil man die Außergewöhnlichkeit der Diagnose nicht erkennt. Zwar sollten wir bekanntlich bei Hufgetrappel an Pferde und nicht an Zebras denken, doch müssen wir wachsam sein, um einem Zebra kein Pferdeentwurmungsmittel zu verabreichen.
Neben den Diagnosen können aber auch außergewöhnliche Biografien und Berufe einen routiniert gelangweilten Kollegen aus der Reserve locken. Der hundertste IT-Techniker ist, bei allem gebotenen Respekt den IT-Girls, -Boys und -Technikern gegenüber, zu profan, um unsere Fantasie zu beflügeln. Piloten, Astronauten, Opernsänger, Profi-Golfer, Schutzgeldeintreiber, Agenten im Geheimdienst Ihrer Majestät oder Ihre Majestäten selbst sind als Gegenüber da schon deutlich interessanter.
Allerdings kann es dazu führen, dass man die knappe Ordinationszeit statt mit wertvollen Informationen an den Patienten mit redundantem Smalltalk füllt, über die Art und Weise, wie man Golf-, Tot- oder Poloschläger am besten in Händen hält, bis man am Ende der Konsultation noch nachschießt: Ach ja, und bezüglich der Einnahme des neuen Medikamentes – das erklärt sich von selbst! Immobilienmakler werden da rasch mal beim Abhören nach den besten Liegenschaften gefragt, Börsenspekulanten nach garantiert gewinnbringenden Krypto-Deals und Polizisten nach börserlschonenden Ausreden beim Überfahren einer Stopptafel. Das ärztliche Gespräch bewegt sich irgendwo zwischen Sozialvoyeurismus oder Beratungsdiebstahl.
Umgekehrt gibt es auch in der Allgemeinbevölkerung ein Ranking der interessantesten und brauchbarsten Ärzte: Während plastische Chirurgen und Dermatologen auch im Privatleben eine große Fangemeinde haben, die auch gerne mal die eine oder andere Verruca oder das eine oder andere Schlupflid herzeigt, wechselt man im Gespräch mit einem Dialysespezialisten rasch mal das Thema. Auch aus der akustischen Radiodoktor- Ordination weiß ich, dass die für uns so hoch eingestuften Themen wie Diabetes oder Atherosklerose deutlich weniger Menschen hinter dem Ofen hervorlocken als Sendungen zum Augenlasern, Lippenaufspritzen oder der Wirkung eines Ofens, im bewusstseinserweiternden Sinn.
Wer nur daran interessiert ist, interessante Menschen zu treffen, wird bald mal das Interesse an Menschen verlieren. Schließlich wohnt jeder Begegnung ein Zauber inne und so kann man, wenngleich ich es mir aus heutiger Sicht nicht vorstellen kann, auch einem IT-Techniker das gebührende Gehör schenken und inspirierende Erkenntnisse gewinnen. Und vielleicht finden uns auch IT-Techniker irgendwann einmal interessant.