Fallbeispiel Frau R.
Frau R. war eine meiner ersten Klientinnen und vermochte gleich zu Beginn der Therapiesitzung, mich zu verwirren. Vor mir stand eine gepflegte, ältere Frau. Ihre einleitenden Worte waren: „Ich bin böse auf mich und ich bin böse auf Sie! Auf mich, weil ich diesen Termin vereinbart habe, auf Sie, weil sie mich gestern angerufen haben, um den Termin zu fixieren“. Wie sich im Verlauf des Gespräches herausstellte, war Frau R. es gewohnt, alleine mit ihren Problemen fertig zu werden. Ihre feste Grundüberzeugung bestand darin, dass sie auf niemandes Hilfe angewiesen sei, so war das ihr ganzes Leben. Umso verständlicher war es, dass sie in ihrer Not und in ihrer subjektiven Empfindung des Ausgeliefertseins in der therapeutischen Situation Anteile auf mich übertrug. Der Grund, warum sie sich für eine Psychotherapie entschied, waren ihre rezidivierenden depressiven Episoden seit über 20 Jahren. Noch nie war sie deshalb bei Psychiater_innen bzw. in einer Psychotherapie gewesen. Was sie letztendlich wirklich dazu bewogen hat (wohl nichtbewusst), wird sich am Ende dieser Falldarstellung zeigen. Ich besprach mit ihr ihre Erwartungen und Zielvorstellungen, und sie wollte Erklärungsmodelle sowie Copingstrategien im Sinne einer Rückfallprophylaxe, weil sie sich künftig vor wiederkehrenden Depressionen schützen können wolle. Sie betonte gleich im Erstgespräch, dass sie nicht in der Vergangenheit kramen wolle. Ich akzeptierte ihren Wunsch, wiewohl bei der biografischen Anamnese immer wieder ein kleiner Rückblick in die Vergangenheit erfolgte, ohne sie zu bedrängen oder sie zu Antworten zu verleiten, die sie nicht wollte. In der 8. Therapieeinheit begab sich Folgendes: Zufällig lagen noch ein Block und Buntstifte von der vorherigen Sitzung auf meinem Tisch und Frau K. bemerkte, dass sie immer schon gerne hätte zeichnen mögen, ihr aber das Talent dazu fehle. Ich bot ihr an, sich doch einfach einmal auszuprobieren, und reichte ihr Block und Stifte. Während sie sprach, begann sie zu zeichnen. Zuerst einen Baum, dann Blumen, die Sonne. Sie hatte den Blick von mir abgewendet und war völlig in ihr Bild vertieft. Dann begann sie zu erzählen: Von ihrer Kindheit, dem Baum, in dem sie Trost fand, als ihr Vater starb, als sie gerade einmal 3 Jahre alt war. Von den unzähligen Tränen, die sie oben in seinen schützenden Kronen weinte. Es war ein Nussbaum, doch auf ihrer Zeichnung fanden sich keine Blätter. Ich fragte sie, wieso der Baum so kahl sei, ob denn Herbst sei? Sie entgegnete, die Blätter des Baumes waren ihr nie wichtig, es war die Stärke seines Stammes, es war die Stärke seiner Äste, die sie trugen. Der verstorbene Vater wurde zum Baum, in dem sie Trost fand, denn die Mutter war zu Trost nicht fähig. In dieser Sitzung begann sie, mir aus ihrem reichen Leben zu erzählen, ihren vielen Reisen, ihren Begegnungen mit wundervollen Menschen und ihren prägenden negativen Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend. Sie hatte mehrere Ehepartner durch Krebs verloren, der Bruder starb ebenso an Krebs und kürzlich ging auch noch ihre Mutter nach schwerer, leidvoller Krankheit in den Tod. Auch das Altwerden machte Frau R. zu schaffen. Wir orientierten uns in der Therapie sowohl daran, dieses Trauern zuzulassen, als auch an ihren Fähigkeiten und orteten viele Interessen, die längst in Vergessenheit geraten waren. Am Ende der Therapie konnte sie das Gewesene „sein lassen“ und ihre tiefe Trauer in Dankbarkeit umwandeln, in eine Dankbarkeit dafür, dass sie all diese Menschen kennen und lieben lernen durfte, sie in guter Erinnerung behalten kann. Sie zeigte sich offener im Austausch mit Freundinnen, entdeckte ihre Leidenschaft zur Gartenarbeit wieder, stellte die hohen, perfektionistischen Ansprüche ein wenig zurück („ich muss langsamer machen in meinem Alter“) und begann, Reisen mit guten Freunden_innen zu planen. Ihr Leben war wieder sinnerfüllt. Die prolongierte Trauer, die sich in einer rezidivierenden depressiven Episode immer wieder zeigte, war verarbeitet und biografisch eingebettet.
Im vorgehenden Fallbeispiel wird deutlich, wie wesentlich es ist, alte Denkmuster aufzulösen und sich mit Vergangenem zu versöhnen. Bei Frau R. lag der Hauptfokus der Therapie in der Auflösung der prolongierten Trauer und den daraus resultierenden, maladaptiven und verzerrten Denkmustern und den sich draus ergebenden, negativen Empfindungen. Diese hatten die Chance auf eine positive Zukunftsperspektive verstellt. Die Entwicklung vom starren Festhalten hin zu einer akzeptierenden und dankbaren Haltung hinsichtlich vergangener Geschehnisse eröffnete neue Sichtweisen und Handlungsspielräume.