Kitzbühel im Rückblick

Nachbericht. Anlässlich der 52. Internationalen kieferorthopädischen Fortbildungstagung wurde nicht nur der Einzug neuer versus bewährter Behandlungsmöglichkeiten diskutiert, sondern auch angeregt, über die rein kieferorthopädischen Herausforderungen hinaus Lösungen für die Patienten zu suchen. Martin Erdniss/stock.adobe.com × „Wir werden ständig mit neuen Technologien bombardiert, die angeblich die Art und Weise, wie wir praktizieren, verändern werden“, so Dr. Antonino Secchi. Man höre heute mehr denn je von Kollegen, die ihre Systeme geändert haben, nur um dann festzustellen, dass es keinen wirklichen Vorteil bringt, sondern eher eine Störung im Praxisablauf darstellt. Den Praxistest bestehen nach dem Experten vor allem jene Systeme, die bewährte kieferorthopädische Prinzipien integrieren. Mit diesen gelinge es ihm dann gut, die Behandlungsmechanik auch in schwierigeren Fällen zu vereinfachen. Auch demonstriert Secchi, wie er Tiefbiss und offenen Biss, die oft übertherapiert werden, behandelt: Er setzt auf das Nivellieren der Okklusionsebene - ohne zusätzliche Intrusions- und Extrusionskräfte. Populäre Subsidien Den Praxistest haben nach Frau Dr. Kathrin Becker, gerade bei komplexen Behandlungsfällen, auch kieferorthopädische Mini-Implantate längst bestanden. Zum einen, weil sie mit der recht einfachen Insertionsmöglichkeit das kieferorthopädische Behandlungsspektrum enorm erweitern, zum anderen, weil sie für den Patienten eine ästhetisch ansprechende Behandlungsoption eröffnen und deshalb gut angenommen werden. Die Digitalisierung schaffe auch aufgrund der Möglichkeit, dass inzwischen mithilfe der CAD/CAMTechnik kieferorthopädische Apparaturen hergestellt werden können, einen großen Mehrwert, betont Dr. Christoph Roser. Diese biete, etwa bei der Herstellung individueller Retainer, eine Vielzahl von Vorteilen sowohl für den Patienten als auch Behandler. Dr. Lutz Hodecker, der sich mit der praxistauglichen Anwendung von skelettalen Ankern im Unterkiefer für orthopädische und komplexe orthodontische Behandlungsaufgaben auseinandersetzt, stellt in diesem Zusammenhang ein alternatives Konzept mit einer CAD/CAM-gefertigten Verankerungsapparatur für den Unterkiefer vor. Alles Vorsorge Doch das A und O jeder erfolgreichen Methode ist für Dr. Martin Domingo die Vorsorge: „Es ist wichtig, bereits vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung die Stabilität im temporomandibulären Gelenk herzustellen.“ Hierfür behilft er sich in der Praxis eines posterioren Splints, der von den ihm behandelten TMJPatienten 24 Stunden getragen werden muss. Etwa 30% aller seiner Patienten haben Kiefergelenksprobleme. Diese zu ignorieren und nur die Zähne zu begradigen, würde nur zu weiteren Beschwerden führen, ist Domingo sicher. Ist die Stabilität erst erreicht, werde die weitere Behandlung um vieles einfacher. Man könne ihm nach dann sogar mit um ein Drittel weniger Alignern die Behandlungsziele erreichen. Geht doch So sehr die Aligner auch den Ästhetikbedürfnissen der Patienten entgegenkommen, so sehr ist gerade bei dieser Behandlungsmethode Disziplin seitens der Patienten gefragt, weiß Dr. Peter Schicker: „Mein Kind trägt die Aligner nicht! Eine feste Zahnspange ist für mich einfacher!“. Aussagen wie diese kennen Behandler, die mit Aligner arbeiten zu genüge aus der täglichen Praxis. Insbesondere heute, in Zeiten, in denen auch die Frühbehandlung im Vormarsch ist, gehe ohne Motivation und Mitarbeit gerade der jungen Patienten gar nichts. „Wir setzen auf die Fortschrittsbeurteilung als Compliance Booster“, sagt Schicker. Es motiviere Patienten sehr, wenn sie regelmäßig den Behandlungsfortschritt visualisiert sehen. Vor allem seine jugendlichen Patienten halte er an, mittels Handyapp ihren eigenen Erfolg zu observieren und mit dem Praxisteam zu teilen. „Die Compliance ist besser und die Patienten halten besser durch.“ Durchhaltevermögen und Ausdauer sind auch bei Univ.-Prof. DDr. Robert Haas ein Thema, doch im Zusammenhang mit dystopen Zähnen. Denn auch bei der Eingliederung dieser ist auf Behandler- ebenso wie auch auf Patientenseite viel Geduld gefragt. Zudem sei der Behandlungserfolg keinesfalls gesichert und durch die lange Therapie steige auch die Anzahl der Komplikationen deutlich, erklärt Haas. Deshalb rate er zu chirurgischen Interventionen, wie einer ausreichenden Mobilisation des Zahnes über Cortikotomien bis zur Autotransplantation und zum Setzen von Hilfsimplantaten, um unerwünschte Wirkungen auf die Nachbarzähne zu vermeiden. Für eine gut durchdachte Vorbereitung für eine spätere ästhetische und funktionelle Versorgung spricht sich auch Prim. Dr. Rudolf Fürhauser aus. Er beschäftigt sich vor allem mit der Problematik der Frontzahnimplantation bei 2er Aplasie und der häufig unzureichenden Gingivahöhe nach Implantation und gibt Tipps wie derartige Fälle in der Praxis gut bewältigbar sind. Nebenwirkungen vorweggenommen Vorausdenken, unabhängig davon, ob es nun darum geht, die Behandlungsziele gut vorzubereiten oder möglichst keine unerwünschten Nebenwirkungen zu haben, behandelt ebenso Univ.-Prof. Dr. Dr. Christian Kirschneck als prioritär. White-Spot- Läsionen und Zahnwurzelresorptionen etwa, seien die häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen einer kieferorthopädischen Therapie. „Da beide Entitäten nahezu zu keiner Spontanremission neigen, wenn sie erst einmal aufgetreten sind, und auch die therapeutischen Möglichkeiten wie Mikroabrasion, Kariesinfiltration, Bleaching oder restaurative Therapie sehr eingeschränkt bzw. bei Wurzelresoptionen zum Beispiel nicht existent sind, kommt ihrer Prävention im Rahmen der Therapie höchste Bedeutung zu“, so Kirschneck. „Mundhygiene, häusliche und professionelle Prophylaxe, hoch dosierte Fluoridlacke zur Bracketumfeldversiegelung bzw. geringe Kräfte, kurze Therapiedauer, minimale Bewegungsstrecken und kurzzeitige Therapiepausen zur Regeneration als Vorbeugung von Wurzelresorptionen sind maßgebliche Präventionsmaßnahmen.“ Nachdem White-Spot-Läsionen sehr schnell, auch innerhalb von vier Wochen, entstehen würden, könne bei jedem Termin, also alle 6 Wochen, ein Flouridlack mit mindestens 22.000 bpm aufgetragen werden, empfiehlt der Experte. Zudem sei zu beachten, dass die orthodontische Zahnbewegung, Wurzelresorptionen und die Rezidivneigung durch Systemerkrankungen bei längerer und hoch dosierter Einnahme von Medikamenten negativ beeinflusst werden können. Eine Anamnese bzgl. Systemerkrankungen und einer Medikation verbessere daher die Therapieplanung und -prognose und ermögliche so eine Reduktion von Nebenwirkungen. Eine Milliarde Zu noch mehr Verantwortung zieht Frau Prof. Dr. Korbmacher-Steiner die Zahnmediziner, im Speziellen Kieferorthopäden. „Die Schlafapnoe entwickelt sich zunehmend zu einer der großen Volkskrankheiten“, so Korbmacher-Steiner, „und bei längerem Bestehen bringt sie zum Teil gravierende Folgen wie Depressionen, Bluthochdruck, erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko für die Gesundheit mit sich.“ In der Mundhöhle könnten bei betroffenen Patienten bereits erste Anzeichen in Form von Schlafbruxismus, Zahnfrakturen oder Erosionen detektiert werden. Deshalb komme auch dem Zahnmediziner eine wichtige präventionsorientierte Funktion zu: „Der Kieferorthopäde kann etwa über die Versorgung von Patienten mit Unterkieferprotrusionsschienen mittels kieferorthopädischer skelettaler und auch funktioneller Therapiekonzepte hinsichtlich des posterioren Rachenraums formverändernd und somit präventionsorientiert eingreifen.“ Durch Erweiterung des Indikationsspektrums und der Kombination bewährter und neuer Behandlungsansätze ist zu erwarten, dass der therapeutische Nutzen kieferorthopädischer Interventionen für Patienten definitiv noch weiter steigen wird. Prof. Adriano Crismani, Tagungsleiter privat ×

Springer Medizin Österreich

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten