Eisenmangel ist die häufigste Ursache für Anämien im Kindesalter, jedoch können auch zahlreiche andere Pathologien zugrunde liegen. Eine systematische Differenzierung der Ätiologien ist daher von zentraler Bedeutung, um eine präzise Diagnostik zu ermöglichen und eine effektive Therapie zu gewährleisten. Die initiale Klassifikation erfolgt häufig anhand des mittleren Erythrozytenvolumens (MCV), wodurch Anämien in mikrozytäre, normozytäre und makrozytäre Formen unterteilt werden. Eine weitergehende Subklassifizierung berücksichtigt die Retikulozytenzahl (hypo- oder hyperregeneratorisch) sowie den Eisenstatus des Patienten . Insbesondere in der Pädiatrie sind genetisch bedingte Erkrankungen wie die Hämoglobinopathien, die Sphärozytose oder seltene Syndrome wie die Diamond-Blackfan-Anämie wichtige Differenzialdiagnosen. Dieser Artikel soll die Vielfalt der Anämieformen aufzeigen und verdeutlichen, wie essenziell ein strukturiertes diagnostisches Vorgehen ist, um letztlich die richtige Diagnose und Therapie für Betroffene sicherzustellen.
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Fall 1 – Verdacht auf Leukämie
Eine Anfrage eines externen Krankenhauses erreichte das St. Anna Kinderspital mit der Bitte um Übernahme eines 21 Monate alten Patienten mit Verdacht auf Leukämie. Der Patient zeigte sich blass, aber kardiorespiratorisch stabil, mit stark ausladendem Abdomen aufgrund einer massiven Hepatosplenomegalie. Außerdem lag ein Abfall in den Gewichts- und Größenperzentilen vor. Die externe Labordiagnostik zeigte eine ausgeprägte mikrozytäre Anämie mit einem Hämoglobinwert von 5,6 g/dl (MCV 63 fl), eine Thrombopenie (70 G/l) sowie eine Leukozytose (50 G/l). Nach der Übernahme ins St. Anna Kinderspital konnte der Leukämieverdacht nicht bestätigt werden. Die maschinell ermittelte hohe Leukozytenzahl entpuppte sich im manuellen Differenzialblutbild als fälschlich erhöht durch das Vorkommen zahlreicher Normoblasten (Abb. 1) – der Vorstufen der Erythrozyten, die normalerweise nicht im Blut zu finden sind. Wie die Hämoglobinanalysen später zeigten, leidet der Patient an einer β‑Thalassaemia major, was den niedrigen Hämoglobinwert erklärt. Die Thrombopenie ist zum einen auf die Splenomegalie, zum anderen auf einen Virusinfekt zurückzuführen. Der späte Diagnosezeitpunkt erklärt sich durch zusätzlich vererbte, den Schweregrad der Thalassaemia major reduzierende Faktoren: eine α‑Thalassämie-Deletion sowie die Persistenz von fetalem Hämoglobin. Ohne diese genetischen Besonderheiten wäre der Patient bereits vor dem 21. Lebensmonat durch eine schwere Anämie symptomatisch geworden, und die Hepatosplenomegalie hätte sich bei einer früheren Diagnose nicht so dramatisch entwickelt. Der Patient wurde in ein chronisches Transfusionsprogramm aufgenommen, wodurch es zu einer langsamen Rückbildung der Organgrößen und damit auch einer Normalisierung der Thrombozytenzahl und einem raschen Aufholwachstum kam.
Eisenmangel ist weltweit die häufigste Ursache für Anämien und verursacht eine erhebliche Krankheitslast. Im Jahr 2016 wurden weltweit über 1,2 Mrd. Fälle von Anämien auf Eisenmangel zurückgeführt. Die wichtigste Differenzialdiagnose zur Eisenmangelanämie beim Vorliegen einer mikrozytären Anämie ist eine ebenfalls weit verbreitete Ätiologie: Anämie verursacht durch Pathologien im Hämoglobin. Hämoglobinopathien gehören zu den häufigsten monogenetischen Erkrankungen weltweit. Schätzungen zufolge tragen etwa 7 % der Menschen Mutationen für Hämoglobinopathien. Besonders in malariaendemischen Gebieten sind diese Mutationen verbreitet, da heterozygote Träger einen evolutionären Überlebensvorteil gegen den Erreger Plasmodium falciparum haben. Die Thalassämiesyndrome sind eine heterogene Gruppe, wobei transfusionspflichtige und nichttransfusionspflichtige Formen unterschieden werden. Die β‑Thalassaemia major, die typischerweise transfusionspflichtig ist, ist eine autosomal-rezessive Erkrankung, die sich üblicherweise zwischen dem 3. und 24. Lebensmonat klinisch manifestiert. Sie zeigt sich durch eine schwere mikrozytäre Anämie, ein ikterisches Hautbild und eine Hepatosplenomegalie. Klinisch fallen betroffene Säuglinge durch einen Abfall der Perzentile für Größe und Gewicht auf und wirken zunehmend blass. Die Diagnose erfolgt mittels Hochleistungsflüssigchromatographie (HPLC) oder Hb-Elektrophorese und anschließender genetischer Untersuchung.
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Heterozygote Thalassämieträger sind in der Regel klinisch asymptomatisch, können jedoch eine milde Anämie aufweisen, typischerweise zeigen sich ein erniedrigtes MCV sowie normale Ferritinwerte. Während β‑Thalassämie-Träger durch eine HPLC anhand eines erhöhten HbA2-Spiegels zuverlässig identifiziert werden können, lassen sich heterozygote Träger von α‑Thalassämie-Deletionen (der häufigsten Form von α‑Globin-Defekten) mit diesen Diagnostikmethoden nicht zuverlässig nachweisen – hier bedarf es einer genetischen Untersuchung. Wichtig in der Betreuung von heterozygoten Thalassämieträgern ist die Vermeidung einer fälschlichen Eisensubstitution und die Aufklärung über die rezessive Vererbbarkeit. Bei Kinderwunsch muss eine Untersuchung auf Hämoglobinopathien des Partners erfolgen.
Eine weitere wichtige Hämoglobinopathie ist die Sichelzellkrankheit (engl. „sickle cell disease“ [SCD]), bei der vor allem Schmerzkrisen im Vordergrund stehen, die durch eine komplexe Gefäßerkrankung ausgelöst werden. Diese Coombs-negative hämolytische Anämie kann mit variierenden Zellvolumina einhergehen, u. a. abhängig vom Genotyp, dem Ausmaß der Hämolyse und dem Anteil an fetalem HbF (gesteigert durch Hydroxyureatherapie).
Erblich bedingte mikrozytäre Anämien, die nicht durch Defekte in den Globinketten verursacht werden, sind dagegen extrem selten. Solche Anämien können durch Störungen in der Hämsynthese oder durch angeborene Defekte im Eisenstoffwechsel bedingt sein. Beispiele sind die Protoporphyrie, die eisenrefraktäre Eisenmangelanämie (IRIDA) oder sideroblastische Anämien.
Fall 2 – angeborene Immundefizienz als Ursache einer autoimmunhämolytischen Anämie
Ein 8‑jähriger Patient wurde in unsere Notfallambulanz eingeliefert. Er war blass, tachykard und hatte leicht ikterische Skleren. Die Laboruntersuchung zeigte eine normozytäre Anämie mit einem Hämoglobinwert von 6,3 g/dl, einer Retikulozytose (12 %), erhöhter LDH (400 U/l) und einem erhöhten indirekten Bilirubin (4 mg/dl). Der Coombs-Test (diagnostisch für autoimmunhämolytische Anämie [AIHA]) war positiv, wobei Wärmeautoantikörper vom Typ IgG nachgewiesen wurden. Unter Therapie mit Prednison und intravenösen Immunglobulinen (IVIG) kam es initial zu einer vollständigen Remission der Erkrankung. Allerdings entwickelte der Patient im Alter von 13 Jahren eine Immunthrombozytopenie (ITP) und eine erneute Episode einer AIHA im Alter von 14 Jahren, was zur Diagnose eines Evans-Syndroms (ES) führte. Bei den meisten Patienten mit kindlichem ES ist ein Immundefekt die Ursache der Symptomatik. Durch den Einsatz von Whole-exome-Sequenzierung entdeckten wir bei dem Patienten eine maternal vererbte X‑chromosomale Keimbahnmutation im Gen SASH3 [1]. Pathogene Varianten in diesem Gen wurden kürzlich als Ursache einer neuartigen angeborenen Immundefizienz identifiziert. Auch nach einer Splenektomie, die aufgrund von progredienten einblutungsbedingten Milzzysten notwendig war, kam es bei dem Patienten zu einer erneuten ITP-Episode. Unter regelmäßiger subkutaner Immunglobulinsubstitution (initiiert aufgrund von Hypogammaglobulinämie) zeigt der Patient seither erfreulicherweise eine komplette Remission seiner Erkrankung.
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Normozytäre Anämien
Zu den hyperregeneratorischen (Retikulozyten erhöht) normozytären Anämieformen zählen lebensbedrohliche erworbene Erkrankungen wie die autoimmunhämolytische Anämie (AIHA), das hämolytisch-urämische Syndrom, die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) und die disseminierte intravaskuläre Gerinnung (DIC), die alle einen hämatologischen Notfall darstellen können. Auch die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH), eine äußerst seltene erworbene Erkrankung der hämatopoetischen Stammzellen, und der Morbus Wilson gehören in diese Gruppe.
Wie in Fall 2 beschrieben, lässt sich die AIHA meist rasch durch einen positiven Coombs-Test von den anderen Erkrankungen in dieser Gruppe unterscheiden (der Test kann allerdings selten auch bei anderen Erkrankungen positiv sein). Die AIHA ist durch den vorzeitigen Abbau von Erythrozyten infolge von Autoantikörpern gekennzeichnet und wird nach der thermischen Reaktivität der Antikörper unterschieden: Kälte- und Wärmeagglutinine sowie paroxysmale Kältehämoglobinurie. Die wärmreaktive AIHA ist typischerweise mit IgG-Antikörpern verbunden, die bei 37 °C reagieren. Eine sekundäre AIHA kann durch Immundefekte oder zugrunde liegende Autoimmunerkrankungen (z. B. systemischer Lupus erythematodes) verursacht werden. Die Kälteagglutininkrankheit, verursacht durch IgM-Antikörper, tritt häufig nach Infektionen (EBV oder Mykoplasmen) auf.
Einer AIHA kann eine angeborene Immundefizienz zugrunde liegen
Bei allen Formen der AIHA kann auch das Komplementsystem eine entscheidende Rolle im Pathomechanismus spielen.
Auch einige erbliche Erkrankungen der Erythrozytenmembran (z. B. Sphärozytose), des zellulären Stoffwechsels (Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel; normo- bis makrozytär) und des Hämoglobins (SCD, instabiles Hämoglobin) gehören in die Gruppe der normozytären hämolytischen Anämien. Zur Differenzierung der hämolytischen Anämien lohnt sich auch der Blick ins Mikroskop. Hier können sich Mikrosphärozyten [Sphärozytose (Abb. 2), AIHA], Sichelzellen (SCD) oder Fragmentozyten (HUS, TTP) zeigen. Als weiterführende Diagnostik bei Coombs-negativer Hämolyse empfiehlt sich unter anderem der EMA(Eosin-5-Maleimid)-Test zur Abklärung einer Sphärozytose, die Bestimmung der Erythrozytenenzyme bei Verdacht auf Störungen im Erythrozytenstoffwechsel (können sowohl normo- als auch makrozytär sein) sowie eine Hämoglobinelektrophorese zum Ausschluss einer Hämoglobinopathie. Die hereditäre Sphärozytose (HS) ist die häufigste Zytoskeletterkrankung der Erythrozyten und eine führende Ursache chronischer hämolytischer Anämie in der nordeuropäischen Bevölkerung. Sie entsteht durch pathogene genetische Varianten, die die Struktur oder Expression von Proteinen des Zytoskeletts beeinflussen, die für die Form und Stabilität von Erythrozyten notwendig sind. Die HS zeigt sowohl genetisch als auch phänotypisch eine hohe Variabilität [2].
Die häufigste Ursache für eine hyporegeneratorische normozytäre Anämie im Säuglings- und Kleinkindalter ist die transiente Erythroblastopenie der Kindheit (TEC), die entweder postinfektiös oder idiopathisch auftreten kann. In der Regel erfolgt die Genesung meist spontan innerhalb von ein bis zwei Monaten. Liegen jedoch Lymphknotenvergrößerungen, Hepatosplenomegalie oder pathologische Befunde in den anderen beiden Zellreihen vor, muss durch eine Knochenmarkpunktion eine maligne hämatologische Erkrankung ausgeschlossen werden.
Fall 3 – angeborene Anomalie und hyporegenerative Anämie
Ein 11 Monate alter Säugling (Frühgeburt in der 36. SSW) wurde wegen einer hyporegenerativen Anämie (Hb 6,8 g/dl, MCV 98 fl, Reti 0,3 %) vorgestellt. Zusätzlich wurden bei dem Patienten eine valvuläre Aortenstenose und eine Hypospadie diagnostiziert. Vitamin B12 sowie Folsäure lagen im Normbereich, jedoch zeigte sich eine Persistenz von fetalem Hämoglobin und eine erhöhte Aktivität der erythrozytären Adenosin-Desaminase (eADA). Bei hyporegeneratorischen Anämien mit Makrozytose oder hochnormalem MCV in Kombination mit Organanomalien sollte an ein angeborenes Knochenmarkversagenssyndrom (engl.: „inherited bone marrow failure syndrome“ [IBMFS]) gedacht werden. Eine Knochenmarkpunktion zeigte dazu passend einen Mangel an erythroiden Vorläuferzellen im Knochenmark. In diesem Fall handelt es sich um eine Diamond-Blackfan-Anämie (DBA). Aufgrund der unterschiedlichen beteiligten Gene, die in der Regel für ribosomale Proteine codieren, ist eine umfassende genetische Untersuchung mittels „whole exome sequencing“ ratsam. Es ließ sich eine heterozygote Mutation im RPS19-Gen nachweisen, das am häufigsten bei der DBA betroffen ist. Nachdem der Patient zunächst dreiwöchentlich Erythrozytenkonzentrate erhalten hatte, erfolgte ein Therapieversuch nach Leitlinien mit Prednison. Etwa 20 % der Patienten zeigen nach dem Absetzen der Steroidtherapie eine dauerhafte Transfusionsfreiheit [3]. Bei transfusionspflichtigen Patienten, bei denen die Steroidtherapie nicht erfolgreich ist, wird eine hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) empfohlen, wenn ein HLA-identes Geschwisterkind ohne stillen Phänotyp (vorherige Genanalyse erforderlich) oder ein vollständig kompatibler nicht verwandter Spender (10/10) zur Verfügung steht.
Makrozytäre Anämie
Bei hämolytischen makrozytären Anämien umfassen die möglichen Differenzialdiagnosen Defekte der Zellmembran (z. B. Xerozytose) oder des Energiestoffwechsels der Erythrozyten (normo- bis makrozytär). Ein Vitamin-B12-Mangel kann ebenfalls zu einer intramedullären Hämolyse führen.
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Neben einem Nährstoffmangel (Vitamin B12, Folsäure) sind bei hyporegeneratorischen makrozytären Anämien auch angeborene und erworbene Knochenmarkversagenssyndrome in Erwägung zu ziehen.
Bei IBMFS müssen Zytopenien nicht zwingend von Geburt an bestehen, sondern können sich je nach Krankheitsbild erst im Laufe der Jahre manifestieren. Bei der Fanconi-Anämie treten Zytopenien, häufig beginnend mit Thrombozytopenie und Makrozytose, anfangs ohne Anämie, im Durchschnitt um das achte Lebensjahr auf. Die Diamond-Blackfan-Anämie (DBA) betrifft hauptsächlich die erythrozytäre Reihe, und die klinische Manifestation erfolgt typischerweise im ersten Lebensjahr. Bei makrozytären Anämien, die mit weiteren Zytopenien einhergehen, ist eine Knochenmarkbiopsie unerlässlich. Zeigt sich hier eine deutlich verringerte Knochenmarkzellularität, sind die refraktäre Zytopenie der Kindheit (RCC), die schwere aplastische Anämie (SAA) und IBMFS entscheidende Differenzialdiagnosen. Eine genaue Unterscheidung ist für effektive Therapieentscheidungen von entscheidender Bedeutung. Dabei spielt die histopathologische Analyse nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Differenzialdiagnose dieser Erkrankungen, jedoch gewinnen molekulargenetische Tests zunehmend an Bedeutung [4].
L. Kager sitzt im Advisory Board von Agios und Vertex und erhält Honoraria von Novartis und Vertex. W. Novak erhält Honoraria von Vertex und Abacus Medicine. K. Boztug gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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