Einleitung
Unabhängige Metaanalysen belegen die klinische Wirksamkeit von EMDR („Eye Movement Desensitization and Reprocessing“) bei der Behandlung von Traumafolgestörungen [
1‐
4]. Seit 2006 gilt EMDR auch im deutschsprachigen Raum als wissenschaftlich anerkannte Methode [
5] für die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Erwachsenen.
Zu keiner anderen Intervention gibt es so zahlreiche Studien, allerdings erfolgte der Großteil der EMDR-bezogenen Untersuchungen an/mit Menschen ohne krankheitswertige Traumatisierungen. Im gemeinsamen Arbeiten mit Herrn F. zeigt sich, dass das vorgegebene EMDR-Manual nur bedingt einsetzbar ist, wodurch Fragen zur Wirksamkeit aufkommen.
Die vorliegende Arbeit stellt erste Ideen zur Weiterentwicklung der Methode vor, abweichend vom vorgegebenen Protokoll hin zu einer prozessorientierten Handhabung.
Herr F. ist zu Beginn der Therapie 60 Jahre alt. Er wuchs als Adoptivkind bei seiner Pflegemutter mit zwei weiteren Pflegekindern in einer bürgerlichen, katholisch praktizierenden Familie auf. Herr F. beschreibt, dass er sich nie habe wehren können. In der Volksschule habe er sich „schwer getan“. Dieser Lebensabschnitt sei vor allem durch Angst vor der strafenden (schlagenden) Tante und durch Angst vor der schlagenden Ziehmutter geprägt gewesen. Herr F. berichtet, er habe als Kind immer große Angst gehabt und sei lange Bettnässer gewesen.
Die Schulzeit im Alter von 10 bis 18 Jahren verbringt Herr F. in wechselnden Schul- und Heimeinrichtungen unter katholischer Führung. Dort kommt es ebenfalls zu körperlichen Züchtigungen und auch zu sexuellen Missbrauchserlebnissen.
Herr F. lebt alleine in einer Sozialwohnung in einer größeren Stadt.
Diagnostik und Rahmenbedingungen
Die
Diagnostik nach ICD 10 [
6] ergibt eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.0). Bei den katastrophalen Erlebnissen handelt es sich um Man-made-Traumata Typ 1 und Typ 2 [
7].
Symptome am Beginn der PT:
Die Traumafolgestörung ist geprägt von Impulsdurchbrüchen, lebendigen Erinnerungen und Nachhallerinnerungen. Herr F. beschreibt anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung.
Zu Beginn der Therapie nimmt Herr F. folgende
Medikamente:
-
Quetiapin 25 mg, 1-1-2, Depakine 500 mg 1-0-1,
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Thyrex 160 ng 1–0–0 (Thyreoidektomie vor rund 10 Jahren).
Psychotherapieerfahrung hat er bisher nicht.
Therapieplanung
Der phänomenologische Zugang in der Gestalttherapie versucht im Sinne der Gestalttheorie, Phänomene möglichst unvoreingenommen zu beschreiben, um auch die Teile in ihren Wechselwirkungen zu erfassen. Die Symptombehandlung steht dabei nicht im Vordergrund, vielmehr ist die Linderung der Beschwerden eine erwartete Folge der Behandlung.
Die Behandlungsplanung erfolgt verlaufsorientiert und bildet im Sinne der Gestalttherapie ein „breites therapeutisches Vorgehen“ (versus „Traumafokussierung“ [
8]).
Im Fall von Herrn F. kommt es zu einer Kombination von breitem therapeutischem Vorgehen und Traumafokussierung. Methodische Schwerpunkte in der Therapie werden Biografiearbeit, Psychoedukation, Achtsamkeitsübungen, Arbeit an der Impulskontrolle (Battacas), EMDR/DFA (duale Fokus-Arbeit) und Ressourcenarbeiten sein.
Behandlungsverlauf
In den ersten Therapieeinheiten wird deutlich, dass Herr F. seine Lebensgeschichte bruchstückhaft und zeitlich widersprüchlich erzählt. In den ersten 30 Einheiten (EH) wird Biografiearbeit im Mittelpunkt stehen. Methodisch werden Lebensdaten auf der Flipchart gesammelt und immer wieder gemeinsam geordnet.
Den strukturierenden Hintergrund für die erstellten Kategorien bildet das Modell der 5 Säulen der Identität nach H.G. Petzold [
9].
Psychoedukation wird von Beginn an und im gesamten Verlauf der Therapie einen weiteren methodischen Schwerpunkt bilden. Diese wird neben ressourcenorientierten Übungen („Sicherer Ort“ [
10], „Das Verletzliche schützen“ [
11]) genutzt, um den Support (im Sinne von Lore Perls) [
12] des Klienten sicher zu stellen.
Bereits ab der 17. Einheit (EH) formuliert Herr F. wiederholt: „Ich spüre, dass sich was in mir bewegt!“
Die Themenschwerpunkte in den ersten 50 Sitzungen sind Umgang mit der Wut und Umgang mit der Angst („Ich darf wütend sein“). Methodisch wird dies in Gesprächen und der Arbeit mit Battacas, mit denen Herr F. dosierte Impulskontrolle üben kann, umgesetzt, sowie mit gezielten Ressourcenübungen und Dialog-Arbeiten mit dem „Leeren Stuhl“. Nach rund 7 Monaten (31. und 32. EH) kommt es zur vereinbarten ersten EMDR-Sitzung.
Die duale Fokus-Arbeit ist prozessorientiert und nicht fixiert an Techniken
Im ersten Behandlungsjahr finden insgesamt 6 EMDR-Sitzungen statt (davon sind zwei Doppeleinheiten und vier Einzeleinheiten), im zweiten Jahr sind es 11 EMDR bzw. DFA-Sitzungen (davon sind drei Doppeleinheiten und acht Einzeleinheiten), im dritten Jahr kommt es zu weiteren 11 DFA-Sitzungen. Diese sind zu Beginn durch Schwierigkeiten gekennzeichnet.
Die ersten zwei EMDR-Sitzungen orientieren sich am Leitfaden von Oliver Schubbe [
13] nach Francine Shapiro [
14]. Dabei stoßen wir gleich zu Beginn auf Hindernisse:
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Herr F. kann aufgrund einer angeborenen Fehlsichtigkeit seine Augen nicht regelmäßig über mehrere Minuten hin und her bewegen.
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Das Klopfen auf die eigenen Oberschenkel wird bei Erinnerungen mit Gewalterfahrung als schmerzhaft empfunden.
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Die Erarbeitung von „positiven Kognitionen“, wie es der Leitfaden vorsieht, sind für Herrn F. zum Teil aufgrund von Aufgeregtheit im Zusammenhang mit der traumatischen Erinnerung und zum Teil aus intellektueller Überforderung nicht fassbar.
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Die bereits sehr hohe emotionale Involviertheit und Belastung des Klienten am Beginn jeder EMDR-Sitzung wird durch das im Leitfaden vorgesehene Nachfragen der Therapeutin (Körpergefühl) noch verstärkt.
Eine Entscheidung steht bevor: entweder Verwerfen der traumbehandelnden Methode (wie im KollegInnenumfeld immer wieder beobachtet) oder Adaptierung dieser belegt wirksamen Methode für/mit Herrn F.
Erste Recherchen ergeben [
15,
16], dass auch andere Methoden der Aufmerksamkeitsbindung Therapieerfolge erzielen.
Bis dato gibt es keine randomisierten Studien, die das Wiederaufrufen der belastenden Erinnerung(en) verbunden mit der Beziehungsdynamik in Form der achtsamen Präsenz der Therapeutin und deren Interventionen untersuchen. Wenn es sich dabei derzeit auch noch um Spekulationen handelt, so ist aufgrund der aktuellen Studien [
17‐
19] anzunehmen, dass es bei der Behandlung mit EMDR darauf ankommt, das passende Maß an dualem Fokus für den individuellen Menschen herzustellen, bzw. durch Interventionen der Therapeutin das Zusammenspiel von erlebter traumatischer Erinnerung und gleichzeitiger kognitiver und/oder motorischer Tätigkeit so auszubalancieren, dass der zweite Fokus nicht zu sehr von den belastenden Erinnerungen ablenkt – und nicht zu wenig.
Das standardisierte Vorgehen beim EMDR wird erweitert zur dualen Fokus-Arbeit (DFA).
Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Die Wirksamkeit der Therapie wurde in der vorletzten Sitzung aus Sicht des Patienten erhoben [
20]. Der für die Erhebungen der Patientenzufriedenheit im stationären Setting entwickelte Fragebogen erfasst die Sicht des Patienten differenziert und lässt sich auch in der ambulanten Psychotherapie verwenden, allerdings mit eingeschränkter Validität, da der Klient den Fragebogen nicht anonym ausfüllt. Der Fragebogen ergibt bei Herrn F. eine Gesamtzufriedenheit mit der Therapie von 88,75 %, der persönliche Nutzen wird von ihm mit 77,5 % positiv bewertet.
Es kommt zu einer weitgehenden Symptomlinderung, Ängste vermindern sich, die Impulskontrolle nimmt zu, intrusive Erinnerungen nehmen in Frequenz und Intensität ab. Zudem stellt der Klient eine deutliche Zunahme seines Selbstwertgefühls fest. Er berichtet, dass er sich besser abgrenzen könne.
Herr F. nimmt bereits nach 1,5 Jahren Psychotherapie keine antipsychotischen oder antiepileptischen Medikamente mehr.
Der multimodale Zugang der Gestalttherapie durchzogen von regelmäßigen DFA-Arbeiten hat sich als wirksames Vorgehen in der ambulanten Psychotherapie bei der Behandlung von komplexen Traumafolgestörungen gezeigt. Welche Ursache welche Wirkung gezeitigt hat, lässt sich nicht ableiten. Die Vielfalt der Methoden lässt keine Rückschlüsse zu.
Ob der therapeutische Prozess mit Herrn F. ähnliche Wirksamkeit erzielt hätte, wenn keine EMDR- bzw. DFA-Sitzungen stattgefunden hätten, wissen wir nicht. Die positiven Ergebnisse bei Herrn F., vor allem was die starke Verminderung bzw. das Verschwinden der Flashbacks anbelangt, lassen jedoch vermuten, dass diese gezielte Methode der Traumaverarbeitung einen wichtigen Teil davon ausmacht.
Das standardisierte EMDR-Protokoll führte zu Hindernissen, die zu einer Weiterentwicklung der Methode anregten (vgl. dazu die aus diesen Beobachtungen resultierende Masterthese von E. Neidhart [
21]).
Ein wichtiger Aspekt für die Arbeit mit und die Weiterentwicklung von EMDR in der freien gestalttherapeutischen Praxis sind die mit Studien belegten Hinweise [
15], dass es nicht die Augenbewegungen an sich sind, die die Behandlungsmethode effizient machen, sondern der duale Fokus auf die belastende Traumaerinnerung und gleichzeitig auf eine zweite, aufmerksamkeitsfordernde Tätigkeit.
Das passende Maß an emotionaler Involviertheit des Klienten bei der Traumaerinnerung scheint eine zentrale Rolle für die Wirksamkeit von EMDR zu spielen, wie die aktuelle Studie der Utrechter (NL) Forscherin Marloes Eidhof [
19] nahelegt (zu wenig emotionale Involviertheit zeigt eher den gegenteiligen Effekt, nämlich, dass Erinnerungen nach der EMDR-Arbeit als lebendiger empfunden werden).
Wie im Rahmen der Recherchen dieser Arbeit deutlich wurde, gibt es wenige Untersuchungen, die die duale Fokussierung bei belastender Erinnerung bei Menschen mit PTBS oder KPTBS untersuchen, und soweit die Verfasserin feststellen konnte, gibt es keine Untersuchungen, die EMDR im langfristigen Prozess eingebettet in eine Psychotherapie untersuchen.
Das vorhandene Datenmaterial der vorliegenden Arbeit ist kritisch zu sehen, weil es sich hierbei um eine breit gefächerte Dokumentation in Form von schriftlichen Aufzeichnungen nach jeder Therapieeinheit handelt. Die aufgezeichneten Daten sind in ihrer Auswahl bereits subjektiv und müssen angesichts der Komplexität des psychotherapeutischen Langzeitprozesses fragmentarisch bleiben.
Fazit für die Praxis
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Einer der Hauptunterschiede, die die Weiterentwickelung der Methode EMDR mit sich bringt, ist das Weggehen vom starren Protokoll. Die duale Fokus-Arbeit (DFA) ist prozessorientiert und nicht fixiert an Techniken. Die geteilte Aufmerksamkeit der Klienten, eingebettet in die achtsame Beziehung mit dem Therapeuten, werden als Wirksamkeitsfaktoren angenommen.
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Nach dem derzeitigen Stand der Forschung empfiehlt sich keine DFA bei positiven Erinnerungen.
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Die Eingangssequenz des EMDR-Protokolls (positive/negative Selbsteinschätzung, Lokalisieren der Körperempfindung) wird nur dann angewandt, wenn der Klient/die Klientin zu wenig emotionale Involviertheit beim Erinnern zeigt. Ist der Klient/die Klientin bereits emotional erregt, findet diese belastungsverstärkende Befragung nicht statt.
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Wir brauchen einen schöpferischen Umgang, was sowohl die Art der Aufmerksamkeitsbindung, die Frequenz der DFA, die Dauer und den Zeitpunkt der Intervention angeht.
Open access funding provided by Medical University of Vienna.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt.
Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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