Versorgungssituation Österreich
Eine Einschätzung der Versorgungssituation für Österreich gelingt mit aktuell zur Verfügung stehenden Daten deutlich besser als noch vor einigen Jahren. Einerseits wurden 2017 mit der MHAT-Studie [
30] repräsentative epidemiologische Prävalenzdaten für österreichische Kinder und Jugendliche veröffentlicht. Andererseits liegt neben diesen Prävalenzdaten und offiziellen (staatlichen) Messziffern auch eine Publikation [
8] vor, die all diese Daten verknüpft und damit wichtige weitere Schlussfolgerungen ermöglicht.
Die GÖG („Gesundheit Österreich GmbH“) veröffentliche zuletzt 2016 das Papier „Integrierte psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen“ [
12]. Die stationäre und ambulante medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wird im „Österreichischen Strukturplan Gesundheit“ (ÖSG) in der Letztfassung von 2017 geregelt [
3]. Der ÖSG gilt als das zentrale Planungsinstrument des österreichischen Gesundheitswesens und ist Bestandteil der laufenden „Zielsteuerung Gesundheit“. Das Dokument wurde zuletzt vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) herausgegeben und steht über das „Rechtsinformationssystem des Bundes“ (RIS; ris.bka.gv.at) zum Download zur Verfügung. Für Abteilungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) sind darin Bedarfsrichtwerte in Form von sogenannten „Bettenmessziffern“ sowie in Form von Erreichbarkeitskriterien festgelegt. Als Bettenmessziffer (BMZ) wird die Zahl von Behandlungsplätzen pro 1000 Einwohner:innen definiert, die zu einer ausreichenden Versorgung notwendig ist. Im Fall der KJP wurden im ÖSG folgende Richtwerte definiert: BMZ von 0,11 (geltend für alle intramuralen Angebote, also vollstationäre sowie tagesstationäre Plätze), Erreichbarkeit innerhalb von 60 min sowie eine minimale Bettenzahl von 30. Im ÖSG ist die real erreichte BMZ für 2018 mit 0,05 angegeben. Damit standen in Österreich 2018 weniger als die Hälfte der für eine ausreichende Versorgung notwendigen voll- bzw. teilstationären Plätze zur Verfügung [
3]. Fliedl et al. [
8] betonen, dass sich die reale BMZ seither durch einen Ausbau der Kapazitäten auf zuletzt 0,06 erhöht haben dürfte. Zugleich betonen die Autor:innen, dass große regionale Unterschiede bestehen: Die anzustrebende BMZ von 0,11 sei in Vorarlberg und Salzburg nahezu erreicht, in der Steiermark und Wien aber mit 0,04 bzw. 0,05 unter der Hälfte des zu erreichenden Wertes. Die Autor:innen geben an, dass insgesamt österreichweit bei einer BMZ von 0,11 890 voll- bzw. tagesstationäre Plätze zur Verfügung stehen müssten, wovon real im Jahr 2019 lediglich 520 Behandlungsplätze umgesetzt waren [
8].
Der stationäre Bereich wird durch ambulante Angebote ergänzt. Diese können einerseits in Form von Ambulanzen bzw. Ambulatorien, andererseits durch niedergelassene Fachärzt:innen erfolgen. Fliedl et al. [
8] geben als zu erreichende Versorgungsdichte ein Ambulatorium pro 250.000 Einwohner:innen an, d. h. einen Gesamtbedarf von 36 Ambulatorien für Österreich. Derzeit liegt die Gesamtzahl der verfügbaren Ambulanzen bzw. Ambulatorien in Österreich bei 22. Auch hier zeigen sich große regionale Unterschiede zwischen Regionen ausreichender Versorgung (Salzburg, Vorarlberg) und unterversorgten Bundesländern wie Oberösterreich oder Wien. Die Autor:innen betonen die schwierige Vergleichbarkeit dieser Angebote aufgrund von stark unterschiedlicher Ausstattung und Personalressourcen und damit verbundener Versorgungskapazität [
8].
Als dritte Säule der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung gelten niedergelassene Fachärzt:innen, die in Praxen, teils mit Kassenverträgen, teils als Wahlärzt:innen tätig sind. Hier besteht nach Fliedl et al. [
8] österreichweit bevölkerungsbezogen ein Bedarf von 111 vollzeitäquivalenten Kassenstellen zur Minimalversorgung. Von diesen waren 2019 32 Stellen besetzt. Als vierte Säule sind moderne, aufsuchende Behandlungskonzepte wie das Hometreatment, das in Deutschland seit mehreren Jahren erfolgreich und evidenzbasiert durchgeführt wird, unbedingt umzusetzten und die dementsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Zusammenfassend bestehen in Österreich also in allen Versorgungsbereichen (stationär/tagesstationär, Ambulanz, Fachärzt:innen im niedergelassenen Bereich, Hometreatment) nach wie vor große Defizite.
Eine weitere Problematik besteht nach Fliedl et al. [
8] in der Personalentwicklung von Fachärzt:innen für KJP bzw. KJPP. Von den Autor:innen wird auf Basis der derzeitigen jährlichen Abschlüsse sowie der zu erwartenden Abgänge durch Pensionierungen eine stagnierende Zahl von Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medzin (KJPP) prognostiziert [
8]. Das bedeutet, dass eine dünne Personaldecke dem notwendigen Ausbau von Versorgungsstrukturen noch zusätzlich entgegensteht.
Trotz eines fortschreitenden Ausbaus von stationären Kapazitäten sind die Ressourcen diesbezüglich erst in etwa bei der Hälfte der nötigen Plätze angelangt, die vor der Pandemie im ÖSG [
3] als ausreichend genannt wurden. Besonders eklatant stellt sich die Lage im Bereich der niedergelassenen Fachärzt:innen dar, wo weniger als ein Drittel der benötigten Praxen zur Verfügung stehen. Eine zu erwartende prekäre Personalsituation verschärft zusätzlich das Versorgungsdefizit.
Versorgungssituation Deutschland
Wie in einem Artikel von Signorini et al. 2017 [
23] beschrieben, hat Deutschland mit 64 Betten pro 100.000 Einwohner:innen unter 18 Jahren die höchste Anzahl an Betten für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern. Das statistische Bundesamt in Deutschland veröffentlicht jährlich die Grunddaten der Krankenhäuser. Demnach waren 2020 an 143 Fachkrankenhäusern oder Fachabteilungen für KJP 6699 Betten für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen vorbehalten. Eine Auslastung der aufgestellten Betten bestand zu 78,2 %. Insgesamt 56.943 Kinder und Jugendliche wurden 2020 stationär aufgenommen und mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 33,7 Tagen stationär behandelt.
Auch an tagesklinischen Plätzen war in Deutschland ein deutlicher Zuwachs in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen (2004: 1454 Plätze – 2020 : 3895 Plätze = +168 %). Dies führte allerdings nicht im erwarteten Ausmaß zur Entlastung vollstationärer Kapazitäten, stattdessen scheinen durch die teilstationären Betten offenbar insgesamt mehr Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten erreicht zu werden. Im Jahr 2020 wurden in 157 Tageskliniken (TK) 24.632 Patient:innen teilstationär aufgenommen [
25].
Ambulant werden einerseits in aller Regel an den Krankenhäusern niederfrequente diagnostische bzw. vor- und nachstationäre Behandlungstermine in den Institutsambulanzen abgehalten, andererseits gewährleisten niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater:innen, approbierte Kinder- und Jugendlichenpsycholog:innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen die ambulante Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen.
Im Jahr 2014 waren 1018 Kinder- und Jugendpsychiater:innen deutschlandweit tätig [
7]. In den Krankenhäusern arbeiteten 2019 1070 Kinder- und Jugendpsychiater:innen, davon waren 205 leitende Ärzt:innen für KJP, 498 arbeiteten als Oberärzt:innen. 367 Assistenzärzt:innen befanden sich in Ausbildung zur/zum Kinder- und Jugendpsychiater:in [
25].
Trotz dieser sehr guten Ausstattung an stationären aber auch ambulanten Behandlungsplätzen zeigte sich in der BELLA-Studie, dass weniger als die Hälfte der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen sich in einer kinder- und jugendpsychiatrischen/-psychotherapeutischen Behandlung befanden [
11].
Als das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen“ (Psych VVG) am 01.01.2017 in Kraft trat, wurde damit zudem die Grundlage geschaffen, um alternativ zur stationären Behandlung intensives Hometreatment als Krankenhausbehandlung für psychisch kranke Kinder und Jugendliche regelhaft anzubieten. Es wurde hierfür der § 39 des SGB V um den Zusatz ergänzt: „Versicherte haben Anspruch auf stationsäquivalente Behandlung durch ein nach § 108 zugelassenes Krankenhaus, wenn die Aufnahme oder die Behandlung im häuslichen Umfeld nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Die stationsäquivalente Behandlung umfasst dabei eine psychiatrische Behandlung im häuslichen Umfeld durch mobile ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams. Sie entspricht hinsichtlich der Inhalte sowie der Flexibilität und Komplexität der Behandlung einer vollstationären Behandlung.“ Seitdem sind in Deutschland inzwischen an ca. zehn Standorten zusätzlich mobile Behandlungsteams entstanden, Tendenz steigend, mit jeweils 5–10 Behandlungsplätzen, welche multiprofessionell unter der Leitung eines/einer Fachärzt:in für KJP aufsuchende Behandlung im häuslichen Umfeld der psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen unter Einbezug der Eltern anbieten [
1].
Versorgungssituation Schweiz
Das schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) berichtete 2017 in einem Dossier, dass im Bereich der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen zwischen 2006 und 2016 wenig empirische Literatur publiziert wurde. Mehrere Berichte zur Versorgungssituation wiesen deutlich auf eine Unterversorgung in der KJPP, sowohl für den institutionellen als auch für den privaten Sektor, hin.
Laut einer Hochrechnung gab es über 29.000 ambulante institutionelle Behandlungen. 67 % der Institutionen führten eine Warteliste, wobei bei 10 % der Institutionen über drei Monate auf einen Behandlungstermin gewartet werden musste. Nur vier von 23 Kantonen gaben an, über eine gute Abdeckung der stationären KJP zu verfügen und zehn Kantone gaben an, über eine gute Abdeckung ambulanter KJP zu verfügen. Vier Kantone berichteten von einem großen Mangel an Psychiater:innen (inklusive Kinder- und Jugendpsychiater:innen) [
29].
2020 gab es in der Schweiz insgesamt 717 Kinder- und Jugendpsychiater:innen [
9]. Außerhalb des institutionellen Settings bieten niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater:innen und psychologische Psychotherapeut:innen psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung für Kinder und Jugendliche an. Alle stationär angestellten Psychiater:innen im KJP-Bereich berichteten, dass sie mangels Kapazität Patient:innen abweisen mussten. Bei den ambulanten und intermediären Angeboten waren es 64 % der Ärzt:innen, die von Überweisungen aus Kapazitätsmangel berichteten. Die Stellen von Fachärzt:innen im KJP-Bereich bleiben in der Schweiz teilweise über drei Monate vakant. Dieser Mangel an Kinder- und Jugendpsychiater:innen zeigte sich unabhängig von Region und Setting [
29].