Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht einen verwundeten Soldaten. Kyiv verfügt über ein Netz aus militärischen und zivilen Krankenhäusern, die alle bedroht sind.
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Viktor Yatsyk ist Neurochirurg und Berater der Kyiver Stadtregierung unter Bürgermeister Vitaly Klitschko in medizinischen Fragen. Ein Job, dem in diesen Tagen, da die Hauptstadt der Ukraine von russischen Truppen belagert und rund um die Stadt gekämpft wird, besondere Bedeutung zukommt. Spitäler werden beschossen, Städte werden belagert, und auch die Versorgung mit medizinische Gütern wird zum Teil prekär.
Wie ist die aktuelle Situation? Können Sie einen Überblick geben?
Yatsyk: Die Stadt Kyiv liegt nicht weit von den Frontlinien entfernt. Der Angriff auf die Orte nordwestlich der Hauptstadt war für diese Städte verheerend – vor allem für die Zivilbevölkerung. In diesem Teil der Hauptstadt gab es Kur- und Erholungsgebiete mit vielen Wäldern und Naturparks. Familien mit kleinen Kindern und Rentner leben in dieser Gegend, Behindertenheime und Sanatorien für Patienten mit psycho-neurologischen Erkrankungen befinden sich dort. Von jeher gab es an diesen Orten keine militärische Infrastruktur. Als am 24. Februar der russischukrainische Krieg ausbrach, verwandelten sich diese Orte in eine absolute Hölle. Zivilisten und Kinder saßen während der Luftangriffe wochenlang in Kellern, und Ärzte operierten Verwundete während des russischen Beschusses von Krankenhäusern. Russische Soldaten haben mit einem Panzer das Haus meines Kollegen, eines Neurochirurgen, beschossen. Die ganze Familie war gezwungen, das Haus zu verlassen und zu fliehen. Es gibt Tausende solcher Fälle.
Wie kommt die medizinische Infrastruktur der Stadt mit dieser Situation klar?
Yatsyk: Menschen, die medizinische Hilfe benötigten, wurden in Kyiv in Krankenhäuser eingeliefert. Die gesamte medizinische Infrastruktur der Stadt Kyiv ist ausgelastet. Die meisten medizinischen Einrichtungen haben mittlerweile bewaffnete Wachen, die von der Territorialverteidigung der Stadt gestellt werden. Von den ersten Tagen an begannen russische Sabotagebrigaden in der Stadt damit, Funkbaken – Peilsender für Lenkraketen – an wichtigen Infrastruktur-Objekten der Stadt anzubringen. Selbst in Krankenhäusern fand die Territorialverteidigung solche Sender.
Als die Kämpfe ausbrachen, wurden Frauen und Kinder aus der Stadt in den damals sicheren Westteil des Landes evakuiert. Im Nordosten wurden die Städte Tscherginiw, Sumy und Charkiw, eine wissenschaftliche Weltschatzkammer, von den russischen Truppen zerstört. Die russischen Invasoren machen diese Städte dem Erdboden gleich.
Wie funktioniert der Fluss medizinischer Güter nach Kyiv?
Yatsyk: Wir befinden uns seit acht Jahren in einem hybriden Kriegszustand mit Russland, sodass immer die Bereitschaft besteht. Als Russland im Jahr 2021 begann, Truppen an unserer Grenze und an der weißrussisch-ukrainischen Grenze zu konzentrieren, hat sich der medizinische Sektor auf einen offenen Krieg vorbereitet. Die Stadt verfügt über ein ausgedehntes Netz aus militärischen und zivilen Krankenhäusern, die vom ersten Tag des Krieges an bereit waren. Zugleich arbeitet ein Netz von Freiwilligenorganisationen, die Medikamente, Lebensmittel, Kleidung und alles Notwendige für die Bevölkerung der Stadt bringen. Die Stadt wird mit Wärme, Wasser, Internet, Kommunikation, Lebensmitteln und mit Medikamenten versorgt.
Gibt es denn Regionen, die für ukrainisches medizinisches Personal unzugänglich sind oder in denen die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist?
Yatsyk: Die Krankenhäuser in jetzt von Russland besetzten Gebieten haben bis zuletzt gearbeitet – bis der Feind die Kommunikation der Krankenhäuser zerstört oder vernichtet hat.
Aber welche Gebiete sind das und wie ist die humanitäre Lage in diesen Regionen?
Yatsyk: Die medizinischen Einrichtungen liegen im Norden der Oblaste Charkiw und Sumy, Mariupol im Süden und in den kleinen Städten um Kyiv. Dort haben die Menschen am meisten gelitten.
Dr. Viktor Yatsyk, Neurochirurg und Berater der Kyiver Stadtregierung
Privat
Es gab zahlreiche Berichte, dass Krankenhäuser getroffen wurden. Wie hoch sind die offiziellen Zahlen zu den menschlichen Verlusten in den Reihen des medizinischen Personals und zu den materiellen Schäden, die durch solche Aktionen verursacht werden?
Yatsyk: Solange wir nicht alle Opfer der Kämpfe evakuiert haben, ist es schwierig, die menschlichen Verluste in der Bevölkerung und beim medizinischen Personal zu berechnen. Die materiellen Verluste an medizinischer Infrastruktur müssen erst ermittelt werden: Es ist notwendig, Krankenhäuser wieder aufzubauen und neu auszurüsten. Einhundertvier Krankenhäuser wurden beschädigt, sieben davon wurden komplett zerstört.
Ist medizinisches Personal direkt Ziel?
Yatsyk: Die Schrecken des Krieges sind vielfältig, und die Angriffe der russischen Armee richten sich in erster Linie gegen zivile Infrastruktur, einschließlich der Krankenhäuser. Daher kann diese Frage mit Ja beantwortet werden.
Es macht den Eindruck, als wäre die Resonanz in Westeuropa gigantisch. Aber reicht die Hilfe von internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz, Ärzte ohne Grenzen oder den Vereinten Nationen, und was wird von ihnen konkret unternommen?
Yatsyk: Die meisten internationalen Organisationen haben ihre Arbeit in der Ukraine bereits vor dem Krieg eingestellt, nach der Warnung ihrer Botschaften. Das Rote Kreuz führt allgemeine humanitäre Programme durch, aber nur mit ukrainischem Personal und ohne direkt auf den Schlachtfeldern tätig zu werden. Sie liefern humanitäre Hilfe aus Europa, die eher für die Bekämpfung von Epidemien als für eine Kriegssituation relevant ist. Wie die Erfahrung unseres Landes zeigt, hat Europa die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs schnell vergessen und denkt, dass unsere Probleme weit davon entfernt sind. Aber wie die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen, wurden auch unsere Städte an der Grenze zu Polen bombardiert. Trümmer russischer Raketen sind in den letzten Tagen auch in verschiedene Länder an der Westgrenze zur Ukraine geflogen.
Was wird am meisten benötigt?
Yatsyk: Es wird Hilfe auf verschiedenen Ebenen benötigt. Um weitere Raketen- und Bombenangriffe auf unsere Städte zu verhindern, brauchen wir vor allem einmal ein vollwertiges Raketenabwehrsystem. Wie die Erfahrungen der ersten Wochen gezeigt haben, waren die Bodenoperationen des Feindes unwirksam. Die meiste Zerstörung und vor allem auch die meisten Menschenleben gibt es durch Bomben- und Raketenangriffe auf Großstädte. Der Bedarf an humanitärer Hilfe wird von der Dauer des Krieges abhängen.
Welche Art von Behandlungen sind für diese Situation typisch und verfügen Sie über genügend personelle und materielle Ressourcen, um das Problem zu bewältigen?
Yatsyk: Die betroffenen Bürger haben verschiedene Kampfverletzungen, die von Kugeln, Minen und Schrapnellen kommen. Derzeit versorgen wir unsere Bürger mit allem, was sie brauchen: Medikamente, Verbrauchsmaterial, Lebensmittel, neue Kleidung. Zu diesem Zweck nutzen wir aber auch jede mögliche Hilfe des Staates, des Präsidenten, der Bürgermeister, seitens Unternehmen, von Freiwilligen und auch befreundeter Staaten.
Wie lange lässt sich das aufrecht erhalten?
Yatsyk: Das Land hat eine strategische Reserve, aber die Schläge gegen Logistikzentren und die Unterbrechung der Aussaat in einem Land mit einem großen Agrarsektor können dramatische Folgen für unser Land, aber auch Europa und die ganze Welt haben. Aber dieser Krieg ist ja nicht lokal. Die Zerstörung von Städten, Brücken, die russischen Beschlagnahmungen und die atomare Erpressung mit Kernkraftwerken zerstören die Sicherheit ganz Europas. Die Belagerung der Seehäfen stört zudem die kontinentale Logistik, und die Zerstörung von Brücken und Straßen bremst die Verkehrsverbindungen zwischen Europa und Asien auf Jahre. Vor allem aber könnten die ukrainischen Atomkraftwerke durch russische Truppen verwüstet werden und das würde eine kontinentale Umweltkatastrophe für alle europäischen Länder verursachen.
Stefan Schocher arbeitete viele Jahre als Außenpolitik-Redakteur einer großen Tageszeitung. Als freier Journalist konzentriert er sich auf die Berichterstattung über die Ukraine, Belarus, Rumänien und Moldau.
privat
So wie die ganze Welt ist die Ukraine neben diesem Krieg auch mit der Pandemie konfrontiert. Wie wirkt sich die Pandemie auf die aktuelle Situation in den Krankenhäusern aus? Ist das ein gravierendes Problem für die medizinische Infrastruktur?
Yatsyk: In Kyiv haben wir vor dem Krieg gute Ergebnisse bei der Durchimpfung erzielt, sogar mit Auffrischungsimpfungen. Und die Menschen werden in Kriegszeiten genauso krank wie in Friedenszeiten. Die Struktur der Pandemie hat sich durch die Abwanderung in westliche Regionen der Ukraine und ins Ausland etwas verändert. Mehr als zwei Millionen Menschen sind jedoch in der Stadt geblieben. Die Krankenhäuser arbeiten weiter. Die Krankenhäuser nehmen auch weiterhin Patienten mit allen möglichen Krankheiten auf. Wir werden gewinnen. Unsere Feinde sind nichts anderes als Plünderer.
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