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Ärzte Woche

16.09.2024 | Hygiene- und Umweltmedizin

Erstversorgung bei Katastrophen

verfasst von: Florian Breuer & Harald Karutz

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Gerade in Katastrophenszenarien wie Hochwasserereignissen wird deutlich, wie wichtig gut koordinierte Einsatzmaßnahmen sind, um Leben zu retten und den Schaden zu minimieren. In Deutschland hat man sich das genauer angeschaut.

Der Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV) stellt Einsatzkräfte in der frühen Phase vor eine Vielzahl von Herausforderungen. Die ersteintreffenden Kräfte sind maßgeblich gefordert, durch ihr Handeln und ihre Entscheidungen grundlegende Strukturierungen der Einsatzstellenorganisation vorzunehmen. Weiterhin hängt von der Verfügbarkeit von Ressourcen an der Einsatzstelle die Erstversorgung der Patientinnen und Patienten ab, wobei vermeidbare Todesfälle verhindert und Folgeschäden vermieden werden sollen.

Die Ersteinschätzung hat bei derartigen Einsätzen insbesondere zum Ziel, einen Ersteindruck der Lage mit Abschätzung der Anzahl exponierter Personen und einer Gefahrenanalyse zu erhalten. Auf dieser Basis erfolgt dann eine Lagemeldung, beispielsweise an die Leitstelle, um ggf. weitere Einsatzmittel nachzualarmieren. Zuletzt gab es vermehrt Bemühungen dahin gehend, bei größeren rettungsdienstlichen Einsatzlagen neben Verletzten/Erkrankten (= Patienten) auch die Bedürfnisse und Bedarfe betroffener Personen (= Betroffene) hinreichend zu berücksichtigen und damit einhergehend auch begriffliche Abgrenzungen herbeizuführen (Infobox 1, Seite 8) . Die Bezeichnung „Betroffener“ als „Person, auf die ein Ereignis direkt oder indirekt einwirkt, die hierdurch beeinträchtigt wird, aber kein Patient ist“, wurde zwischenzeitlich auch in die DIN 13050 – Begriffe im Rettungswesen – aufgenommen.

Die „psychische Erste Hilfe“, die als Basiskompetenz bereits durch Einsatzkräfte des Rettungsdiensts geleistet werden muss, aber auch Maßnahmen der „psychosozialen Akuthilfe“, die durch die frühzeitige Integration von Fachkräften der Notfallseelsorge oder Mitarbeitenden aus Kriseninterventionsteams sichergestellt werden kann, stellen wertvolle Angebote für Betroffene dar: Dennoch scheint es noch nicht flächendeckend zu gelingen, die Versorgung Betroffener adäquat in den regionalen Einsatzplanungen zu berücksichtigen. In vielen Fällen sind auch die Zuständigkeiten dahin gehend nicht hinreichend geklärt. So regeln die Landesrettungsdienstgesetze üblicherweise nur die Versorgung einer größeren Anzahl Verletzter oder Erkrankter, nicht jedoch Betroffener. Beispielsweise geht aus § 2 Abs. 2 des Rettungsgesetzes NRW die Zuständigkeit des Rettungsdienstes lediglich für die Versorgung einer größeren Anzahl Verletzter oder Kranker bei außergewöhnlichen Schadensereignissen hervor. Regelungen zur Versorgung von Betroffenen finden sich zwar im Landeskonzept der überörtlichen Hilfe NRW „Sanitäts- und Betreuungsdienst“, allerdings wird die Betreuung hier als „Aufgabenbereich im Katastrophenschutz zur sozialen und psychosozialen Versorgung von betroffenen, aber unverletzten Personen“ definiert. Der Einsatz einer Betreuungsgruppe oder die Einrichtung eines Betreuungsplatzes 500 erfolgt nach diesem Konzept nur bei ausgedehnten Flächenlagen oder Großeinsatzlagen/Katastrophen. Die zuvor genannte Definition der Betreuung als „Aufgabenbereich im Katastrophenschutz zur sozialen und psychosozialen Versorgung von Betroffenen“ lässt auch fälschlicherweise auf eine ausschließliche Wahrnehmung der Aufgabe „Betreuung“ im Katastrophenschutz rückschließen.

In Berlin existiert seit 2021 ein eigenständiges Gesetz über die psychosoziale Notfallversorgung (PSNV), in dem detaillierte Regelungen zu psychosozialen Akuthilfen für Betroffene von Unglücksfällen enthalten sind. Insgesamt variiert der Stellenwert der Versorgung Betroffener in den regionalen Einsatzplänen enorm. In einige Konzepte zur Bewältigung größerer Schadenslagen bzw. eines Massenanfalls von Verletzten sind Kriseninterventionsteams und Fachkräfte der Notfallseelsorge auf kommunaler Ebene eingebunden, in einige aber auch nicht. Eine einheitliche, standardisierte Integration von Betreuungs- und PSNV-Kräften, auch unterhalb der Schwelle zur Großeinsatzlage oder Katastrophe, fehlt, wenngleich schon vor vielen Jahren auf entsprechenden Regelungsbedarf hingewiesen worden ist. Insbesondere fällt aber auch auf, dass zwar planerische Verteilungsschlüssel das Aufkommen von Verletzten/Erkrankten einschätzen lassen, allerdings finden sich keine dokumentierten Erfahrungswerte oder Daten zum prozentualen Aufkommen von Betroffenen an derartigen Einsatzstellen.

Sichtung und Betreuungsbedarfserhebung

Im Rahmen von Ersteinschätzung, Vorsichtung und Sichtung soll während der Abschätzung der Anzahl von Exponierten und der medizinischen Zustandsbeurteilung auch die Erfassung der Anzahl von Betroffenen erfolgen. Weiterhin muss bereits in einer frühen Phase bewertet werden, ob vulnerable Gruppen unter den Betroffenen sind (z. B. ältere Menschen oder Kinder). Kinder und Jugendliche sind als Betroffene hinsichtlich der Entwicklung von Traumafolgestörungen (posttraumatische Belastungsstörung) und weiteren negativen psychischen Ereignisfolgen besonders gefährdet. Ein Algorithmus zur standardisierten Betreuungsbedarfserhebung hat sich bislang jedoch nicht durchgesetzt. Seitens der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e. V. wurde ein standardisiertes Verfahren zur Ermittlung von Betreuungsbedarf und zur Priorisierung von Betreuungsleistungen in der Akutphase von entsprechenden Einsätzen veröffentlicht, in Bezug auf die Anwendbarkeit existieren bislang allerdings noch keine Erfahrungswerte. Auch wenn der Begriff Betreuungssichtung bewusst vermieden wurde, um die medizinische Sichtung klar abzugrenzen, soll aus dem Sichtungsprozess auch die Identifizierung und Kenntlichmachung Betroffener regelhaft hervorgehen können.

Es ist davon auszugehen, dass die Abgrenzung Betroffener von Patientinnen und Patienten der Sichtungskategorie (SK) III (grün) im Rettungsdienst nicht hinreichend gelingt. Hierzu trägt vermutlich auch bei, dass im Rahmen der Initialphase der Sichtung gehfähige Patientinnen und Patienten entsprechend den gängigen Vorsichtungsalgorithmen zunächst als der Sichtungskategorie III zugehörig registriert werden. Für die rettungsdienstliche Einsatzplanung wird im Ergebnis der Sichtungs-Konsensus-Konferenz 2017 ein Verteilungsschlüssel von 20 % SK I, 30 % SK II und 50 % SK III zugrunde gelegt. Zuletzt sind einige Veröffentlichungen erschienen, aus denen reale Verteilungen, aufgeschlüsselt nach Schadensereignissen, hervorgehen. Auch wenn die Einsatzrealität nicht der zuvor genannten Verteilung folgt, so scheint dennoch – insbesondere aufgrund von abweichenden Verteilungen bei Verkehrsunfällen und Anschlags-/ Terrorszenarien – ein derartiger Schlüssel zur MANV-Planung sinnvoll zu sein. Bislang nicht abgebildet und diskutiert wurde allerdings der prozentuale Anteil Betroffener an der Gesamtzahl exponierter Personen. Aus einer eigenen Erhebung aus Berlin aus dem Jahr 2018 (n = 600 Exponierte), im Rahmen derer im Nachgang zur 7. Sichtungs-Konsensus-Konferenz bewusst zwischen Patientinnen/Patienten und Betroffenen unterschieden worden ist, geht ein signifikanter Anteil Betroffener bei den verschiedenen MANV-Ereignissen hervor (siehe Tab. 1) . Diese Problematik ist in Einsatzplanungen bislang weitestgehend unbeachtet geblieben.

Betreuung und psychosoziale Notfallversorgung

Um eine adäquate und effektive Hilfe für Betroffene unmittelbar während eines Schadensereignisses anbieten zu können, bedarf es der Integration der Versorgung Betroffener in die MANV-Pläne der Rettungsdienstträger. Weiterhin müssen die Einsatzkräfte des Rettungsdiensts in Bezug auf die zu erwartende Versorgung Betroffener hinreichend sensibilisiert und geschult sein. Damit einher geht aber auch die frühzeitige Parallelalarmierung von Einsatzkräften, die die psychosoziale Akuthilfe sicherstellen können. Auch schon unterhalb der Schwelle zu sogenannten Großeinsatzlagen und Katastrophen, in denen aber ein größerer Betreuungsbedarf besteht, sollten entsprechende Schnelleinsatzgruppen (SEG) alarmiert werden können.

Insbesondere muss auch ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass Betroffene und Patientinnen/Patienten der SK III an Einsatzstellen hinreichend unterschieden werden. Auch für die Betreuungsbedarfserhebung sollten geeignete Planungsschemata bzw. Algorithmen zur Anwendung kommen.

In eben diesem Zusammenhang wurde jüngst seitens des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eine Fachempfehlung für den PSNV-Einsatz in komplexen MANV-Lagen veröffentlicht, aus der auch ein Kräfteansatz für PSNV-B-Lagen (psychosoziale Notfallversorgung Betroffener) hervorgeht. Der Personalbedarf bei größeren Schadenslagen mit PSNV-B liegt demnach bei 1:10 bis 1:5 (PSNV-Kräfte zur Anzahl Betroffener), wobei die Betreuungs- und Personalintensität von statischen und dynamischen (Einsatz-)Faktoren abhängig ist. Sobald mindestens drei PSNV-Einsatzkräfte vor Ort sind, wird darüber hinaus der Einsatz einer PSNV-Führungskraft empfohlen (siehe Tab. 2) . Auf diese Weise kann eine Anbindung der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV-B) an entsprechende Alarmstichworte (z. B. Betreuung 10) sichergestellt werden. Zudem bietet die Fachempfehlung des BBK eine wertvolle Orientierung zum Kräfteansatz im Rahmen der psychischen Ersten Hilfe durch den Rettungsdienst oder die Feuerwehr. Die Empfehlungen des BBK sollten in den Einsatzplänen des Rettungsdiensts Berücksichtigung finden. Weiterhin empfiehlt es sich, dass neben dem Massenanfall von Verletzten/Erkrankten regelhaft auch solche Ereignisse mitgedacht werden, bei denen der Massenanfall Betroffener überwiegt (z. B. komplex betroffene Person: Eine Person, auf die ein Ereignis direkt (unmittelbar) oder indirekt (mittelbar) wirkt, die hierdurch beeinträchtigt sein kann und nicht Patient ist Wohnhausbrände ohne Verletzte). Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat dies erkannt und definiert den Massenanfall von Verletzten (MANV) als „Notfall mit einer größeren Anzahl von Verletzten oder anderen Geschädigten oder Betroffenen, der besondere planerische und organisatorische Maßnahmen erfordert“.

Es wäre wünschenswert, wenn ein derart umfassendes Begriffsverständnis tatsächlich auch in der Einsatzpraxis etabliert würde.

Dr. med. Florian Breuer, der korrespondierende Autor, ist tätig als ärztlicher Leiter des Rettungsdiensts Rheinisch-Bergischer Kreis, Amt für Rettungsdienst, Bevölkerungs- und Brandschutz in Bergisch Gladbach.

Der Originalbeitrag „Betreuung und psychosoziale Notfallversorgung Betroffener beim Massenanfall von Verletzten/Erkrankten“ ist erschienen in „Notfall Rettungsmed 27, 347–350 (2024)“, https://doi.org/10.1007/s10049-024-01340-3 © Springer Verlag

Mehr zu diesem Thema finden Sie in der Zeitschrift Notfall + Rettungsmedizin

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Metadaten
Titel
Erstversorgung bei Katastrophen
Publikationsdatum
16.09.2024
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 39/2024