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Open Access 17.03.2025 | Kolorektales Karzinom | Originalien

Familiärer und erblich bedingter Darmkrebs

Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung

verfasst von: PD Dr. med. Kaspar Truninger, Prof. Dr. med., Dr. phil. nat Karl Heinimann

Erschienen in: Schweizer Gastroenterologie

Zusammenfassung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz die dritthäufigste Karzinomart. In rund 25 % aller Neuerkrankungen besteht eine positive Familienanamnese. Ätiologisch kann zwischen dem familiären (fKRK) und dem erblichen KRK (eKRK) im engeren Sinne unterschieden werden. In der Mehrheit der Fälle liegt das fKRK ohne Nachweis einer pathogenen Keimbahnmutation in einem definierten Gen vor. Das Erkrankungsrisiko ist für Angehörige betroffener Familien viel kleiner als beim wesentlich selteneren eKRK, bei dem zwischen Formen mit und ohne Polypose unterschieden wird. Die Mehrheit der Kantone führt mittlerweile ein organisiertes KRK-Screening durch, dadurch werden vermehrt Personen erfasst und untersucht, welche über eine positive Familienanamnese für das KRK berichten. Wegen des unterschiedlichen Tumorrisikos zwischen dem fKRK und eKRK ist eine möglichst gute Risikobeurteilung wichtig, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer intensivierten Vorsorge und Überwachung für Betroffene und Verwandte zu optimieren. Diese Arbeit soll bei Vorliegen einer für das KRK positiven Familienanamnese im klinischen Alltag als Grundlage für die Planung der Vorsorge und Überwachung sowie der humangenetischen Beratung dienen.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Abkürzungen
AFAP
Attenuierte familiäre adenomatöse Polypose
AP
Adenomatöser Polyp
BSG
British Society of Gastroenterology
eKRK
Erbliches kolorektales Karzinom
FAP
Familiäre adenomatöse Polypose
FDR
First-degree Relatives
FIT Test
Immunologischer Test auf okkultes Blut im Stuhl
fKRK
Familiäres kolorektales Karzinom
ESGE
European Society of Gastrointestinal Endoscopy
HNPCC
Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer
HP
Hyperplastischer Polyp
KRK
Kolorektales Karzinom
LLS
Lynch-like Syndrom
LS
Lynch-Syndrom
MAP
MUTYH-assoziierte Polypose
MMR
Mismatch Repair
SP
Serratierter Polyp
SPS
Serratiertes Polypose-Syndrom
USMSTF
US Multi-Society Task Force

Einleitung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz bei beiden Geschlechtern sowohl hinsichtlich jährlicher Neuerkrankungen wie Krebstodesfällen die dritthäufigste Karzinomart [1]. Im Laufe des Lebens erkranken rund 3,7 % der Frauen und 5,2 % der Männer an einem KRK. Ätiologisch kann zwischen dem sporadischen (sKRK), dem familiären (fKRK) und dem erblichen (eKRK) Darmkrebs im engeren Sinne unterschieden werden mit je etwa 75 %, 20 % bzw. 5 % aller Neuerkrankungen [2]. Der wichtigste Risikofaktor des sKRK ist das Alter, allerdings tritt diese Form in den letzten Dekaden immer häufiger schon vor dem 50. Lebensjahr auf, die Ursachen hierfür sind nur unvollständig verstanden [35]. In einigen Familien tritt das KRK gehäuft auf. In der Mehrheit dieser Fälle liegt die familiäre Form des KRK vor, bei der keine pathogene Keimbahnmutation in einem definierten Gen nachweisbar ist. Eine erbliche Form des KRK liegt bei einer positiven Familienanamnese nur selten vor, Angehörige von Familien mit einer nachweisbaren Keimbahnmutation haben jedoch ein hohes Erkrankungsrisiko [2]. Zu den erblichen (hereditären) Formen zählen insbesondere das eKRK ohne Polypose („nonpolyposis colorectal cancer“, HNPCC, heute Lynch-Syndrom [LS] genannt) und verschiedene Polypose-Syndrome (siehe unten).
In der Schweiz ist die Darmkrebsvorsorge für Erwachsene zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr mit normalem Erkrankungsrisiko mittels Koloskopie alle 10 Jahre oder durch quantitativen immunologischen Nachweis von okkultem Blut im Stuhl (FIT Test) alle 2 Jahre im Krankenversicherungsgesetz anerkannt. Die meisten Kantone führen ein organisiertes Screening-Programm durch. Dadurch werden vermehrt Personen erfasst und untersucht, welche über eine positive Familienanamnese für das KRK berichten. Diverse Fachgesellschaften empfehlen für Angehörige betroffener Familien eine intensivierte Vorsorge [68]. Für die Teilnahme an der Vorsorge müssen individuelle Vor- und Nachteile, aber auch gesellschaftliche Faktoren wie Kosten, limitierte personelle Ressourcen etc. berücksichtigt werden. Wegen des unterschiedlichen Tumorrisikos zwischen familiären und genetisch bedingten Formen, ist die Risikobeurteilung wichtig, um eine intensivierte Vorsorge sinnvoll zu gestalten und deren Nutzen-Risiko-Verhältnis zu verbessern [9].
Bei dieser Übersichtsarbeit handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie publizierten Expert Opinion Statements „Familiäres Auftreten von Darmkrebs: Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung“ [10]. Diese Arbeit soll bei positiver KRK-Familienanamnese im klinischen Alltag als pragmatische Grundlage für die Planung der Vorsorge und Überwachung sowie der humangenetischen Beratung dienen. Daten aus randomisierten kontrollierten Studien gibt es kaum, d. h. die verfügbare Evidenz für das hier vorgeschlagene Vorgehen ist von moderater, teilweise auch nur niedriger Evidenz. Daher soll das Vorgehen im Einzelfall geprüft und der individuellen Situation der Patientinnen und Patienten unter Berücksichtigung der gesamten klinischen Situation angepasst werden.

Familiärer Darmkrebs

Allgemeines

Rund 20–30 % aller Patienten mit einem KRK haben Verwandte mit dem gleichen Tumorleiden, wobei in rund der Hälfte ein Familienmitglied ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) betroffen ist [2]. Beim fKRK finden sich oft mehrere, manchmal auch vor dem 50. Lebensjahr erkrankte Angehörige. Exom-Sequenzierungen bei mehr als 3000 Patienten mit einem fKRK konnten in ca. 16 % eine pathogene Keimbahnvariante in einem der bislang bekannten Prädispositionsgene identifizieren [11]. Das fKRK stellt eine heterogene Gruppe dar, bei welcher das Erkrankungsrisiko durch den Verwandtschaftsgrad, die Anzahl betroffener Familienmitglieder und deren Erkrankungsalter beeinflusst wird [12, 13]. In Beobachtungsstudien war das Erkrankungsrisiko für Personen betroffener Familien 2–6 fach erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [14]. Beim Entscheid für eine intensivierte Vorsorge sollen nicht nur das relative, sondern auch das absolute Erkrankungsrisiko berücksichtigt werden [11, 15]. Anhand der oben erwähnten Zahlen besteht in der Schweiz ein Lebenszeitrisiko von 8–20 % bei Vorliegen eines fKRK. Am höchsten ist das Risiko für die Verwandtschaft im 1. Grad und wenn beim Betroffenen die Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten ist [12, 13]. Die möglichst gute Abschätzung der Risikoerhöhung durch eine detaillierte Erhebung der Familienanamnese ist für die weitere Planung einer sinnvollen und ggf. intensivierten Vorsorgestrategie (welche Untersuchung ab welchem Alter, Häufigkeit der Testung) für gesunde Familienmitglieder wichtig. Allerdings ist die Familienanamnese für das KRK und besonders für Polypen nur beschränkt zuverlässig, da diese den Angehörigen oft nicht oder nur unvollständig bekannt ist [16]. Hinzu kommt, dass Familien heutzutage immer kleiner werden, was die Erkennung eines hereditären Syndroms erschweren kann. Die Familienanamnese verändert sich mit der Zeit und soll daher periodisch neu erhoben werden.

Vorsorge

Fachgesellschaften verschiedener Länder haben Richtlinien zur Vorsorge beim fKRK publiziert. Da die Datenqualität der Beobachtungsstudien höchstens moderat ist, besteht ein erheblicher Spielraum zur Interpretation, was sich in der Heterogenität der Richtlinien zeigt. Grundlage für die Anwendung einer fKRK-Screening-Strategie ist, dass eine erbliche Form eines KRK weitgehend ausgeschlossen oder sehr unwahrscheinlich ist (siehe Abschnitt erblicher Darmkrebs). Wie erwähnt, ist das Erkrankungsrisiko beim fKRK sehr variabel. Da Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 2 (Enkel/-in, Grosseltern, Onkel/Tante) kaum und weiter entfernte Verwandte kein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben, empfehlen die meisten Fachgesellschaften bei dieser Konstellation keine intensivierte Vorsorge, sondern die Teilnahme an den lokalen Screening-Programmen für Personen mit Durchschnittsrisiko. Da hingegen Personen im Verwandtschaftsgrad 1 ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöhtes Darmkrebsrisiko haben, erscheint für diese Personen eine intensivierte Vorsorge gerechtfertigt, auch wenn der protektive Effekt der Screening-Koloskopie in dieser Gruppe nur durch wenige Studien belegt ist [17, 18]. Die Kriterien für die Klassifikation eines gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhten KRK-Risikos sind bei den verschiedenen Fachgesellschaften sehr unterschiedlich. Historisch von Bedeutung waren die Amsterdam-Kriterien I (1991) bzw. II (1999), die zur Identifikation der dem Lynch-Syndrom (LS) zugrunde liegenden Gene bzw. der Erfassung von LS-Patient/-innen entwickelt wurden, sowie die revidierten Bethesda-Guidelines (2004), die mittels Untersuchung der Mikrosatelliten-Instabilität im Tumor die Sensitivität weiter erhöht haben (für eine Kriterienzusammenstellung s. a. Jasperson et al., 2010) [2]. Je jünger die betroffene Person bei der Darmkrebsdiagnose war, umso höher ist das Risiko für Angehörige im Verwandtschaftsgrad 1 [13]. Die Guidelines der „US Multi-Society Task Force on Colorectal Cancer“ (USMSTF) empfehlen eine intensivierte Vorsorge jedoch unabhängig vom Erkrankungsalter, wenn eine Person mit Verwandtschaftsgrad 1 ein KRK hatte [6]. Die „European Society of Gastrointestinal Endoscopy“ (ESGE) und die „British Society of Gastroenterology“ (BSG) empfehlen eine intensivierte Vorsorge bei einer betroffenen Person im Verwandtschaftsgrad 1 nur dann, wenn deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr auftrat (Tab. 1; [7, 8]). Sind hingegen zwei Personen im Verwandtschaftsgrad 1 an einem KRK erkrankt, dann schlagen die meisten Fachgesellschaften eine intensivierte Vorsorge unabhängig von deren Erkrankungsalter vor.
Tab. 1
Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften zur intensivierten Vorsorge bei familiärem Darmkrebs*
Fachgesellschaft
Familienanamnese Darmkrebs
Beginn
Modalität
Intervall Überwachung**
ESGE 2019
≥ 1 VG1 mit KRK im Alter < 50
oder
≥ 2 VG1 mit KRK, altersunabhängig
40
Koloskopie
Alle 5 Jahre
BSG 2020
≥ 1 VG1 mit KRK im Alter < 50
oder
≥ 2 VG1 mit KRK, altersunabhängig
55
Koloskopie
Nationales Screening
USMSTF 2017
≥ 1 VG1 mit KRK im Alter < 60
oder
≥ 2 VG1 mit KRK, altersunabhängig
40***
Koloskopie
Alle 5 Jahre
1 VG1 mit KRK im Alter > 60
40
Wie Durchschnittsrisiko
Wie Durchschnittsrisiko
SGGSSG 2024****
1 VG1 mit KRK im Alter > 60
40–45
Koloskopie
Alle 5–10 Jahre
≥ 1 VG1 mit KRK im Alter < 60
oder
≥ 2 VG1 mit KRK, altersunabhängig
oder
1 VG1 und ≥ 2 VG2 mit KRK, altersunabhängig
40
Koloskopie
Alle 5 Jahre
VG1 Verwandtschaftsgrad 1 (Eltern, Geschwister, Kinder), VG2 Verwandtschaftsgrad 2 (Grosseltern, Tante/Onkel, Enkel/-in), KRK Kolorektales Karzinom, ESGE European Society of Gastrointestinal Endoscopy, BSG British Society of Gastroenterology, USMSTF US Multi-Society Task Force, SGGSSG Schweizerische Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie
*Als Voraussetzung zur Anwendung der Empfehlungen gilt der (möglichst sichere) Ausschluss einer erblichen Form von Darmkrebs
**Nach Entfernung von Polypen gelten die Empfehlungen der jeweiligen Fachgesellschaften zur Nachsorge nach Polypektomie
***Alter 40 oder 10 Jahre früher als das Manifestationsalter beim jüngsten betroffenen Familienmitglied
****Als Voraussetzung zur Anwendung der Empfehlungen gelten eine optimale Darmreinigung und die Erfüllung der SGGSSG-Empfehlungen zur Qualität der Vorsorgekoloskopie
Es bestehen zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften nicht nur verschiedene Kriterien zur Rechtfertigung der intensivierten Vorsorge, sondern auch unterschiedliche Vorgehensweisen, ab welchem Alter und mit welcher Häufigkeit die Vorsorge erfolgen soll [68]. Wie in Tab. 1 dargestellt, variiert der Beginn der Vorsorge bei fKRK je nach Fachgesellschaft zwischen 40 und 55 Jahren. Wenn eine intensivierte Vorsorge empfohlen ist, dann soll diese mittels Koloskopie erfolgen. Wird die Koloskopie abgelehnt oder ist nicht durchführbar, dann kann alternativ die Vorsorge mit dem FIT-Test erfolgen, vorzugsweise jährlich [19]. Das weitere Vorgehen richtet sich nach der Konstellation der Familienanamnese (Tab. 1), dem Befund der Erstkoloskopie bzw. nach Polypenentfernung entsprechend den Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften zur Nachsorge nach Polypektomie [20]. Eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit fasst die Guidelines der genannten und weiterer Fachgesellschaften zusammen und stellt die Divergenzen dar [21].
Nur wenige Studien haben untersucht, ob nach Polypektomie das Risiko für metachrone Polypen höher ist bei einer positiven als bei einer negativen KRK-Familienanamnese. Für adenomatöse Polypen (AP) wurde eine Risikoerhöhung für metachrone fortgeschrittene wie auch nichtfortgeschrittene AP gezeigt. Das Risiko war vor allem erhöht, wenn zwei oder mehr erstgradig Verwandte ein KRK hatten, und es betraf vor allem jüngere (< 50) Personen [22, 23]. Die ESGE und BSG empfehlen dennoch die gleiche Nachsorge für Personen mit AP und positiver KRK-Familienanamnese wie für Personen mit AP und Durchschnittsrisiko.

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines verschiedener Fachgesellschaften empfehlen wir das intensivierte Screening mittels Koloskopie alle 5 Jahre ab Alter 40 für Personen, bei denen ein Familienmitglied im Verwandtschaftsgrad 1 vor dem 60. Lebensjahr an einem KRK erkrankt ist, für Personen mit zwei oder mehr betroffenen Angehörigen derselben Familienseite im Verwandtschaftsgrad 1, unabhängig von deren Erkrankungsalter, sowie für Personen, bei denen ein Familienangehöriger im Verwandtschaftsgrad 1 und zusätzlich mindestens zwei Angehörige mit Verwandtschaftsgrad 2 betroffen sind. Wenn ein Familienmitglied im Verwandschaftsgrad 1 nach dem 60. Lebensjahr an einem KRK erkrankte, dann empfehlen wir das Vorgehen wie in Tab. 1 dargestellt. Die Nachsorge nach Polypektomie kann entsprechend den revidierten schweizerischen Konsensusempfehlungen erfolgen bzw. im Einzelfall, möglicherweise bei jüngeren Betroffenen, verkürzt werden [20].
Nebst dem möglichst sicheren Ausschluss einer erblichen Form eines KRK beim Indexpatienten ist die hohe Qualität der Erstkoloskopie Voraussetzung für die Anwendung dieser Empfehlungen. Die Koloskopie soll mit High-definition-Auflösung erfolgen, hingegen gibt es keine Evidenz für den Nutzen der generellen Anwendung der Chromoendoskopie [7]. Letztlich sei erwähnt, dass Angehörige von Familien mit einem fKRK auf die Relevanz der Primärprävention hingewiesen werden sollen (normaler BMI, nicht rauchen, regelmässige körperliche Aktivität, moderater Konsum von rotem und prozessiertem Fleisch sowie Alkohol; [24]).

Verwandte von Patienten mit kolorektalen Polypen

Nur wenige Fachgesellschaften haben Guidelines zur Gestaltung der Vorsorge für Angehörige von Personen mit benignen kolorektalen Polypen publiziert. Die verfügbare Datenlage hierzu ist kontrovers [25, 26]. Nebst dem Verwandschaftsgrad ist die Risikoerhöhung für ein KRK abhängig vom Alter und ob fortgeschrittene oder nichtfortgeschrittene Polypen vorlagen. Eine intensivierte Vorsorge wird nur empfohlen, wenn bei einem Verwandten im Verwandtschaftsgrad 1 fortgeschrittene AP (≥ 10 mm oder Nachweis von hochgradiger Dysplasie oder ≥ 5 AP unabhängig von der Grösse und dem Dysplasiegrad) abgetragen wurden. Ist die Histologie der entfernten AP nicht bekannt, dann wird keine intensivierte Vorsorge empfohlen. Noch dürftiger ist die Datenlage zu fortgeschrittenen SP (≥ 10 mm oder Nachweis von Dysplasie oder ≥ 5 SP unabhängig von der Grösse und dem Dysplasiegrad, traditionell serratierte Adenome unabhängig von der Grösse und dem Dysplasiegrad), für diese empfiehlt die USMSTF das gleiche Vorgehen wie bei fortgeschrittenen AP, während mehrere andere Fachgesellschaften keine spezifischen Empfehlungen abgeben [68]. Zwei schwedische Studien, deren Daten teilweise am gleichen Kollektiv erhoben wurden, wiesen für erstgradig Verwandte ein erhöhtes KRK-Risiko unabhängig vom Polypen-Subtyp nach. Das Risiko war vor allem für das Auftreten eines KRK vor dem 50. Lebensjahr erhöht und nahm zu, wenn jüngere Personen mehrfach Polypen hatten [27, 28]. Sollten sich diese Daten bestätigen, dann wird möglicherweise in Zukunft eine intensivierte Vorsorge bei einer positiven Familienanamnese für Polypen aller Subtypen empfohlen, sofern mindestens zwei Familienangehörige im Verwandtschaftsgrad 1 Polypen vor dem 50. Lebensjahr hatten, d. h. unabhängig von deren Histologie, welche oft nicht verfügbar ist.

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage und den Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das Screening mittels Koloskopie alle 5–10 Jahre ab Alter 40 für Personen mit einem Familienangehörigen im Verwandtschaftsgrad 1, bei dem vor dem 50. Lebensjahr dokumentiert ein fortgeschrittener Polyp (AP oder SP) abgetragen wurde. Anhand der derzeitigen Datenlage können keine Empfehlungen gemacht werden bei einer anderweitig positiven Familienanamnese für kolorektale Polypen.

Serratiertes Polypose-Syndrom

Das serratierte Polypose-Syndrom (SPS) ist das häufigste kolorektale Polypose-Syndrom mit einer Prävalenz von etwa 1:240 [29]. Eine 2022 publizierte Metaanalyse berichtete über ein KRK-Risiko für SPS-Patienten von 20 % [30]. Meist wurde die SPS-Diagnose erst zum Zeitpunkt der KRK-Diagnose gestellt, wenn hingegen das Vorliegen eines SPS bereits bekannt war, dann betrug das Karzinomrisiko während der Überwachung etwa 3 %. Die dem SPS zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind weitgehend unbekannt, das SPS ist daher klinisch definiert: (i) ≥ 5 SP proximal des Rektums, alle ≥ 5 mm, zwei dieser Polypen müssen ≥ 10 mm sein; (ii) > 20 SP unabhängig von deren Grösse, ≥ 5 dieser Polypen müssen proximal des Rektums sein. Die Anzahl SP wird kumulativ über mehrere Koloskopien berechnet und umfasst alle SP-Subtypen [29]. Auch wenn kein erbliches Syndrom im engeren Sinne vorliegt, haben erstgradige Verwandte von Patienten mit einem SPS ein etwa 5-fach erhöhtes KRK-Risiko [31].
Die Überwachung von SPS-Patienten mittels Koloskopie kann alle 1–2 Jahre erfolgen [8]. Einige Fachgesellschaften empfehlen zunächst eine Clearing-Phase mit Entfernung aller Polypen (ausser HP < 5 mm), gefolgt von einer jährlichen Überwachung bei mindestens einem fortgeschrittenen Polypen (AP oder SP) oder ≥ 5 nicht-fortgeschrittenen Polypen bzw. einer 2‑jährlichen Überwachung ohne solche Konstellation [32, 33]. Für Verwandte im ersten Verwandtschaftsgrad von SPS-Patienten kann eine koloskopische Überwachung alle 5 Jahre ab Alter 40–45 (oder SPS-Manifestationsalter des erstgradig Verwandten oder 10 Jahre früher als dessen Erkrankungsalter) erfolgen [8, 34].

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der derzeit verfügbaren Datenlage schlagen wir das genannte phänotypabhängige Vorgehen mit einer Clearing-Phase, gefolgt von 2‑jährlichen Koloskopien vor, sofern keine fortgeschrittenen und weniger als 5 Polypen vorliegen (grössenunabhängig, alle Subtypen). Falls dies jedoch der Fall ist, dann soll die koloskopische Kontrolle jährlich erfolgen.

Familiäres kolorektales Karzinom Typ X

Diese Entität umfasst die rund 40 % Patienten mit klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines LS (3 Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 mit KRK, 2 Generationen betroffen), ohne dass eine MMR-Defizienz oder eine Mutation in einem der MMR-Gene nachweisbar ist. Das Karzinomrisiko in dieser Gruppe beschränkt sich auf das Kolorektum und ist kleiner als beim LS und dem Lynch-like Syndrom (LLS; [35]), sodass meist eine Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 (oder 10 Jahre früher als das jüngste Manifestationsalter innerhalb der Familie) vorgeschlagen wird [8, 36].

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor: Koloskopie alle 3–5 Jahre ab Alter 40 oder 10 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes.

Erblicher Darmkrebs

Beim erblichen KRK kann zwischen Darmkrebs ohne vorbestehende Kolon-Polypose („nonpolyposis colorectal cancer“) und den Polypose-Erkrankungen unterschieden werden (Tab. 2), bei Letzteren zudem nach dem vorherrschenden Polypen-Subtyp. Wie aus Tab. 2 ersichtlich, beschränkt sich die erhöhte Tumoranfälligkeit meist nicht nur auf ein einzelnes Organsystem wie das Kolorektum. Oft zeigen sich sowohl inter- wie intrafamiliär phänotypische Unterschiede, denen wohl komplexe Interaktionen zwischen genspezifischen Unterschieden sowie Umwelt- und Lifestyle-Faktoren zugrunde liegen [37].
Tab. 2
Kolorektalkarzinom – Veranlagungen
Krebsveranlagung
Assoziierte(s) Gen(e)
Erbgang
Extrakolonische Tumoren
Internetlinks/Referenzen zu spezifischen Behandlungs‑/Vorsorge-Empfehlungen
I) KRK-Veranlagungen ohne Polypose
Lynch-Syndrom
MLH1 MSH2 MSH6 PMS2
AD
Endometrium, Ovar, Magen, ableitende Harnwege u. a.
GeneReviews (www.​ncbi.​nlm.​nih.​gov/​books/​NBK1211/​); Seppälä T et al., Br J Surg, 2021 (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34043773/)
RPS20-bedingtes erbliches KRK
RPS20
AD
Bislang keine bekannt
Keine bekannt
II) Kolonpolypose
a) Adenomatöse Polypose
APC-bedingte Polypose (FAP)
APC
AD
Duodenum, Schilddrüse, Desmoid, Hepatoblastom, Pankreas
MUTYH-bedingte Polypose (MAP)
MUTYH
AR
Duodenum, Schilddrüse (?)
Polymerase-Proofreading-assoziierte Polypose (PPAP)
POLD1 POLE
AD
Endometrium, Brust
Palles C et al., Fam Cancer, 2022 (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33948826/)
NTHL1-bedingtes Tumorsyndrom
NTHL1
AR
Brust, Endometrium, Duodenum
MSH3-bedingte Polypose
MSH3
AR
Magen (?), Hirn (?)
Keine bekannt (evtl. analog FAP?)
Konstitutionelles Mismatch-Reparatur-Defizienz-Syndrom
MLH1 MSH2 MSH6 PMS2
AR
Krebs im Kindesalter (Dünndarm, Hirn, hämatologische Tumoren)
Suerink M et al., Fam Cancer, 2021 (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32613597/)
MBD4-bedingtes Tumorsyndrom
MBD4
AR
Akute myeloische Leukämie, Aderhaut-Melanom, Schwannom (?)
NCCN Clinical Practice Guidelines in Oncology,
Genetic/Familial High-Risk Assessment: Colorectal,
Endometrial, and Gastric. Version 3.2024
b) Hamartomatöse Polypose
Peutz-Jeghers-Syndrom
STK11
AD
Magen, Pankreas, Dünndarm, Gonaden, Mamma, Zervix
Juveniles Polypose-Syndrom
BMPR1A, SMAD4
AD
Magen, Dünndarm, Pankreas
PTEN-Hamartom-Tumor-Syndrom
PTEN
AD
Mamma, Schilddrüse, Nieren, Endometrium
c) Serratierte Polypose
RNF43-bedingte serratierte Polypose
RNF43
AD
Bislang keine bekannt
East JE et al., Gut, 2017 (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28450390/); Hyun E et al., Can J Surg, 2021 (pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34728521/)
d) Gemischte Polypose
GREM1-bedingte gemischte Polypose
GREM1
AD
Bislang keine bekannt
Keine bekannt (evtl. analog FAP?)
AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv, FAP familiäre adenomatöse Polypose, KRK kolorektales Karzinom

Lynch-Syndrom

Mit einer Prävalenz von ca. 1 auf 279 Personen stellt das autosomal-dominant erbliche LS die weltweit häufigste Tumorveranlagung dar [38]. Rund 3 % aller KRK entstehen auf dem Boden einer LS-Veranlagung, der pathogene Keimbahnvarianten in den MMR-Genen MLH1, MSH2/EPCAM, MSH6 oder PMS2 zugrunde liegen. Die daraus resultierende MMR-Defizienz lässt sich im Tumorgewebe indirekt in Form einer Mikrosatelliteninstabilität (MSI) bzw. dem Verlust der MMR-Proteinexpression nachweisen.
Prospektive Studien konnten ausgeprägte genspezifische Unterschiede für Tumorerkrankungen bei Personen mit nachgewiesener LS-Veranlagung aufzeigen: So beträgt das Lebenszeitrisiko für das KRK bei MLH1- und MSH2-Träger/-innen 42–53 % und wird im Mittel um das 44. Lebensjahr diagnostiziert; MSH6- und PMS2-Träger/-innen entwickeln „lediglich“ in 3–20 % ein KRK mit 42–69 (MSH6) bzw. 61–66 Jahren (PMS2) [39, 40]. Ähnlich verhält es sich mit anderen LS-assoziierten, extrakolonischen Tumorerkrankungen wie Endometrium- (MSH2, MSH6, MLH1: 35–46 %; PMS2: 13 %), Ovarial- (MSH2, MLH1, MSH6: 11–17 %; PMS2: 3 %) und Magen‑/Dünndarmkarzinom (MSH2, MLH1: 8–16 %; MSH6, PMS2: 2–4 %; [41]). Aufgrund dieser Unterschiede haben mehrere Fachgesellschaften ihre Empfehlungen für gynäkologische und gastroenterologische Vorsorgeuntersuchungen genspezifisch angepasst (Tab. 3; [42]).
Tab. 3
Empfehlungen zu Vorsorge-Untersuchungen des Gastrointestinaltraktes bei erblichen Darmkrebsveranlagungen
Fachgesellschaft
Syndrom
Beginn
Modalität
Intervall Überwachung
ESGE 2019
Lynch-Syndrom
MLH1, MSH2
25
Koloskopie
Alle 2 Jahre
MSH6, PMS2
35
Koloskopie
Alle 2 Jahre
Familiäre adenomatöse Polypose
12–14
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
25
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation
MUTYH-assoziierte Polypose
18
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
35
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation
BSG 2020
Lynch-Syndrom
MLH1, MSH2
25
Koloskopie
Alle 2 Jahre
MSH6, PMS2
35
Koloskopie
Alle 2 Jahre
Familiäre adenomatöse Polypose
12–14
Koloskopie
Alle 1–3 Jahre
25
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation
MUTYH-assoziierte Polypose
18–20
Koloskopie
Jährlich
35
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation
ASGE 2020
Familiäre adenomatöse Polypose
10–12
Koloskopie**
Alle 1–2 Jahre
20–25
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation, gastrale Adenome
Attenuierte adenomatöse Polypose
18–20
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
30–35
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation, gastrale Adenome
MUTYH-assoziierte Polypose
18–20
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
30–35
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation
EHTG 2021
Lynch-Syndrom
MLH1, MSH2
25
Koloskopie
Alle 2–3 Jahre*
MSH6
35
Koloskopie
Alle 2–3 Jahre*
PMS2
35
Koloskopie
Alle 2–3 Jahre*
SGGSSG 2024***
Lynch-Syndrom
MLH1, MSH2
25†
Koloskopie
Alle 2 Jahre
MSH6
35†
Koloskopie
Alle 2–3 Jahre*
PMS2
35†
Koloskopie
Alle 2–3 Jahre*
Familiäre adenomatöse Polypose
10–12
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
25
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation, gastraler Phänotyp (Adenome, Drüsenkörperzysten)
Attenuierte adenomatöse Polypose
18–20
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
30
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation, gastraler Phänotyp (Adenome, Drüsenkörperzysten)
MUTYH-assoziierte Polypose
18–20
Koloskopie
Alle 1–2 Jahre
30
Gastroskopie
Nach Spigelman-Klassifikation, gastraler Phänotyp (Adenome, Drüsenkörperzysten)
ESGE European Society of Gastrointestinal Endoscopy, BSG British Society of Gastroenterology, EHTG European Hereditary Tumor Group, ASGE American Society for Gastrointestinal Endoscopy, SGGSSG Schweizerische Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie
*Koloskopie alle 2 Jahre bei kolorektalem Karzinom in der persönlichen Anamnese
**Alternativ Sigmoidoskopie bis zum erstmaligen Auftreten von adenomatösen Polypen
***Als Voraussetzung zur Anwendung der Empfehlungen gelten eine optimale Darmreinigung und die Erfüllung der SGGSSG-Empfehlungen zur Qualität der Vorsorgekoloskopie
†Erste Untersuchung 5 Jahre früher als das Manifestationsalter beim jüngsten betroffenen Familienmitglied
Bei Darmkrebspatienten und zur Vorsorgekoloskopie erscheinenden Personen mit positiver Familienanamnese für das KRK soll bei den folgenden klinischen Konstellationen an ein LS gedacht werden: Darmkrebsdiagnose vor dem 50. Lebensjahr, syn- oder metachrone LS-assoziierte Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter, ein Angehöriger 1. oder 2. Grades mit vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziertem, LS-assoziiertem Tumor bzw. 2 oder mehr Angehörige mit LS-assoziierten Tumoren unabhängig vom Erkrankungsalter. Nebst einer solchen Familienanamnese sollte ein LS bzw. eine genetische Abklärung auch in Betracht gezogen werden bei am Tumorgewebe nachgewiesener MMR-Defizienz oder somatischen MMR-Genalterationen [38]. Auch bei Vorliegen einer Lynch-Syndrom-verdächtigen Klinik und im Tumor erhaltener MMR-Funktion sollte eine Abklärung der MMR-Gene in der Keimbahn diskutiert werden, da die diagnostische Sensitivität der erwähnten indirekten Methoden nur bei ca. 90 % liegt [43]. Immuncheckpoint-Inhibitoren werden heutzutage oft in der Behandlung von MMR-defizienten soliden Tumoren eingesetzt und daher werden mittlerweile alle neu diagnostizierten KRK (und zunehmend auch weitere Krebsarten) auf ihre MMR-Funktion überprüft. Dies ist nicht nur von grosser Bedeutung für die bessere Erfassung von LS-Patient/-innen, sondern eröffnet auch neue Therapieoptionen bei etwa 10–15 % der Patient/-innen mit sporadischem MMR-defizientem KRK [44].
Die KRK-Vorsorge wird von verschiedenen Fachgesellschaften für Träger/-innen einer MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25 und bei MSH6- oder PMS2-Mutation ab Alter 35 empfohlen (Tab. 3). Die Vorsorge wird generell mittels Koloskopie bei MLH1- oder MSH2-Trägerschaft alle 1–3 Jahre empfohlen, bei Mutation im MSH6- oder PMS-Gen alle 2–3 Jahre. Prospektiv erhobene Daten einer europäischen Studie zeigten hinsichtlich Inzidenz und Tumorstadium keinen Benefit bei jährlicher Koloskopie gegenüber einem weniger strikten Überwachungsprotokoll [45]. Trotz Überwachung erreichte in dieser Studie die kumulative KRK-Inzidenz nach 10 Jahren 18 %. Dies bedeutet, dass durch die koloskopische Surveillance mit Polypektomie das Karzinom nicht immer verhindert, aber oft früher erkannt werden kann mit entsprechend besserer Prognose. Die Gründe hierfür sind noch nicht vollständig geklärt [46]. Gute Evidenz für den Nutzen einer regelmässigen Überwachung zur Senkung der Inzidenz und Mortalität von Karzinomen des Magens, Dünndarmes und Pankreas gibt es nicht. Dementsprechend wird die Überwachung des oberen Gastrointestinaltraktes von den meisten Fachgesellschaften nicht routinemässig, sondern nur bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren (familiäres Auftreten von Magenkarzinomen, Regionen mit hoher Inzidenz für Magenkrebs) empfohlen, meist ab Alter 30. Vorsorgeuntersuchungen für den Dünndarm und das Pankreas werden ebenso nicht generell, sondern nur auf individueller Basis empfohlen, bspw. bei (mehrfachem) familiärem Auftreten von Karzinomen in den entsprechenden Organen.

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopische Überwachung geschlechtsunabhängig alle 2 Jahre bei MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25, bei MSH6- oder PMS2-Mutation ab Alter 35 alle 2–3 Jahre. Beginn der Überwachung in allen Situationen wenigstens 5 Jahre früher als das Erkrankungsalter des jüngsten betroffenen Familienmitgliedes. Anpassung der Überwachung an den kolorektalen Phänotyp (Nachweis fortgeschrittener Polypen), zudem vorzeitige Untersuchung bei Auftreten von Symptomen. Obere Panendoskopie in Abhängigkeit des familiären Phänotyps (positive Familienanamnese für das Magenkarzinom). Wir empfehlen eine Helicobacter-pylori-Diagnostik mit ggf. Eradikation. Den Patient/-innen soll ein gesunder Lebensstil empfohlen werden (wie die Vermeidung von Übergewicht, regelmässige Bewegung und eine ausgewogene Ernährung; [47]).
Fortschritte in der Labordiagnostik und die Fortsetzung der prospektiven Datenerhebung in internationalen Konsortien wie der Prospective Lynch Syndrome Database (PLSD) [40] werden zu weiteren, klinisch relevanten Genotyp-Phänotyp-Korrelationen führen, welche Anpassungen des Screenings gastrointestinaler und anderer Organe erfordern. Daher sind in Tab. 2 diverse Webadressen aufgelistet, um sich nach den aktuellsten Empfehlungen für Vorsorgeuntersuchungen zu informieren. Der Vollständigkeit halber sei noch das autosomal-rezessiv erbliche, konstitutionelle Mismatch-Reparatur-Defizienz-Syndrom (CMMRD) erwähnt, eine seltene Krebsveranlagung des Kindesalters, die vor allem mit malignen hämatologischen, gastrointestinalen und ZNS-Tumoren einhergeht [41].

Lynch-like Syndrom

Das LLS beschreibt Personen mit MMR-defizientem KRK oder anderen LS-assoziierten Tumoren, ohne dass eine Keimbahnmutation in einem MMR-Gen nachweisbar ist [48]. Da die Mehrheit aller KRK mit MSI nicht im Rahmen eines LS, sondern sporadisch als Folge einer Hypermethylierung im MLH1-Promoter auftreten, soll diese molekulare Aberration ausgeschlossen werden. Ist dies der Fall, dann ist in 50–70 % der Fälle die MMR-Defizienz durch (sporadisch aufgetretene) biallelische somatische MMR-Genmutationen erklärt. Um Betroffene und deren Verwandte nicht durch unnötige Überwachungen zu belasten, soll daher auch diese Konstellation im Labor ausgeschlossen werden [49, 50]. Das KRK-Risiko in betroffenen Familien scheint kleiner als bei nachgewiesenem LS, aber höher als beim fKRK zu sein [35, 51]. Die Datenlage zum wenig verstandenen LLS ist dürftig, vorgeschlagen wird beispielsweise die Überwachung mittels Koloskopie alle 2–3 Jahre für Betroffene und deren Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 ab Alter 25 bzw. in Abhängigkeit von der Familienanamnese [9, 52].

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der limitierten Datenlage können keine Empfehlungen gegeben werden. Die Überwachung soll individuell unter Berücksichtigung der Familienanamnese und des Phänotyps des/der betroffenen Patient/-in festgelegt werden.

Adenomatöse Polyposen

Die im Vergleich zum LS deutlich selteneren adenomatösen Polyposen-Syndrome sind für ca. 1 % der KRK insgesamt bzw. ca. 2 % aller vor dem 50. Lebensjahr diagnostizierten KRK verantwortlich. Diagnostisch unproblematisch ist die „klassische“ Ausprägung mit Hunderten bis hin zu Tausenden von gastrointestinalen Adenomen [16]. In bis zu einem Drittel liegt beim klassischen Phänotyp keine positive Familienanamnese vor, sodass von einer Neumutation ausgegangen wird. Liegen weniger als 100 Adenome vor, handelt es sich um eine attenuierte Polypose-Form, die genetisch heterogen ist und sowohl dem autosomal-dominanten (APC, POLD1, POLE) als auch dem autosomal-rezessiven Erbgang (MUTYH, NTHL1, MSH3, MBD4 u. a.) folgen kann. Eine genetische Abklärung ist zu diskutieren, wenn bei einer Person kumulativ mindestens 10–20 Adenome nachgewiesen wurden. Wie Terlouw et al. gezeigt haben, liegt die Detektionswahrscheinlichkeit für pathogene APC- oder MUTYH-Varianten bei über 10 %, wenn bei einer Person vor dem 60. Lebensjahr kumulativ mehr als 10 bzw. vor dem 70. Lebensjahr mehr als 20 adenomatöse Polypen gefunden wurden [53]. Weiter können das Vorliegen extrakolonischer Tumormanifestationen, wie z. B. Desmoid-Tumoren, multiple Osteome u. a., und eine auffällige Familiengeschichte (Angehöriger 1. Grades mit > 10 Adenomen) zusätzliche Hinweise auf eine hereditäre Polypose liefern. Das Risiko für die Entwicklung eines KRK nimmt bei der klassischen APC-bedingten familiären adenomatösen Polypose (FAP) bereits anfangs der 2. Lebensdekade zu und erreicht ein Lebenszeitrisiko von beinahe 100 %. Bei Vorliegen der attenuierten Form (AFAP) treten Neoplasien etwas später und vor allem im rechten Hemikolon auf, das KRK-Risiko beträgt ca. 70 % [54, 55]. Bei beiden Formen treten auch gehäuft Karzinome im oberen Gastrointestinaltrakt auf, im Bereich von Duodenum/Papilla Vateri in 4–12 % und im Magen in 1 %. Die meisten Fachgesellschaften empfehlen bei nachgewiesener Trägerschaft einer autosomal-dominant erblichen APC-bedingten Kolonpolypose die 1‑ bis 2‑jährliche koloskopische Überwachung bei der klassischen Form ab dem Beginn und bei der AFAP gegen Ende der 2. Lebensdekade.
Bei den meisten Patienten mit APC-bedingter Polypose, besonders der klassischen Form (bis 90 %), finden sich im Magen zahlreiche Drüsenkörperzysten, Adenome sind weniger häufig, scheinen aber klinisch relevanter zu sein wegen des Risikos einer malignen Transformation. Die Strategien zur Überwachung im oberen Gastrointestinaltrakt bei FAP bzw. AFAP sind heterogen. Bei der klassischen Form wird eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri ab dem 20.–25. Lebensjahr vorgeschlagen mit befundabhängiger (Spigelman-Klassifikation, Phänotyp im Magen) Wiederholung alle 6 Monate bis 5 Jahre. Da Träger/-innen einer pathogenen APC-Variante, die hinter APC-Kodon 1395 liegt, ein erhöhtes Lebenszeitrisiko (10–24 %) für Desmoid-Tumoren aufweisen, sollten bei diesen Personen mehrstufige Operationen vermieden und klinisch ein besonderes Augenmerk auf entsprechende abdominale Symptome gelegt werden, mit ggf. bildgebender Abklärung mittels MRT oder CT.
Bei der autosomal-rezessiven MUTYH-bedingten attenuierten Form der adenomatösen Polypose (MAP) liegt das Lebenszeitrisiko für ein KRK bei 80 %, für ein Karzinom im Duodenum bei 4 % und im Magen bei 1 %. Wie bei der APC-assoziierten Form der attenuierten Polypose steigt das KRK-Risiko erst gegen Ende der 2. Lebensdekade an, und auch die MAP manifestiert sich vor allem im rechten Hemikolon, dabei können nebst AP auch SP vorliegen. Dementsprechend empfehlen die meisten internationalen Fachgesellschaften für die Überwachung des Kolorektums bei MAP (nachgewiesene biallelische MUTYH-Träger/-innen) eine Koloskopie alle 1–2 Jahre ab dem 18.–20. Lebensjahr, sofern die persönliche bzw. die Familienanamnese nicht auf einen besonderen Phänotyp hinweist. Eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri wird ab der 3. Dekade vorgeschlagen, wiederum befundabhängig alle 6 Monate bis 5 Jahre. Kontrovers wird derzeit diskutiert, ob monoallelische (heterozygote) MUTYH-Träger/-innen ein (etwa 2-fach) erhöhtes KRK-Risiko tragen. Teilweise wird empfohlen, ab dem 40. Lebensjahr etwa alle 5 Jahre eine Koloskopie durchzuführen, insbesondere wenn in der Familie ein erstgradig Verwandter an einem KRK erkrankte.

Empfohlenes Vorgehen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab. 3): Koloskopie alle 1–2 Jahre ab Alter 12–14 bei klassischer FAP und ab Alter 18–20 bei AFAP und MAP. Gastroskopie mit Darstellung der Papilla Vateri alle 1–5 Jahre ab Alter 25. Anpassung der endoskopischen Überwachung des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes an den Phänotyp und bei Auftreten von Symptomen. Bei Status nach Operation sollen das Restrektum oder der Pouch alle 6–12 Monate endoskopisch kontrolliert werden. In den letzten 20 Jahren wurden weitere, sehr seltene Non- bzw. Polypose-Formen entdeckt, die mit einem erhöhten Risiko für das KRK und oft auch für extrakolonische Tumoren einhergehen (Tab. 2). Aufgrund der Seltenheit wird in dieser Arbeit nicht näher auf diese eingegangen.

Genetische Abklärung und Beratung

Bei 9–26 % der KRK-Patient/-innen, deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert wurde, lässt sich eine pathogene Keimbahnvariante in einem der 17 bislang bekannten Gene identifizieren [16], was von klinischer Relevanz sein kann. Das frühzeitige Erkennen einer erblichen Darmkrebserkrankung hat dabei nicht nur Konsequenzen für das chirurgisch-onkologische Vorgehen und die Gestaltung der Nach- bzw. Vorsorge beim Betroffenen, sondern ist auch von essenzieller Bedeutung für dessen gesunde Familienangehörige. So ermöglicht dies in der Folge auch den Angehörigen (u. a. Eltern, Geschwister, Kinder meist erst ab 18. Lebensjahr), sich nach entsprechender genetischer Beratung und angemessener Bedenkzeit prädiktiv auf Trägerschaft testen zu lassen (Trägerwahrscheinlichkeit bei Verwandten 1. Grades: 25 % bzw. 50 %) und so für sich die Notwendigkeit von regelmässigen Krebsvorsorgeuntersuchungen zu klären.
Die Kosten einer molekulargenetischen Abklärung von 1–10 Genen belaufen sich auf ca. CHF 3000–4000,- und sind als Pflichtleistungen in der Analysenliste (Anhang 3 der Krankenpflege-Leistungsverordnung) entweder spezifisch (Lynch-Syndrom, APC-bedingte Polypose) oder in genereller Form als „Seltene erbliche Tumorkrankheiten“ aufgeführt. Für Letztere sollte zur Sicherung der Kostenbeteiligung vorgängig ein sog. Orphan-Disease-Antrag beim vertrauensärztlichen Dienst des Krankenversicherers eingereicht werden (Antragsformular: https://​sgmg.​ch/​de/​fachthemen#fachthemen-dokumente).
Vor einer diagnostischen genetischen Abklärung bedarf es, wie im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) festgehalten, einer hinreichenden Aufklärung, welche der/die auftraggebende Arzt/Ärztin entweder selbst durchführt oder eine genetische Beratung veranlasst, sowie der Zustimmung des Patienten bzw. der Patientin. Vor und nach einer präsymptomatischen (prädiktiven) genetischen Testung ist eine fachkundige genetische Beratung gesetzlich vorgeschrieben, in der nicht nur auf Aussagekraft, Grenzen und medizinische Konsequenzen einer Trägertestung bzw. dem Verzicht darauf eingegangen wird, sondern auch psychosoziale und (versicherungs)rechtliche Aspekte diskutiert werden. Die Trägertestung beläuft sich auf ca. CHF 400,- und stellt, mit Ausnahme von Lynch-Syndrom und APC-bedingter Polypose, keine Pflichtleistung der Krankenversicherer dar.

Chemoprävention

In diversen Labor- und klinischen Studien konnte ein protektiver Effekt diverser Substanzen (NSAR, Statine, Vitamine etc.) auf die Entstehung und Progression kolorektaler Neoplasien nachgewiesen werden [56]. So zeigte sich für die am besten untersuchte Medikamentengruppe, NSAR inkl. Aspirin, dass bei FAP-Patienten die Anzahl und Grösse von Polypen und bei Patienten mit Lynch-Syndrom das KRK-Risiko gesenkt werden kann. In der CAPP-2-Studie wurde das KRK-Risiko nach rund 10 Jahren durch die Einnahme von 600 mg Aspirin täglich im Vergleich zu Placebo um rund 35 % gesenkt [57]. Verschiedene Aspekte wie die optimale Dosierung und die Dauer der Chemoprävention mit Aspirin sind aber noch ungenügend geklärt. Dementsprechend unterstützen einige Fachgesellschaften die prophylaktische Aspirin-Einnahme bei LS (Empfehlung der European Hereditary Tumour Group: Aspirin 75–100 mg/d bei Körpergewicht bis 70 kg, bei > 70 kg bis 300 mg/d), während andere keine Stellungnahme abgeben. Risiko und Benefit müssen individuell abgeschätzt und auch im Rahmen allfälliger Komorbiditäten und des Alters beurteilt werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

K. Truninger und K. Heinimann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
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Metadaten
Titel
Familiärer und erblich bedingter Darmkrebs
Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung
verfasst von
PD Dr. med. Kaspar Truninger
Prof. Dr. med., Dr. phil. nat Karl Heinimann
Publikationsdatum
17.03.2025
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schweizer Gastroenterologie
Print ISSN: 2662-7140
Elektronische ISSN: 2662-7159
DOI
https://doi.org/10.1007/s43472-025-00159-8