Die Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) drängen bereits in alle Ordinationen. Sie reichen von der selbstlernenden Terminvergabe über Diagnosetools bis hin zu neuartigen IT-SecurityLösungen. Wie die KI genutzt werden kann, um die Kluft zwischen Arzt und Patient zu verkleinern.
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Er ist das, was die Soziologen unter Digital Native verstehen: Lukas Krafft v. Dellmensingen war 24 Jahre alt und stand kurz vor seinem Masterabschluss an der TU Wien, als er 2017 mit seinen Freunden Samuel Brendler und Sebastian Altenhuber ein Health-Tech-Unternehmen gründete. Der Unternehmensstart der drei Studenten war holprig, der Glaube der Investoren an selbstlernende Algorithmen noch schwach. Mit den ersten KI-Erfolgsgeschichten aus den USA verflüchtigten sich die Vorbehalte. Ihr Start-up Naboto mutierte in wenigen Wochen zum Role Model der in Österreich bisher unverstandenen Technologie der KI.
Krafft und seine Mitgründer zeigten als eine der ersten, wie neuartige Algorithmenabfolgen aus einem wirren Haufen an Daten Muster herauslesen und Vorhersagen ableiten können. Und wenn man die komplexen Methoden weitertrieb, konnten sie mithilfe der Algorithmen und einem kräftigen Satz Computerpower – die leistungsfähigen CPUs (Prozessoren) stehen erst seit ca. sieben Jahren zur Verfügung – mehrere Datenschichten zu neuronalen Netzen und Deep Learning in Beziehung setzen. Die Jungunternehmer entwickelten eine Termin- und Organisationssoftware für Ordinationen (und andere Organisationen), die sich mithilfe von KI- Methoden selbst verbessert. Die Software optimiert die Terminvergabe, erkennt „No-Shows“ (nicht erscheinende Patienten) im Voraus und besetzt die frei gewordenen Termine automatisch nach. Die Ausfall-Prognose allein ist Goldes wert: Die Ambulanz eines großen Wiener Gesundheitszentrums beziffert den Honorarentgang durch nicht wahrgenommene Patiententermine auf 15.000 Euro pro Monat.
Lernen aus Erfahrung
Die neuartige Terminverwaltung kann Verschiebungen und Ausfälle online und offline gebuchter Termine ebenso berücksichtigen wie Wartezeitenkommunikation mit Terminpatienten übernehmen. Gleichzeitung werden die Zuteilungen zu den diversen Behandlungsräumen einer Ordination vorgenommen und – im Falle von Gruppenpraxen – die zuständigen Ärzte auf Patientenwunsch gebucht. Naboto versichert dabei, von Tag zu Tag präziser zu werden. Krafft beschreibt seine Software als „selbstlernendes Werkzeug, das auf der Basis mathematischer Prinzipien Regelmäßigkeiten erkennt und Wahrscheinlichkeiten vorhersagt.“ So vermag die Naboto-Software aufgrund von Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf, Krankengeschichte, Saison und sogar des Wetters vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Patient oder eine Patientin einen bestimmten Termin wahrnimmt. Wenn es sich bei dem Datum um einen – ohnehin schlecht wahrgenommenen – Fenstertag handelt, bucht Naboto an diesem Tag mehr Termine als üblich. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Überbelegung der Sprechstunden kommt, ist wesentlich geringer als jene, dass die Ordination an diesem Tag zu wenige Patienten hat“, ist sich Krafft sicher. Er betont dabei, dass „sämtliche Daten anonymisiert sind.“ Die Software laufe „komplett isoliert von der Patientenakte“ und habe keinen Zugriff auf die Krankheitsdaten.
Wieder näher am Patienten sein
Felix Nensa ist Radiologe und ausgebildeter Informatiker. Auch er hat schon während seiner Unizeit eine IT-Firma mitgegründet. Seit 2022 ist der 43-jährige Professor für Radiologie mit dem Schwerpunkt KI an der Medizinischen Universität Duisburg-Essen tätig. Nensa ist in Sachen medizinischer KI das, was der alte Warren Buffett für die Jünger der arbeitsfreien Geldvermehrung darstellt: Ein Orakel. Wer eine pointierte Meinung zum technischen Klinikalltag im Jahr 2035 haben will, läutet bei ihm an. Nensa ist überzeugt, dass die KI die Kluft zwischen Arzt und Patient wieder verkleinern werde, wie er in einem Gastkommentar für die ÖKZ (64. JG 11/2023) schreibt. Die Technologie mache den nötigen Raum frei, damit Ärztin und Arzt den Patienten wieder in den Mittelpunkt rücken. Denn heute bestimmten Dokumentationspflichten „gefühlt zu 80 Prozent den Arztberuf“. KI-Tools könnten dies übernehmen – schon heute. Nensa: „Wir werden mittels KI künftig auch Sprachbarrieren überwinden – sowohl in der medizinischen Kommunikation als auch in der Verschriftlichung.“
Spracherkennungssysteme sind in vielen Ordinationen bereits im Einsatz. Den großen Durchbruch haben die Transkriptions-Apps bislang nicht geschafft: Zu hoch ist der Trainingsaufwand der Software, zu fehlerhaft immer noch das Ergebnis der Sprach-Text-Transformation.
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Die Kraft der Stimme
Die Techgiganten wie Google und Microsoft haben in den vergangenen Jahren Milliarden investiert, um mithilfe von KI die konventionellen Transkriptionssysteme auf eine neue Ebene zu hieven. Das zu Microsoft gehörende Softwarehaus Nuance hat mit der KI-basierten Spracherkennungssoftware Dragon Medical One den Markt für Dokumentation von Pflege- und Behandlungsleistungen in den vergangenen Jahrzehnten aufbereitet. Mitarbeitende diktieren Informationen zur Fieberkurve direkt ins System der Ordination oder Klinik. Dabei strukturiert die KI die Patientendaten, sucht auf Wunsch bestimmte Informationen heraus und bereitet sie für sie auf. Und das alles mit der Kraft der Stimme.
In den USA ist man schon einen Schritt weiter. Dort ist der Dragon Ambient eXperience (DAX) Copilot, die Weiterentwicklung von Dragon Medical One, bereits erhältlich. Die Software kombiniert Conversational und Ambient KI mit dem neuesten generativen KI-Modell. Das bedeutet: Das Spracherkennungssystem funktioniert via Smartphone oder Desktop, zeichnet seine Umgebung – und damit das Arzt-Patienten-Gespräch – automatisch auf, strukturiert die Daten und stellt sie als Transkript zur Verfügung. Nach der Bearbeitung – ebenfalls per Sprachbefehl – fließt es in das Ordinations- oder Kliniksystem ein. Der Patient stimmt im Vorfeld zu.
Besondere Aufmerksamkeit erregte zuletzt die Spracherkennungs- Software von Suki, einem von einem früheren Google-Mitarbeiter im Silicon Valley gegründeten und auf Health-Tech spezialisierten Softwarehouse. Suki fungiert dabei als vollwertiger Assistent, der es Ärzten ermöglicht, Notizen zu machen und Arzt-Patienten-Gespräche zu dokumentieren – die Entwickler behaupten, dass die Software nach der Installation eine 95-prozentige Transkriptionsgenauigkeit abliefere – und vieles mehr. Wichtig ist auch die Integration der geltenden Diagnosecodes: Suki schlägt gängige Codes vor und bietet auch HCC-Kodierung. Die Software ist mit den elektronischen amerikanischen Gesundheitsaktensystemen (Epic, Cerner, Athena und MEDITECH) vernetzt. Erfahrungen mit ELGA stehen noch aus. Suki gibt an, bei seinen bisherigen US-Kunden den Dokumentationsaufwand um 72 Prozent reduziert und die Dokumentation „außerhalb der Geschäftszeiten“ um fast sechs Stunden verkürzt zu haben.
Cybersicherheit in der Praxis
Im Bereich der IT-Sicherheit auf Ordinationsebene ist der Einfluss von KI noch unbestimmt. Experten sprechen dabei von der Dual-Use-Perspektive: KI verbessert die Verteidigung. Die gleichen Methoden nutzen aber auch die Hacker, um effizienter nach Schlupflöchern im System zu suchen. KI kann die Sicherheit steigern, indem es große Datenmengen in Echtzeit analysiert und dabei Anomalien erkennt. Beispiele sind die Identifizierung von ungewöhnlichem Netzwerkverkehr, das Erkennen von Phishing-Versuchen und das automatische Blockieren von Schadsoftware.
KI kann auch maschinelles Lernen einsetzen, um sich kontinuierlich an neue Bedrohungen anzupassen. Anti-Hacker-Programme, die KI einsetzen, heißen Darktrace, Cylance und CrowdStrike Falcon. Diese Applikationen sind auf der Ebene von Ordinationen von Amateuren aber nur schwer integrierbar. Da bleibt der hauseigene IT-Profi erster Ansprechpartner.