Einleitung
Chronische Schmerzen zählen zu den häufigsten Gründen, um Einrichtungen des Gesundheitssystems zu beanspruchen. Sie sind oft für Krankenstände, Frühpensionen und Produktivitätsverluste verantwortlich, haben deutliche Auswirkungen auf die Lebensqualität und stellen darum eine bedeutende Herausforderung für die Gesellschaft und für Public Health dar [
26].
Laut Österreichischem Gesundheitsbericht 2014 [
25], einer regelmäßig stattfindenden repräsentativen und umfassenden nationalen Befragung zu Gesundheitsstatus, Lebensqualität und sozialen Auswirkungen sowie Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems, sind derzeit etwa 1,8 Mio. Österreicher
1 (ca. 25 %) von chronischen Schmerzen betroffen (länger als 3 Monate), wobei die Prävalenz bei den Frauen in allen Altersklassen höher ist als bei den Männern. Somit liegt Österreich in der Schmerzprävalenz im internationalen Durchschnitt. Jüngere Studien aus europäischen Ländern berichten von einer Schmerzprävalenz zwischen 25 und 35 % [
6].
In Österreich existiert keine flächendeckende Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen, die nur annähernd international anerkannte Kriterien erfüllt: Zur Behandlung des chronischen Schmerzes stehen hierzulande aktuell rund 600 Ärzte (Allgemeinmedizin und Fachärzte) mit einem Zusatzdiplom „Spezielle Schmerztherapie“ der Österreichischen Ärztekammer zur Verfügung. Von 130 Rheumatologen haben lediglich etwa 20 einen Kassenvertrag. Die Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) bietet ihren Mitgliedern Fort- und Weiterbildung im Rahmen des „Schmerzcurriculums“ an. Zusätzlich werden Schmerzpatienten durch Ärzte verschiedener Fachrichtungen behandelt, die zwar über keine Zusatzausbildung, aber langjährige Erfahrung in der Schmerztherapie verfügen [
26].
Seitens der Österreichischen Akademie für Psychologie [
19] gibt es seit 2008 das Curriculum „Psychologische Schmerzbehandlung“, das sich an Klinische und Gesundheitspsychologen richtet, die in freier Praxis oder im stationären Bereich in der Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzzuständen tätig sind oder in diesem Bereich tätig werden wollen. Zurzeit gibt es in Österreich 24 Klinische und Gesundheitspsychologen, die die Zertifizierung der Zusatzqualifikation für psychologische Schmerzbehandlung erworben haben. Es gibt etwa 30 interdisziplinäre Schmerzpraxen und -kliniken, die nach einem Konzept der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) arbeiten, rund 10 weitere Schmerzambulanzen befinden sich in Bezirks- und Landeskrankenhäusern [
26]. Vor wenigen Jahren waren es aber noch an die 50 Schmerzambulanzen. Schließungen haben weitreichende Konsequenzen für die betroffenen Patienten und das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem.
Für eine hohe schmerztherapeutische Versorgungsqualität ist es notwendig, dass genügend Behandlungszentren mit der entsprechenden Ausstattung, personellen sowie zeitlichen Ressourcen zur Verfügung stehen [
26,
27]. Sparmaßnahmen, die diese Ressourcen berühren, beeinträchtigen ein optimales Behandlungsangebot und damit die medizinische Versorgung von chronischen Schmerzpatienten. Die Sparmaßnahmen am Gesundheitssektor, wie sie von der Bundesregierung im letzten Sparpaket beschlossen wurden, gefährden somit eine adäquate Schmerzversorgung österreichischer Patienten.
Im niedergelassenen Bereich fehlt eine adäquate multimodale Schmerztherapie völlig bzw. findet nur auf privater Basis statt, da interventionelle oder komplexe schmerztherapeutische Leistungen de facto nicht abgegolten werden.
Zudem gibt es für die Versorgung der laut jüngstem Gesundheitsbericht rund 1,8 Mio. Österreicher mit chronischen Schmerzen keinen Auftrag vonseiten der Politik [
15]. Die ambulante Versorgung dieser Patienten ist durch das österreichweite Fehlen einer Bedarfsplanung schmerzmedizinischer Einrichtungen nicht sichergestellt und vorhandene Strukturen – wie spezialisierte Ambulanzen oder Akutschmerzdienste in Krankenhäusern – basieren bisher in erster Linie auf dem persönlichen Engagement Einzelner. Derzeit werden die unterschiedlichen schmerzmedizinischen Einrichtungen in Österreich mit sehr unterschiedlichen Betriebszeiten geführt, sodass aktuellen Schätzungen des Ist- und Sollbedarfs zufolge 74 % der chronischen Schmerzpatienten keine ambulante Schmerztherapie angeboten wird bzw. rund 50 vollzeitbetriebene Schmerzambulanzen fehlen [
27].
Unter dem Aspekt, dass sich eine Verbesserung der schmerzmedizinischen Versorgung in Österreich nur erzielen lässt, wenn alle betroffenen Fachgesellschaften und Berufsverbände einheitliche Anforderungen an Struktur, Qualität und Qualifikation in der Schmerzmedizin definieren, haben die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG), die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), die Allianz Chronischer Schmerz, die Österreichische Gesellschaft für Familien- und Allgemeinmedizin (ÖGAM), die Österreichische Gesellschaft für Chirurgie (ÖGC), die Österreichische Palliativgesellschaft (ÖPG), die Österreichische Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation (ÖGR), die Österreichische Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation (ÖGPMR), die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG), der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) sowie der Österreichische Berufsverband für Psychotherapie (ÖBVP) die vorliegende Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen in Österreich erarbeitet und konsentiert.
Das nun von Vertretern der Fachgesellschaften formulierte Konzept zur abgestuften intra- und extramuralen Versorgung von Schmerzpatienten (Versorgungspyramide) soll einen ersten Schritt zur Verbesserung darstellen, indem es Leistungs- und Qualitätsstandards unterschiedlicher schmerztherapeutischer Einrichtungen definiert.
Zentrale Forderung der Fachgesellschaften sind festgelegte Struktur- und
Qualitätskriterien für schmerzmedizinische Einrichtungen wie z. B. der Nachweis von spezielleren Aus- und Weiterbildungen, die Zusammenarbeit in interdisziplinären Behandlerteams oder die Mindestanzahl an neuen Patienten pro Jahr, je nach Klassifizierung der Einrichtung.
In den interdisziplinären Behandlerteams können Klinische und Gesundheitspsychologen die Versorgung von Schmerzpatienten im Bereich der psychologischen Diagnostik und Behandlung ergänzen. Der psychologische Aspekt steht bei der Berücksichtigung des biopsychosozialen Schmerzmodells zentral. Dieses sieht neben den biologischen Prozessen, die das Syndrombild beeinflussen, auch psychologische und soziale Prozesse involviert. Vor allem für den Beginn, den Schweregrad, die Verschlimmerung und die Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen sind psychologische Faktoren relevant [
17].
Ziel der Empfehlungen ist es, verbindliche und überprüfbare Versorgungsstrukturen mit entsprechenden Kriterien zur Qualitätssicherung in der Schmerzmedizin zu etablieren und die Versorgung österreichischer Schmerzpatienten zu verbessern.
Lösung durch strukturelle Verankerung der Schmerztherapie im Gesundheitssystem
Als Lösungsansatz bietet sich die strukturelle Verankerung der Schmerztherapie im Gesundheitssystem an. In einem ersten Schritt hat der Nationalrat 2015 die Bundesministerin für Gesundheit ersucht, das Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) mit der Grundlagenarbeit für Bundesqualitätsstandards zur Verbesserung der Versorgung von Schmerzpatienten in Österreich zu beauftragen. In Unterstützung der Arbeit des BIQG hat die ÖSG unter Einbeziehung anderer Fachgesellschaften ein aktuelles Papier zu Struktur- und Qualitätskriterien für schmerzmedizinische Einrichtungen in Österreich erarbeitet. Das Konzept zur abgestuften Versorgung von Schmerzpatienten soll einen ersten Schritt zur Verbesserung darstellen, indem es Leistungs- und Qualitätsstandards unterschiedlicher schmerztherapeutischer Einrichtungen definiert.
Grundlage sind die hierzulande vorhandenen Strukturen der abgestuften Versorgung sowie bestehende Qualifikationen, Weiterbildungen und Zusatzbezeichnungen. Neben den erstmals beschriebenen schmerzpsychotherapeutischen Einrichtungen lassen sich anhand der Kriterien 3 weitere Typologien definieren: die Ambulanz/Praxis mit gebietsbezogener und schmerztherapeutischer Versorgungsstruktur, die Ambulanz/Praxis für spezielle Schmerztherapie und das interdisziplinäre Schmerzzentrum.
Die interdisziplinäre Besetzung von Schmerzambulanzen im stationären und ambulanten Setting ist schon vielerorts realisiert worden. Allerdings kann diese interdisziplinäre Versorgung außerhalb von Krankenhausstrukturen bisher nicht als gesichert angesehen werden.
Versorgungsrelevanz
Gemäß der Patientencharta aus dem Jahr 2002 [
20] hat jeder Patient Anspruch auf eine medizinische Versorgung. Diagnostik, Behandlung und Pflege haben entsprechend dem jeweiligen Stand der Wissenschaft bzw. nach anerkannten Methoden zu erfolgen. Dabei ist auch der Gesichtspunkt der bestmöglichen Schmerztherapie besonders zu beachten. Ein für alle Patienten erfolgreiches Schmerzmanagement kann nur durch eine enge interprofessionelle Kooperation im Rahmen multimodaler Diagnose- und Therapiekonzepte sowie auf Basis eines biopsychosozialen Schmerzmodells erreicht werden.
Dabei sind eine flächendeckende Bildung regionaler Netzwerke auf allen Versorgungsebenen sowie die Umsetzung integrierter Versorgungsprogramme Voraussetzung dafür, eine unter Koordination des Arztes für Allgemeinmedizin in seiner Funktion als erster Ansprechpartner im Gesundheitssystem stehende abgestufte Versorgung sicherzustellen.
Dafür ist eine adäquate und wohnortnahe schmerzmedizinische Versorgungsstruktur unter Berücksichtigung schmerztherapeutischer Einrichtungen mit definierten Strukturmerkmalen unabdingbar.
Die Bedingung hierfür ist jedoch, dass überprüfbare Kriterien die Strukturen in einem abgestuften Versorgungssystem definieren. Diesem Anspruch folgt die nachfolgende tabellarische Darstellung der verschiedenen schmerztherapeutischen/schmerzmedizinischen Einrichtungen. Sie schafft damit eine Voraussetzung für eine zukünftige Bedarfsplanung schmerzmedizinischer Versorgung.
In der Tab.
2 „Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen – Kriterienkatalog“ (siehe Anhang) werden Strukturen definiert und beschrieben, in denen die Qualifikation über die allgemeinmedizinische/fachärztliche Schmerzqualifikation hinausgeht und im Rahmen einer abgestuften Versorgung entweder durch eine besondere Spezialisierung oder durch zunehmend komplexere Strukturen der Einrichtung gekennzeichnet ist (Tab.
1).
Aus diesem Grund schlägt das vorliegende Konsensus-Statement eine Verbesserung der
schmerzmedizinischen Basisversorgung durch den Erwerb einer „Spezialisierung
Schmerzmedizin“ als Weiterentwicklung des Schmerzdiploms der Österreichischen Ärztekammer vor, mit der die primärärztliche Versorgung verbessert werden kann.
Die nachfolgend genannten Einrichtungen zeichnen sich durch zunehmende Spezialisierung bzw. Komplexität aus. Nach fachgebietsbezogenen Einrichtungen, die nicht ausschließlich schmerzmedizinisch tätig sind, in denen aber auch eine schmerzmedizinische Versorgung vorgehalten wird („Ambulanz/Praxis mit gebietsbezogener und schmerztherapeutischer Versorgungsstruktur“), folgt die Praxis/Ambulanz für spezielle Schmerztherapie, die – immer noch gekoppelt an die fachgebietsbezogene Spezielle Schmerztherapie – ausschließlich oder überwiegend schmerzmedizinisch tätig ist. Darauf folgt das „interdisziplinäre Schmerzzentrum“ mit einem multiprofessionellen und multimodalen Diagnose- und Therapiekonzept. Sonderformen stellen schmerzpsychotherapeutische Einrichtungen dar, die in der Versorgung ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen, wie auch interdisziplinäre syndromorientierte Zentren (Kopfschmerz-/Rückenschmerzzentren). Inwieweit multiprofessionelle, multimodale schmerzmedizinische Zentren mit aufwändigen permanenten Kommunikationsprozessen in der Lage sind, eine nennenswerte Anzahl an betroffenen Patienten zu versorgen, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.
Die Autoren sind überzeugt, dass mit den hier definierten Struktur- und Qualitätskriterien die schmerzmedizinische Versorgung in Österreich überprüfbar verbessert werden kann und dass diese gleichzeitig Grundlage für Vergütungsregelungen darstellen können.