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Ärzte Woche

03.09.2024 | Sportmedizin

Im Wald kein Halten mehr?

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Jährlich verletzen sich Tausende Menschen beim Radfahren im Gebirge und in Wäldern so schwer, dass sie ins Spital müssen. Immer häufiger sind die Unfallopfer unter 18 Jahre alt. Woran liegt das?

Immer mehr Menschen radeln in den heimischen Wäldern und Bergen – auch wegen der allseits beliebten E-Bikes, für die es weniger Fitness braucht. Doch Steigungen, rutschige Stellen oder Wurzeln bergen Gefahren. Kommt mangelndes Training oder Übermut dazu, wird der Freizeitspaß schnell gefährlich.

Laut Kuratorium für Verkehrssicherheit verunglückten 2022 rund 6.500 Mountainbiker hierzulande so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten. Unter den Unfallopfern befinden sich immer mehr Minderjährige, wie der Verein „Große schützen Kleine“ in einer Studie aufzeigte. Fast die Hälfte der seit 2015 an den Grazer Unikliniken behandelten Mountainbike-Verletzungen bei jungen Menschen ereigneten sich in den vergangenen drei Jahren.

Im Durchschnitt waren die verwundeten Kinder und Jugendlichen 13 Jahre alt, 92 Prozent von ihnen waren Burschen. Als Risikofaktoren nannten sie „unbekannte Strecken oder neue Bikes, aber auch typische pubertäre Verhaltensweisen“, berichtet Dr. Holger Till, Vorstand der Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz und Präsident von „Große schützen Kleine“. Mit der Befolgung von Sicherheitstipps und adäquater Ausrüstung könne man schwere Unfälle vermeiden. Das betont auch Peter Gebetsberger, Leiter der Abteilung Sportmanagement der Naturfreunde Österreich. Für ihn ist Mountainbiken ein Sport, der nicht nur die Fitness, sondern auch Umweltbewusstsein, soziale Kompetenz und die Persönlichkeitsentwicklung fördern könne. Dafür seien sowohl professionell gebaute Mountainbike-Strecken als auch das Fahren in der freien Natur geeignet. Wichtig sei es, Rücksicht auf andere zu nehmen, allen voran auf Fußgänger.

Irene Thierjung

Mountainbiken ist ein Instrument der ganzheitlichen Entwicklung

 „Angesichts seiner wachsenden Beliebtheit, besonders bei jungen Menschen, verfügt Mountainbiken über ein enormes Potenzial als Bildungsinstrument. Neben der körperlichen Fitness kann der Sport Umweltbewusstsein, soziale Verantwortung und die Persönlichkeitsentwicklung fördern, je nach Strecke:

  • Gemäßigte Radwege;
  • Schotterstraßen für moderate Ausdauerbelastung;
  • Ausdauertraining auf (Schotter-)Straßen, Cross-Country-Strecken und Trails;
  • Flowtrails auf gebauten Strecken mit moderaten Anforderungen;
  • Singletrails vom einfachen Waldweg bis zum alpinen Hochgebirgsweg;
  • Enduro- und Downhill-Strecken;
  • Bikeparks mit Drops und Sprüngen;
  • Pumptracks;
  • Dirtparks für leistungsorientierte Youngsters;
  • E-Biken für alte oder kranke Personen.

Ebenfalls je nach Strecke, Schwierigkeitsgrad, Umfeld und Sportgeräte stehen beim Mountainbiken verschiedene Entwicklungsziele und Bildungsintentionen im Vordergrund:

  • Die physische Entwicklung durch Belastung des kardiovaskulären Systems und der Muskeln;
  • Die mentale Entwicklung durch Bewegung an der Leistungsgrenze und Überwindung mentaler Schranken, etwa beim Downhill-Fahren oder beim Drop- und Sprungtraining im Bikepark;
  • Die Wahrnehmung von und der Umgang mit Emotionen in Entscheidungsprozessen sowie die unmittelbare Reaktion darauf durch Tempo- und Linienwahl;
  • Entwicklung der Risiko- und Entscheidungskompetenz;
  • Förderung sozialer Verantwortung durch Biken in Peergroups;
  • Sensibilisierung für Umweltfragen durch Radtouren und -führungen in empfindlichen Gebieten;
  • Entwicklung und Stabilisierung der koordinativen Fähigkeiten vom Kindes- bis zum Seniorenalter.

Mountainbiker finden ihre Spielplätze einerseits auf professionell gebauten Strecken, andererseits aber auch in freier Natur und auf privaten oder öffentlichen Wegen. Auf dafür vorgesehenen Strecken ist das Befahren eindeutig geregelt und führt selten zu Konflikten. Beim Biken in freier Natur stoßen Mountainbiker auf Einschränkungen. Gemäß Forstgesetz dürfen Wälder zu Erholungszwecken betreten werden und man darf sich in ihnen aufhalten. Eine darüber hinausgehende Benutzung ist nur mit Zustimmung des Waldeigentümers oder des Verwalters der jeweiligen Forststraße zulässig. Diese Bestimmungen schränken den Bewegungsspielraum der Mountainbiker ein.

Wir setzen uns für eine Öffnung der Forststraßen ein. ,Neben Jägern, Förstern, Wanderern, Waldarbeitern und schweren Holzbringungsfahrzeugen stören zusätzliche Radfahrer weder das Wild noch andere Nutzer‘, sagt unser Vorsitzender Andreas Schieder. ,Fair-Play-Regeln bilden den Grundstein jeder Naturfreunde-Radtour.‘ Ziel der Naturfreunde ist eine vernünftige Besucherlenkung in Abstimmung mit allen Interessengruppen.

Bewegung in freier Natur erfordert Rücksichtnahme und Verständnis. An oberster Stelle steht der Respekt vor Natur und Mitmenschen. Der Wald soll so verlassen werden, wie man ihn vorgefunden hat. Fußgänger haben Vorrang, querfeldein fahren ist tabu, Fahrspaß darf nicht mit Grenzenlosigkeit verwechselt werden.

Mag. Peter Gebetsberger, Leiter der Abteilung Sportmanagement der Naturfreunde Österreich

Kinder- und Jugendunfälle beim MTB: Fast jeder Zweite verletzt sich schwer

 „Die Grazer Universitätskliniken für Kinder- und Jugendchirurgie sowie für Orthopädie und Traumatologie behandeln jährlich rund 50 Mountainbike-Unfälle von Menschen unter 18 Jahren. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Unfallopfer merkbar gestiegen. Hochgerechnet auf Österreich kommen wir auf rund 1.500 Unfälle pro Jahr. Auffällig ist, dass nahezu die Hälfte der Verletzungen beim Mountainbiken medizinisch als ,schwer’ einzustufen ist. Mit adäquater Schutzausrüstung und der Befolgung von Sicherheitstipps ließe sich das vermeiden.

Im Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins ,GROSSE SCHÜTZEN KLEINE’ haben wir für unsere aktuelle Studie Kinder- und Jugendunfälle mit Mountainbikes detailliert analysiert. Wenn man den Zeitraum von 2015 bis 2023 in Dreijahresperioden betrachtet, zeigt sich, dass die Zahl der Unfälle sukzessive gestiegen ist. Knapp 46 Prozent ereigneten sich in den vergangenen drei Jahren. Das spiegelt das verstärkte Interesse am Mountainbiken als Freizeitsport wider. Mountainbiken ist vor allem für Burschen attraktiv, knapp 92 Prozent der behandelten Kinder und Jugendlichen sind männlich. Der Altersschnitt liegt bei 13 Jahren. Wie bereits erwähnt, sind 47 Prozent der Verletzungen bei Mountainbike-Unfällen schwer – ein hoher Wert im Vergleich zu anderen Unfallarten. Elf Prozent der jungen Unfallopfer müssen stationär behandelt werden. Sehr häufig sehen wir Knochenbrüche (36 %), immer wieder auch Schädel-Hirn-Traumata (6 %) und Bänderrupturen (5 %). Alle anderen Verletzungen können der Großgruppe von Prellungen und Wunden zugeordnet werden. Vier von fünf Unfällen sind Stürze. Ein Großteil passiert beim „klassischen Mountainbiken“ (59 %). 18 Prozent entfallen aufs Downhill-Fahren und 8 Prozent auf missglückte Sprünge oder Landungen bei der Bewältigung von Hindernissen, sogenannten Obstacles. (8 %)

Der Radhelm zählt zur Standard-Schutzausrüstung und wurde von nahezu allen Unfallopfern getragen. Danach folgen Handschuhe (74 %) und Brillen (48 %). Knieschützer (45 %) kommen häufiger zum Einsatz als Rückenprotektoren (37 %). Nur ein Fünftel der Mountainbiker benutzt Clip-Schuhe, wobei gerade das Abrutschen von Pedalen oft als Unfallursache angegeben wird. Die Unfallopfer betrachten sich selbst zu 90 Prozent als „sehr routiniert“. Als Risikofaktoren für Unfälle nannten sie unbekannte Strecken oder neue Bikes, aber auch typische pubertäre Verhaltensweisen wie ‚Freunden imponieren‘, ‚Fahrkönnen überschätzt‘ oder ‚zu schnell gefahren‘. Um sicher mit dem Mountainbike unterwegs zu sein, sollte beachtet werden:

  • Adäquate Sportbekleidung und Schutzausrüstung verwenden;
  • Ausbildungs- und Trainingsstunden in Anspruch nehmen, besonders beim Downhill- und Obstacle-Fahren;
  • Trainer sollten Safety Coachings durchführen, vor allem für pubertierende Burschen; 
  • Nicht nur der Körper sollte aufgewärmt werden, sondern auch der Kopf – in Form einer Risikobesprechung; 
  • Nach einem Unfall die Ursachen analysieren, um daraus zu lernen;
  • Vorsicht auf bekannten Strecken. Diese verleiten zu mehr Lockerheit und bergen deshalb ein höheres Unfallrisiko; 
  • Bei einem neuen Mountainbike ist es wichtig, sich damit vertraut zu machen.

Prof. Dr. Holger Till, Präsident des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und Vorstand der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie in Graz


Metadaten
Titel
Im Wald kein Halten mehr?
Schlagwort
Sportmedizin
Publikationsdatum
03.09.2024
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 37/2024