Die Frage, ob Gesundheit tatsächlich das höchste Gut ist.
Thomas Kainrath
Ein Gesunder hat tausend Wünsche, ein Kranker hat nur einen, nämlich gesund zu werden. Der Spruch stammt wahlweise von Arthur Schopenhauer, Hippokrates oder der Uniqa-Versicherung. Er ist ein beliebter Opener für Vorträge bei Gesundheitsenqueten und steht auf der Türmatte mancher Fastenklinik.
Vordergründig mag Gesundheit tatsächlich das höchste Gut sein. Damit sind auch jene, die sich um die Gesundheit kümmern höchstes Gut, und das kann uns von der medizinischen Fraktion nur recht sein. Ich bin mir aber unsicher, ob nicht Liebe, Würde oder Freude zumindest ex aequo, wenn nicht – ketzerisch gedacht – sogar darüberstehen, also quasi guter als das Gut sind. Auch wenn jene das Wort „guter“ beanstanden, für die Rechtschreibung das höchste Gut ist.
Über die Güte der Güter entscheidet letztlich die Gesellschaft. Oder das Bildungsministerium. In der Schule ist Mathematik das höchste Gut. Und es war immer schon egal, ob man gesund war, oder gerade an der spanischen Grippe litt: Die Leistung musste erbracht werden, denn die Stammfunktion f(x) kümmert der Zustand ihres Berechners nicht.
Für einen Raucher kann hingegen die Zigarette das höchste Gut sein. Die Antwort auf die legendäre Frage des Henkers nach dem letzten Wunsch ist auch selten: Gesundheit. Meist ist es der Wunsch nach Ungesundheit – die letzte Kippe, eine fette Henkersmahlzeit, einmal noch ungeschützter Geschlechtsverkehr oder dass dem Richter beim schmerzhaften Stuhlgang der Blitz treffen möge.
Der Mensch ist zu komplex, um ihn einzig auf sein gesundes Funktionieren reduzieren zu können. Da kann noch so eine fiese Krankheit daherkommen, die Würde ist unantastbar – und damit die Bedürfnisse. Ähnliches wissen jene zu berichten, die mit Kranken zu tun haben. Denn selbst ein Mann mit Schnupfen hat nicht nur den einen Wunsch, wieder gesund zu werden.
Vom Taschentuch über den heißen Tee, das aufzurichtende Kissen und die Optimierung des Subwoofers, bis hin zum Kontaktieren des Nachlassverwalters: Es sind eher die tausend Wünsche eines Gesunden, die auch in der Krankheit ihre Gültigkeit haben. Natürlich hat der Krebs eine ganz andere Dimension als der Männerschnupfen, aber es würde dem Krebskranken nicht gerecht werden, ihn auf sein Leiden zu reduzieren. Mensch bleibt Mensch. Und Menschen lieben Subwoofer.
Hätten die Kranken und Siechenden in unserer Ordination einzig den Wunsch, gesund zu werden, wäre die Arbeit einfach. Doch die meisten unserer Patienten ziehen jedwedes Laster jedweder Lebensstilmodifikation vor und damit oft den Genuss der Gesundheit. Und die Wunschliste an uns ist lange: Ein Krankenstand, eine Frühpension, eine Verordnung für eine Massage, ein Kurantrag und eine Bestätigung, dass, aufgrund medizinischer Notwendigkeit, im Rahmen der Kur täglich 2 Stunden Ausgang gewährt wird, um zum Heurigen zu gehen. Tausend Wünsche also – und den einen, gesund zu werden. Aber eben diesen einen, unter vielen.