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Ärzte Woche

25.02.2020 | Tekal

Abgesang an Rituale

verfasst von: Dr. Ronny Tekal, Medizinkabarettist

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Über die ideale Gesellschaft ohne verpflichtende Gruppenaktivitäten.

Vielleicht haben Sie es ja mitbekommen, wir befinden uns nun am Beginn der christlichen Fastenzeit. Sehnsüchtig blicken katholische Kleriker auf andere Religionsgemeinschaften. Deren Gläubigen ist nämlich bewusst, wann man im Ramadan oder an Jom Kippur zu fasten hat – und zwar ohne, dass es am Tag vor dem Aschermittwoch einen Villacher Fasching im Fernsehen braucht, um zu zeigen, dass nun der Humor am Ende ist. Nicht einmal darauf ist Verlass, denn selbst jene TV-Sender, die einst am Karfreitag ausschließlich traurige Dokumentationen gezeigt haben, liefern nun 24 Stunden Comedy.

Man will jeden Tag frei entscheiden, was man tun möchte, nicht feiern müssen, wenn einem nicht zum Feiern zumute ist und auch sonntags shoppen gehen. Die Säkularisierung der Gesellschaft und der generelle Wunsch, sich die lieben schlechten Gewohnheiten nicht durch seltsame Rituale vergällen zu lassen führt dazu, dass das Individuelle gegenüber dem Gemeinsamen Oberhand gewinnt.

So ein Sprengen gesellschaftlicher Ketten ist durchaus zu begrüßen, auch wenn dadurch bestimmte Rituale nicht mehr durchführbar sind. Gemeinsame Familienausflüge funktionieren etwa oft nur dann, wenn man den Kindern nicht nur die Schönheiten einer gemeinsamen Bergwanderung vor Augen hält, sondern sie auch unter Androhung eines wochenlangen Handy-Entzuges erpresst. Doch im Nachhinein sind alle glücklich. Vor allem die Eltern.

Oder nehmen wir das Ritual eines chirurgischen Eingriffs. Da wird der Operationssaal zuvor festlich desinfiziert und mit den teuersten Geräten des ganzen Krankenhauses bestückt. Man trifft sich zuvor zur rituellen Waschung und bereitet den OP(fer)-Tisch für den Patienten. Ist alles vorbereitet, so erscheint der Operateur, mit einer gewissen Verspätung, die direkt proportional zum Dienstgrad steht, und setzt mit einer spirituellen Beschimpfung des Teams den ersten Schnitt. Ein Ritual, das einen erfahrenen Schamanen vor Neid erblassen lassen würde.

All das kann aber nur funktionieren, wenn die Protagonisten dieses Schauspiel auch mitmachen. Stellen wir uns vor, der am OP-Plan stehende Eingriff wäre bloß eine freiwillige Einladung an alle Beteiligten. „Heute Entfernung einer Gallenblase – Kommt bitte alle auf die Chirurgie – Mitzunehmen: sterile Kleidung und gute Laune. u. A. w. g.“ Verlässt man sich darauf, so könnte es sein, dass lediglich der Anästhesist und der Patient zum Termin erscheinen. Auch eine nette Begegnung und sehr kontemplativ, wenn einer schläft und einer Zeitung liest, doch der therapeutische Effekt durch eine alleinige Narkose ist fraglich.

Man kann sich aus der sozialen Geiselhaft befreien, die Flucht antreten und Weihnachten in der Karibik verbringen, Ostern in der Karibik verbringen oder das sonntägliche Familienessen in der Karibik verbringen. Doch manchmal sehnt sich auch ein Eremit nach dem verpflichtenden Gruppentanz im Animationsclub.

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Metadaten
Titel
Abgesang an Rituale
Schlagwort
Tekal
Publikationsdatum
25.02.2020
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 9/2020