Über Fragestellungen in der Wahlkabine und im Eisgeschäft.
Thomas Kainrath
Die Nationalratswahl ist geschlagen und alle sind irgendwie unzufrieden. Das liegt in der Natur der Demokratie, in der die Meinung der anderen leider auch eine Rolle spielt. Bemerkenswert war jedoch, dass etwa 25 Prozent der Bürger nur wenige Tage vor der Wahl noch zu keiner Entscheidung gekommen waren. Ich bin in einer Zeit groß geworden, als man bereits mit Eintritt in den Kindergarten nicht nur gemeinsam mit dem Kaplan das Kreuz in der Krabbelstube anzubeten, sondern auch zu wissen hatte, wo das Kreuz zu setzen ist, wenn man ins wahlfähige Alter kommt. Man stammte genetisch vom schwarzen oder vom roten Lager ab, prozessierte wahlweise an Fronleichnam oder am Maiaufmarsch und ein Wechsel der Fronten war undenkbar. Mittlerweile gibt es deutlich mehr Auswahl, man kann wechsel- oder protestwählen und das macht die Sache naturgemäß nicht einfacher: Soll man in der Wahlkabine strategisch wählen, dem Herzen folgend, es denen da oben reinsagen oder einfach nur den angebundenen Kugelschreiber entwenden?
Obwohl bereits seit Monaten bekannt war, was man von den etablierten Parteien zu erwarten hatte, entschieden sich viele in letzter Sekunde. Es ist wie beim Eisgeschäft, das im Prinzip immer dieselben Grundsorten anbietet, neben Schoko, Vanille und Haselnuss saisonal aber auch ein paar Exoten wie Matcha-Kimchi oder Grammelknödel-Crunchy-Karamell im Angebot hat, die jedoch meist an der Vier-Prozent-Hürde scheitern, um in die Tüte zu kommen. Auch wenn man bereits eine halbe Stunde in der Schlange steht, in der man die Eiskarte bereits auswendig gelernt hat, wird man jedes Mal aufs Neue von der Frage „Welche Sorten hätten Sie gerne?“ kalt erwischt. Damit war echt nicht zu rechnen. Selbst die Eisexperten, die bereits unzählige Abhandlungen über mögliche Kombinationen von Eissorten studiert haben, kommen nur zu dem Schluss, dass sie das Schlumpf-Eis nicht möchten. Damit wird, unter den missbilligenden Blicken der Wartenden, mit der Gegenfrage „Was hätten Sie denn im Angebot“ die
Sache nochmals aufgerollt und der Entscheidungsprozess neu in Gang gesetzt.
Unvorbereitet trifft es uns nicht, da es für alle Lebensbereiche Altfragen gibt. Sie sind nicht nur im Medizinstudium eine große Hilfe, um statt den 1.200-seitigen Forth-Henschler nur die zehn traditionell zu erwartenden Fragen für die Pharma-Prüfung zu lernen. Selten wird ein designierter Ehepartner bei einer Hochzeit auf die bekannte Frage statt mit „Ja, ich will!“ mit „Also das kommt jetzt echt überraschend, Herr Pfarrer!“ reagieren. Selbst Kleinkinder wissen bereits, dass der Nikolo fragt, ob man brav war, der Kasperl, ob alle da sind, und die Eltern, ob man schon Zähne geputzt hat. Das ist echt keine Raketenwissenschaft.
Man kann darüber diskutieren, ob eine wohlüberlegte Entscheidung oder ein spontanes Bauchgefühl die bessere Wahl ist. Aber man kann sich nicht darauf ausreden, dass man die Frage nicht zuvor schon gekannt hat.