Alles auf einmal oder doch lieber in Raten?
Thomas Kainrath
Wer noch nie gebinged hat, werfe die erste Fernbedienung. Nicht nur die Generation Z hängt stundenlang im Netz, um sich ohne Unterbrechung 20 Serien in Folge anzusehen, auch die Boomer erkennen, dass man die Freizeit nicht nur an der frischen Luft und mit guten Gesprächen, sondern auch auf der durchgelegenen Couch mit schlechten Filmen verbringen kann.
Obwohl mit Netflix das „Binge-Watching“ (zu deutsch „Serien-Marathon-schauen“ oder auch „Koma-Glotzen“) erst Einzug in den täglichen Sprachgebrauch gehalten hat, ist der Streaminganbieter nicht ganz glücklich mit diesem Begriff. Schließlich ist er negativ konnotiert, erinnert das „Bingen“ doch weniger an die Klostermedizinerin Hildegard von –, als vielmehr an die Unmäßigkeit. Nichts, womit sich Netflix schmücken möchte. Denn selbst wenn man ein verregnetes Wochenende ohne Weiteres mit Narcos rumbringen kann, um anderen Leuten beim Handeln mit Drogen zuzusehen, könnte man stattdessen auch außer Haus gehen, um selber zu dealen. Probleme, die wir in unserer Jugend nicht hatten. Bingen war früher in Österreich gar nicht möglich, da die Rundfunkanstalten dagegenhielten. Wollte man sich eine Staffel Dallas reinziehen, so musste man ein halbes Jahr lang jeden Dienstagabend dafür freihalten. Mittlerweile kann man sämtliche James-Bond-Filme en bloc schauen, mit spezieller Funktion sogar auf 1,5-facher Geschwindigkeit, um Zeit zu sparen. So schnell wurde noch nie ein Martini geschüttelt.
Die teuflische Autoplay-Funktion, die am Ende einer Folge automatisch die nächste abspielt, bevor man es schafft, zur Ausschalttaste zu robben, ist wie ein Dealer, der seine Kundschaft immer mit neuem Stoff versorgt. Die Neigung zum zügellosen Medien-Konsum hat es jedoch bereits gegeben, als man verbotenerweise Karl May unter der Bettdecke gelesen hat. Dennoch ist es heute sozial höherstehend, ein Buch wie Doktor Schiwago zu „verschlingen“ als eine Staffel von Doktor Who zu bingen.
Wenngleich ich mich selbst in manchen Belangen durchaus als unbeherrscht einstufen würde, bin ich kein passionierter Binger. Im Gegenteil. Eine Serie, die mir gefällt, spare ich mir häppchenweise auf, damit ich möglichst lange etwas davon habe. Ich bin auch ein überaus langsamer Buch-Leser und brauche oft Monate für einen Roman, da ich immer wieder ein paar Seiten zurückblättern muss, weil ich mich nicht mehr erinnern kann, was ich vor einer Woche gelesen habe. Ich bin quasi der Antichrist der Binger, zwar unmäßig, aber auf Raten. Zum Unverständnis meiner Frau betreibe ich auch kein „Binge-Tanken“ (einmal vollmachen), sondern tanke einfach immer um denselben (niedrigen) Betrag. Das hat durchaus Vorteile, denn der Benzinpreis hat sich dadurch für mich seit Jahren nicht erhöht.
Ich glaube, damit absolut richtig zu liegen. In der Medizin geben wir auch nicht statt täglich 1.500 mg eines Diabetesmedikamentes lediglich einmal im Jahr eine einzige Tablette mit einem halben Kilogramm. So ein Binge wäre selbst für das Drogen-kartell von Narcos zu viel.