Die erfolgreichste Heilung ist, die Krankheit abzuschaffen.
Thomas Kainrath
Jedes Jahr tanzt die LGBTQIA+ Community auf der Pride Parade über die Wiener Ringstraße, feiert, demonstriert unter den Blicken der Stadtregierung und lässt sich demonstrativ blicken. Das ist etwas Wunderbares und zeigt, dass die Welt vielleicht doch ein weniger toleranter ist, als sie sich ruppigerweise sonst gibt. Man kann natürlich als Österreicher auf die Berge, das saubere Wasser und die Mozarter-Sänger-Lipizzaner stolz sein. Oder man ist proud auf die Pride. Und wenn ein grantelnder Straßenbahnfahrer, für den zwei gleichberechtigte Geschlechter bereits zu viel des Fortschritts sind, auf dem Dach seiner Garnitur mit zwei Regenbogenflaggen durch die Stadt fahren muss, hat das einen gewissen Wiener Charme.
Selbstverständlich ist das nicht, denn schon ein, zwei Nachbarländer weiter sieht das anders aus. Mitunter auch ein, zwei Bundesländer. In diesem Sinn ist wohl das bei der diesjährigen Parade mitgeführte Transparent „Wien darf nicht Österreich werden“ auch zu verstehen.
Angesichts der 250.000 Personen, die sich da tummeln, drängt sich die Frage auf: Was würde sich ein zeitreisender Psychiater, der in den 1950er-Jahren noch, in bester Absicht, therapeutische Strategien gegen solch „pathologischen Neigungen“ ersonnen hat, angesichts dieses selbstbewussten Aufmarsches seiner Klientel wohl denken? Die damaligen Behandlungen klingen sehr vertraut nach aktuellen Leitlinien für jede x-beliebige Erkrankung: So wurde als Stufe eins die nichtmedikamentöse Maßnahme der „Bewegung an der frischen Luft“ empfohlen (um dem sexuellen Appetit mit Ermüdung entgegenzuwirken), danach waren Psychopharmaka, Hormone, eine Elektrokrampftherapie oder auch eine Kastration vorgesehen. Erst 1990 hat die WHO die Homosexualität von der Liste psychischer Erkrankungen gestrichen – und damit Millionen von Menschen mit einem Schlag geheilt. Ihr bislang größter gesundheitlicher Erfolg – und wohl auch der billigste. Im ICD 11 sind seit 2018 immerhin auch Trans* nicht mehr „mental- oder verhaltensgestört“. Dass die „Geschlechtsinkongruenz“ nach wie vor drin ist, mag dem Umstand geschuldet sein, dass Krankenkassen ohne Diagnose auch keine Behandlungskosten übernehmen. Als Hausarzt kennt man die Voraussetzung für eine Kassen-Refundierung: „Ohne Code vom ICD bleibt es tot im Portemonnaie“.
Ich möchte jetzt nicht das Diversity-Fass öffnen, da ich in dieser Kolumne sicher auf eine Gruppe vergesse, von der ich gebasht werde. Sondern den Fokus darauf lenken, wie man jahrzehntelang auf wissenschaftlicher Basis einen derart evidenzbasierten Topfen verbreiten konnte. Und dass es recht naiv wäre zu glauben, dass sich die Arroganz einer etablierten Lehrmeinung heute verflüchtigt hat. Sie kommt nur in einer etwas anderen Form wieder. So gut getarnt, dass wir die Borniertheit erst wieder in ein paar Jahrzehnten erkennen. Zu einer Zeit, in der Krankenkassen vielleicht auch für Gesunde da sein werden.