Wenn sich Verletzungen entlang der genannten Register in Gefühlen artikulieren und affektiv er- und durchlebt werden, sei von „affektiven Verletzungen“ gesprochen, etwa in der Angst, der Sehnsucht, der Scham, der Trauer oder dem Ärger. Welche Rolle spielen Gefühle in all dem und wie ist die affektive Erfahrung strukturiert?
Gefühle erfüllen in einer solchen Erfahrung verschiedene Funktionen: Sie bieten uns eine Orientierung dafür, was für uns von Bedeutung und von Wert ist, motivieren uns zu Handlungen, dienen dem Ausdruck unseres Erlebens und darin der Verständigung (Fuchs und Koch
2014, S. 4). Im Politischen dienen sie der Mobilisierung, dem Widerstand und der Sozialkritik (Butler
2009, S. 34), hier formieren sie sich um Anerkennungspraxen, um Inklusion und Exklusion und gelten nach Butler den genannten Ermöglichungsbedingungen eines wertvollen und lebenswerten Lebens. An der Unterscheidung von responsiven und irresponsiven Verletzungen fand sich ebenso der Übergang, wo Verletzungen das affektive Leben überschreiten, etwa in mittelgradigen oder schweren Depressionen. Im Folgenden seien zwei Dimensionen der affektiven Erfahrung umrissen, nämlich eine leibliche sowie eine kognitive bzw. sinnbildende Seite. An ihnen sei die Erfahrung affektiven Leidens weiter differenziert.
Die Rolle des Leibes: Medium unseres affektiven Lebens
Die Beschreibung der leiblichen Seite der Erfahrung affektiven Leidens fußt auf Grundmotiven einer phänomenologischen Leibtheorie. Dazu gehört etwa die Grunddifferenz von Leib und Körper. Während der „Leib“ die subjekthafte Seite betont, etwa das propriozeptive Eigenerleben, akzentuiert der „Körper“ die objekthafte Seite wie etwa innermedizinische Beschreibungen. Damit einher geht die Unterscheidung zwischen der Medialität und Materialität des Leibes. Während die Medialität den Zug benennt, dass wir mit und durch den Leib auf Welt bezogen sind, verweist die Materialität auf einen Körper, der einen Raum einnimmt, Gewicht, Ausdehnung hat und subliminal, also jenseits der Wahrnehmungsschwelle, einen Stoffwechsel zu seinem Erhalt durchläuft.
In der Beschreibung des Charakters affektiver Leidenserfahrung liegt der Fokus auf der
Medialität des Leibes. Diese sei verstanden als:
mit dem Leib und
durch den Leib erfahren wir Gefühle. Der Leib erhält entsprechend auch die Bestimmung als „Medium unserer affektiven Betroffenheit von einer Situation“ (Fuchs und Koch
2014, S. 16) und als Medium des affektiven Leidens: Mit dem Leib durchleben wir schmerzvolle Gefühle wie Angst, Scham, Trauer, Zorn oder Anderes: „Being afraid, for instance, is not possible without feeling a bodily tension or trembling, a beating of the heart or a shortness of breath, and a tendency to withdraw. It is
through these sensations that we are anxiously directed toward a frightening situation“ (ebd., S. 3). Durch leibliche Empfindungen oder leiblich spürbare Handlungsimpulse zeigt sich auch an, dass
Intentionalität, also unser Gerichtet-Sein, sowie
Phänomenalität, also die propriozeptiv spürbare Qualität unseres Erlebens, miteinander verflochten sind. Unseren Leib als Medium der affektiven Erfahrung und des affektiven Leidens aufzufassen, konzipiert diesen entsprechend als ein
leibliches Gerichtet-Sein (Ratcliffe
2005, S. 51; Fuchs und Koch
2014, S. 15; Gallagher und Zahavi
2012, S. 137; Helm
2009). Intentionalität als prinzipiell leiblich zu denken, hat auch zur Konsequenz, vor dem Hintergrund des Disputs von Emotions- und Feelings-Theorien, die Differenzierung zwischen Emotionen (mit dem Fokus auf die Intentionalität) und Gefühlen (mit dem Fokus auf die leibliche Phänomenalität) als obsolet anzusehen und beide Begriffe synonym zu verwenden.
Das phänomenologische Leib-Verständnis versetzt ebenso in die Lage, den Unterschied zwischen einem körperlichen Schmerz und leiblich-affektivem Leiden zu charakterisieren. Dies möchte ich anhand eigener persönlichen Schmerzerfahrungen veranschaulichen, als vor mehreren Jahren die Trauer um den Tod meiner Verlobten flankiert wurde von den Schmerzen eines absterbenden Zahnnervs. Die Zahnschmerzen rückten meine leibliche „Verankerung in einer Welt“ (Waldenfels
1980, S. 39) in den Fokus, sie ereigneten sich als „Rückbeorderung“ aus dem Vertieft-Sein in die Belange meines Alltags und zentrierten mein Erleben auf meinen faktischen Körper als Verankerung meines Erfahrens. Der Körper schob sich in den Vordergrund und drückte alle Beschäftigungen mit der Welt an den Rand des bewussten Erlebens bzw. in dessen Hintergrund. Der Schmerz engte meine Welt ein, limitierte den Horizont meiner Möglichkeiten, eine Beschäftigung mit diagnostischen Erwägungen, Zeitplanungen oder alltägliche Erledigungen waren kaum noch möglich. Erst die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt hob sowohl den Schmerz als auch diese Zentrierung und Einengung der Erfahrung auf. Dies schaffte nachfolgend eine Offenheit für die Trauer um meine Verlobte rund um den 6. Monatstag ihres Versterbens. Meinen Leib ereilte damit ein anderer Schmerz, nämlich jener der Trauer über ihren Tod. Vollzog sich beim Zahnschmerz eine
Zentrierung meines Leibes, ereignete sich das Aufkommen des Trauerschmerzes als
Dezentrierung, der Leib wurde medial transparent (Gallagher und Zahavi
2012, S. 155), trat in den Hintergrund der Erfahrung und wurde zum Medium des affektiven Leidens. Meine leibliche Erfahrung richtete sich auf meine Welt und den Verlust eines wichtigen Bezugszentrums meines Lebens und meines Alltags. Gerade weil diese beiden Schmerzerfahrungen zeitlich so nahe beisammen lagen, erlauben sie eine deutliche Kontrastierung zweier Formen leiblichen Schmerzes und zweier Erscheinungsweisen leiblicher Erfahrung. Bei beiden Formen des Schmerzes unterscheidet sich die Rolle, die der Leib hat: Einmal drängt er sich auf, einmal wird er medial-transparent. Auch der Weltbezug nimmt unterschiedliche Formen an: der körperliche Schmerz gebietet eine Rückbeorderung auf den faktischen Körper und limitiert eine offene Welt, während der affektive Schmerz hingegen in die Welt vertieft ist und einen anderen Fokus hat. Der leiblich-affektive Schmerz im affektiven Leiden lässt sich bestimmen als eine hintergründige leibliche Empfindung, verstanden als eine phänomenale Qualität eines intentionalen Bezogen-Seins. Er erweist sich darin primär als leiblich-medialer Zug der Erfahrung und weniger als ein eigener Inhalt.
Affektive Sinnbildung: Versteifung und Kollabieren der Intentionalität
Mit dem Motiv „affektive Sinnbildung“ sei unter phänomenologischen Vorzeichen darauf Bezug genommen, was üblicherweise im Diskurs als Kognitionen, Evaluationen oder Urteile erörtert und im Theorie-Disput zwischen Feelings- und Emotions-Theorien der Seite der Intentionalität zugeschrieben wurde. Die phänomenologische Annäherung erfolgte entlang des Konzepts der „Sinnbildung“ nach Tengelyi im Kontrast zum Begriff der „Sinngebung“ bei Husserl. Der Verschiebung von „Sinngebung“ zu „Sinnbildung“ geht es dabei darum, eine Genese von Sinn zu beschreiben, die „sich der Verfügungsgewalt des sinngebenden Bewusstseins entzieht“ (Tengelyi
2004, S. 790) und passive Elemente enthält, die wir nicht selbst hervorbringen, die uns widerfahren und mit denen wir konfrontiert sind. Die Phänomenologie von Waldenfels eignet sich auch dafür, entlang des Doppelereignisses von Widerfahrnis und Antwort eine solche Genese von Sinn zu beschreiben, die gleichermaßen als Antwort auf Widerfahrendes verstanden werden kann. So spricht Waldenfels von einer „Formbildung“ (Waldenfels
2015, S. 268), nicht in dem Sinne, „dass es etwas gibt, das als solches aufgefasst wird, sondern dass etwas
zu etwas wird,
indem es als solches aufgefasst wird“ (ebd.). Die Frage danach, wie affektive Sinnbildung in Verletzungen beeinträchtigt werden kann, bedient sich dabei zahlreicher Motive einer „Philosophie des Sinnes“ (Waldenfels
2012, S. 36).
Ein solcher Blickwinkel eröffnet die Beschreibung von Verletzungen als Limitierung und Einengung von Spielräumen der Sinnbildung und Möglichkeiten des Antwortens – Verletzungen zeigen sich als Störerfahrungen der Sinnbildung. Waldenfels beschreibt dabei zwei Formen solcher Deformierungen: „Pathologische Phänomene lassen sich derart als Ausuferungen oder Fixierungen des pathischen Geschehens begreifen“ (Waldenfels
2002, S. 334).
Die genannte „Fixierung“ sei beschrieben als eine habituelle Versteifung der Wahrnehmung. Dies möchte ich mit einer jungen Frau veranschaulichen, die auf Wunsch ihres Partners und seiner Familie ihre Schwangerschaft nicht annahm und vor dem Hintergrund ihrer biografischen Prägungen durch einen gewalttätigen Vater auf ihren eigenen Kinderwunsch verzichtete. Was sich hierin findet, ist eine Einengung ihrer habitualisierten Wahrnehmung, deren Struktur biografisch geprägt ist von der Beziehungsdynamik mit ihrem gewaltsamen Vater. Die Muster der Interaktion mit ihrem Vater wiederholt sie in anderen Kontexten, etwa mit dem Partner, der mit ihr ein Kind zeugte. Ihre Sinnbildung blieb fixiert auf Routinen, die aus der Interaktion mit ihrem Vater hervorgegangen waren. Dieses Beispiel vermag es auch, zu veranschaulichen, wie sich Verletzungen einschreiben und durch Wiederholungen und Reproduktion dauerhaft Eingang in die Konstitution eines Subjekts finden.
Gerade dieses Phänomen veranlasst auch dazu, neben der Verletzbarkeit und der Verletzung ausdrücklich auch von einer Verletztheit zu sprechen, die bekundet, dass Verletzungen Spuren hinterlassen und wie Narben in der Subjektkonstitution zurückbleiben. Der Aufweis einer solchen Struktur trägt auch dazu bei, in der Rede vom Subjekt nicht von einer impliziten Integrität auszugehen, sondern das Subjekt-Sein als immer schon von Verletzungen durchzogen anzusehen.
Was Waldenfels als „Ausuferung“ benannte, sei beschrieben als ein stufenweises Erodieren von Sinnzusammenhängen, im Zuge derer eine betroffene Person Halt in der Welt verliert. In der Nachricht über den Tod eines Angehörigen oder in der Aussprache mit der Partnerin, die die Beziehung unerwartet beendet, zerreißen Sinnzusammenhänge. Entsprechend handelt es sich hierbei um starke Erfahrungen, die Sinnbildungen kollabieren lassen und als Nichtung von Sinnzusammenhängen verstanden werden können.
Während die habituelle Versteifung eine Fixierung aufseiten des Antwortens bedeutet, so ließe sich dem gegenüber auch noch eine Fixierung aufseiten des Widerfahrnisses umreißen. Damit sind sich aufdrängende Gedanken oder Gefühle gemeint, wie etwa die anhaltende Trauer, oder auch Erfahrungen des Übergriffs oder der Gewalt. Als Veranschaulichung möchte ich eine junge erwachsene Frau, Anfang 20, aus der psychotherapeutischen Praxis heranziehen, die wochenlang von Erinnerungen an Übergriffe von einem Jugendlichen heimgesucht wurde. Der Sohn einer befreundeten Familie hatte im Alter von 16 die Klientin im Alter von 8 mehrfach im Intimbereich berührt und sich mit seinem Becken an ihr gerieben. Diese sich aufdrängenden Erinnerungen versetzten die Klientin anhaltend in stark belastende Zustände. Eine solche Erfahrung möchte ich bezeichnen als repetitive Nötigung durch ein Widerfahrnis. Ein Subjekt wird von einem Widerfahrnis anhaltend genötigt, auf es zu antworten. Diese Nötigung trägt ein Machtgefälle in sich, der vielfältige Antwortversuche nichts entgegenhalten können, um es zu beruhigen. Lässt sich die habituelle Fixierung als responsive Fixierung bezeichnen, so steht ihr mit dem genannten Beispiel eine pathische Fixierung gegenüber. Dies möchte ich als Erweiterung bzw. Ausdifferenzierung der These von Waldenfels begreifen.
Die leitende These von Waldenfels, Sinnbildung als Antwortgeschehen zu verstehen, charakterisiert den Ansatz dieser Erörterung als
interaktionistisch, ereignishaft und
prozessual: Indem wir uns mit der Welt auseinandersetzen und auf Widerfahrenes antworten, bildet sich neuer Sinn heraus: „Etwas bekommt Sinn, was nicht schon Sinn hat“ (Waldenfels
2015, S. 166). Selbiges gilt auch für die Ausbildung von Begehren und Werthaftem, wenngleich sich Bedeutsamkeit und Begehrlichkeit in unterschiedlichen Geschwindigkeiten formieren: „Etwas, das unser Begehren weckt, wird nur allmählich begehrenswert und erweist sich als solches im Laufe einer Arbeit, die Zeit braucht. Hier wird deutlich, dass Bedeuten und Begehren, Kognition und Emotion nicht parallel laufen“ (Waldenfels
2015, S. 269). Gleiches gilt für affektive Verletzungen: Die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, hat nicht schon eine feste Bedeutung, die lediglich nur mehr zu explizieren wäre, sie entsteht erst im Zuge unserer Auseinandersetzung mit ihr.