Hintergrund
Jede Form der Antikoagulation kann das Risiko für Spontanblutungen sowie das Blutungsrisiko im Rahmen von chirurgischen und interventionellen Eingriffen erhöhen. Sowohl unter Vitamin-K-Antagonisten (VKA) als auch unter Nicht-VKA-oralen Antikoagulanzien (NOAK – am Markt sind der direkte Thrombinhemmer Dabigatran sowie die direkten Faktor-Xa-Hemmer Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban) muss mit einer erhöhten Spontanblutungsrate und einem erhöhten perioperativen bzw. periinterventionellen Blutungsrisiko gerechnet werden. Die Datenlage sowohl zur oralen Antikoagulation zur Schlaganfallprävention bei Patienten mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern (VHF) als auch zur Therapie der akuten venösen Thromboembolie (VTE) zeigt konsistent, dass NOAK ein günstigeres Nutzen-Risiko-Profil aufweisen als VKA [
1]. Dabigatran ist das NOAK mit der breitesten Datenlage aus klinischen Studien und den meisten Daten zur Langzeitanwendung und zur Anwendung im klinischen Alltag. Dabigatran hat sich bereits ohne Verfügbarkeit eines spezifischen Antidots in der Anwendung als zumindest ebenso sicher oder sicherer erwiesen als Warfarin [
2]. Empfehlungen zum perioperativen und periinterventionellen Management von Patienten unter Dabigatran und zum Management von Dabigatran-induzierten Blutungen bieten eine Richtschnur für die Prävention von Blutungen und das Vorgehen bei Blutungen unter Dabigatran ohne spezifisches Antidot [
3].
Nun steht mit Idarucizumab erstmals ein spezifisches Antidot zu einem NOAK zur Verfügung, mit dem die gerinnungshemmende Wirkung von Dabigatran sehr rasch und vollständig aufgehoben werden kann. Das Antidot ermöglicht ein verbessertes prophylaktisches und therapeutisches Management von Blutungen im perioperativen/periinterventionellen Setting und ein gezielteres Eingreifen bei Spontanblutungen bei Patienten unter Therapie mit Dabigatran als bisher. Ein Neustart der Antikoagulation ist prinzipiell nach 24 h möglich. Der Zeitpunkt hängt von der klinischen Situation ab.
Dieser Leitfaden fasst die aktuelle Datenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit von Dabigatran und die wissenschaftliche Evidenz zu Idarucizumab zusammen und gibt Empfehlungen zum Einsatz von Idarucizumab im chirurgischen, neurologischen sowie notfall- und intensivmedizinischen Setting unter Berücksichtigung hämatologischer und hämostaseologischer Aspekte.
Wirksamkeit und Sicherheit von Dabigatran
Dabigatran ist zur Primärprävention von venösen thromboembolischen Ereignissen bei erwachsenen Patienten nach elektivem chirurgischem Hüft- oder Kniegelenkersatz, zur Prävention von Schlaganfall und systemischer Embolie bei erwachsenen Patienten mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern mit einem oder mehreren Risikofaktoren und zur Behandlung tiefer Venenthrombosen (TVT) und Lungenembolien (LE) sowie zur Prävention von rezidivierenden TVT und LE bei Erwachsenen zugelassen [
4].
Dabigatran wurde zur
Prävention von thromboembolischen Ereignissen bei Patienten mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern (VHF) in beiden zugelassenen Dosierungen (110 mg und 150 mg 2x täglich) prospektiv und randomisiert untersucht [
2]. Beide Dosierungen waren Warfarin bezüglich des primären Endpunkts (Schlaganfall und systemische Embolie) nicht unterlegen. In der Dosierung von 150 mg 2x täglich senkte Dabigatran die vaskuläre Mortalität im Vergleich zu Warfarin und als einziges NOAK auch das Risiko für ischämische Schlaganfälle. Schwere Blutungen waren unter Dabigatran 110 mg 2x täglich statistisch signifikant seltener als unter Warfarin und unter Dabigatran 150 mg 2x täglich vergleichbar häufig wie unter Warfarin. Lebensbedrohende Blutungen, intrakranielle Blutungen („intracranial hemorrhage“ – ICH) sowie Blutungen insgesamt waren unter beiden Dabigatran-Dosierungen statistisch signifikant seltener als unter VKA [
2]. Im Langzeit-Follow-up über bis zu 6,7 Jahre (Median 4,6 Jahre) blieben die Effekte bei fortgesetzter Therapie erhalten [
5].
Real-Life-Daten von über 200.000 Patienten aus mehreren Datenbankanalysen bestätigen die klinischen Studiendaten [
6‐
12].
In der
Akuttherapie der TVT und der PE und in der
verlängerten Therapie der VTE verhinderte Dabigatran VTE und VTE-assoziierte Todesfälle ebenso effektiv wie Warfarin, bei signifikant geringerem Risiko für schwere Blutungen und für Blutungen insgesamt [
13].
Blutungen unter Dabigatran waren trotz fehlenden spezifischen Antidots vergleichbar gut beherrschbar wie Blutungen unter Warfarin. Majeed et al. analysierten die Daten von 1034 Personen mit 1121 schweren Blutungen im Rahmen von fünf Phase-III-Vergleichsstudien zwischen Dabigatran und Warfarin. Es wurde gezeigt, dass bei Patienten mit schweren Blutungen unter Dabigatran häufiger Blutkonserven und seltener „Fresh Frozen Plasma“ (FFP) eingesetzt worden waren, der Intensivstationsaufenthalt kürzer und die 30-Tages-Mortalität nach der Blutung tendenziell niedriger waren als bei Patienten mit Blutungen unter Warfarin (p = 0,051) [
14]. Wie eine retrospektive Analyse zeigt, hatten Patienten mit VHF, bei denen unter Dabigatran eine intrakranielle Blutung auftrat, kein höheres 30-Tages-Mortalitätsrisiko als Patienten mit ICH unter Warfarin [
15]. Ein sofortiger Stopp der Dabigatran-Wirkung könnte das klinische Outcome durch die rasche Ausschaltung der pharmakologisch bedingten Blutungsursache steigern.
Elektive Eingriffe bei Patienten unter Dabigatran
Da antikoagulierte Patienten bei chirurgischen oder invasiven Eingriffen ein erhöhtes Blutungsrisiko aufweisen, kann ein vorübergehendes Absetzen des Antikoagulans erforderlich sein. Interdisziplinäre österreichische Leitfäden beschreiben das perioperative Vorgehen bei verschiedenen elektiven Eingriffen bei Patienten unter Therapie mit Dabigatran [
3]. Der Zeitpunkt für das Absetzen von Dabigatran vor einem elektiven Eingriff orientiert sich am Blutungsrisiko (hohes Blutungsrisiko/größerer Eingriff versus Standardrisiko) und an der Nierenfunktion, da die Dabigatran-Clearance bei Niereninsuffizienz verlängert ist (Tab.
1; [
4]) Falls der Eingriff nicht entsprechend diesen Vorgaben verschoben werden kann, besteht möglicherweise ein erhöhtes Blutungsrisiko.
Tab. 1
Präoperatives Absetzen von Dabigatran in Abhängigkeit von der Nierenfunktion und dem erwarteten Blutungsrisiko [
4]
Nierenfunktion (Kreatininclearance in ml/min) |
Geschätzte Halbwertszeit (Stunden) |
Zeitpunkt für das Absetzen von Dabigatran je nach geplantem elektiven Eingriff
|
| Hohes Blutungsrisiko/ größerer Eingriff | Standardrisiko |
> 80 | ca. 13 | 2 Tage | 1 Tag |
50 bis 80 | ca. 15 | 2–3 Tage | 36 h |
30 bis 50 | ca. 18 | ≥ 4 Tage | 2–3 Tage |
Datenlage zu Idarucizumab
Idarucizumab ist ein vollhumanisierter Antikörper ohne Fc-Fragment mit 350-fach höherer Affinität zu Dabigatran als zu Thrombin. Idarucizumab bindet nach intravenöser Gabe freies Dabigatran und an Thrombin-gebundenes Dabigatran und neutralisiert dessen Wirkung. Idarucizumab verändert das Dabigatran-Gleichgewicht im Körper. Dies führt dazu, dass Dabigatran von Thrombin dissoziiert und aus Geweben ins Plasma gelangt [
16]. Idarucizumab bindet nicht an andere direkte Thrombininhibitoren. Die initiale Halbwertszeit (HWZ) von Idarucizumab liegt bei 45 min, die terminale HWZ bei 4,5–9 h. Idarucizumab wird renal abgebaut und in höheren Dosen (≥ 1 g) auch direkt renal eliminiert. Eine Vortherapie mit Dabigatran hat keinen erkennbaren Effekt auf die Pharmakokinetik von Idarucizumab [
17].
Idarucizumab inaktiviert nach intravenöser Gabe die gerinnungshemmende Wirkung von Dabigatran sofort und komplett, ohne pro- oder antikoagulatorischen Effekt. Dies zeigen Studien mit gesunden Freiwilligen mit normaler Nierenfunktion im Alter zwischen 21 und 80 Jahren sowie mit Patienten mit milder oder moderater Niereninsuffizienz. Idarucizumab wurde gut vertragen [
17,
18]. Die Gabe von Dabigatran 24 h nach Applikation von Idarucizumab führte wieder zum erwarteten gerinnungshemmenden Effekt. Bei nochmaliger Gabe von Idarucizumab nach zwei Monaten wurde ein vergleichbarer Effekt erzielt und es traten keine Komplikationen auf [
18]. Es wurde keine relevante Anti-Idarucizumab-Antikörperbildung beobachtet [
17,
18].
Ein Warnhinweis bezüglich der Gabe von Idarucizumab ist die hereditäre Fruktoseintoleranz (Infusionslösung enthält Sorbit), was jedoch klinisch unbedeutend ist, da die Verhinderung einer potenziell lebensbedrohenden Blutung höher einzuschätzen ist als eine eventuelle Intoleranzreaktion.
Die erste Zwischenauswertung der laufenden Zulassungsstudie RE-VERSE AD [
19] bestätigt die bei freiwilligen Probanden gezeigte Wirkung von Idarucizumab auch bei Patienten, bei denen unter Dabigatran eine unkontrollierbare oder lebensbedrohende Blutung auftrat bzw. die einen dringenden chirurgischen Eingriff oder eine dringende invasive Intervention benötigten, die nicht länger als 8 h aufgeschoben werden konnte (Patientencharakteristika siehe Infobox). Die Patienten erhielten die Gesamtdosis von Idarucizumab 5 g aufgeteilt auf 2 × 2,5 g in einem 50 ml-Bolus im Abstand von maximal 15 min. Die Dosierung war darauf ausgerichtet, die gesamte Dabigatran-Menge im Körper zu antagonisieren (basierend auf dem 99. Perzentil der in der RE-LY-Studie gemessenen Dabigatran-Plasmakonzentrationen).
Aus logistischen Gründen bestand bei 22 % der Patienten keine relevante Dabigatran-Wirkung vor der Antidotgabe. Die Wirksamkeitsanalyse erfolgte nur bei jenen 68 Patienten mit erhöhter Thrombinzeit anhand der Bestimmung der Thrombinzeit und bei jenen 81 Patienten mit erhöhter „Ecarin Clotting Time“ (ECT) anhand der ECT-Bestimmung. Der primäre Endpunkt der Studie, die maximale Aufhebung der gerinnungshemmenden Wirkung von Dabigatran, wurde bei allen Patienten erreicht. Die Ergebnisse der Wirksamkeitsanalyse sind in der Infobox dargestellt.
Trotz erfolgreicher Antagonisierung sind von den in der Interimsanalyse beschriebenen Patienten neun in jeder Gruppe verstorben. Es handelte sich hierbei um ein sehr krankes Patientenkollektiv (zwei Patienten mit septischem Schock, drei Patienten mit ICH, je ein Patient mit Multiorganversagen, hämodynamischem Kollaps, Atemstillstand und Herzstillstand), bei dem die reine Antagonisierung der Antikoagulation offenbar keinen Effekt auf den klinischen Verlauf hatte.
Idarucizumab für den klinischen Einsatz
Idarucizumab 5 g (d. h. 2 Fläschchen à 2,5 g/50 ml als Kurzinfusion oder Bolusgabe) wird zum Management der akuten Blutung unter Dabigatran und zur Anwendung vor Akutinterventionen in Verbindung mit einer verlängerten Gerinnungszeit zugelassen.
Bei Patienten mit anamnestischem Hinweis auf eine Dabigatraneinnahme ist nicht bei jeder Blutung und bei jeder operativen Intervention die Gabe von Idarucizumab bzw. ein Labortest sinnvoll. Es gilt, den Schweregrad der Blutung (leicht, schwer, lebensbedrohend) und das Blutungsrisiko eines chirurgischen Eingriffs (gering, hoch) abzuschätzen. Verschiedene klinische Szenarien wurden in Diskussionsrunden mit Experten aus den Bereichen Kardiologie, Innere Medizin, Neurologie, Unfallchirurgie, Labormedizin, Anästhesiologie und Intensivmedizin erörtert und werden im Folgenden dargestellt.
Idarucizumab bei Auftreten von Blutungen unter Dabigatran
Eine Entscheidungshilfe zum Einsatz von Idarucizumab bei Blutungen unter Dabigatran ist in Tab.
2 dargestellt.
Tab. 2
Entscheidungshilfe zum Einsatz von Idarucizumab und spezifischen Labortests bei Blutungen mit oder ohne Operationen und invasive Interventionen bei mit Dabigatran antikoagulierten Patienten
Leichte Blutung
Blutverlust < 20 % Patientenblutvolumen, kein Transfusionsbedarf, unkritische Lokalisation, hämodynamisch stabil | Kein Antidot |
Schwere Blutung
Blutverlust 20–40 % Patientenblutvolumen, unkritische Lokalisation | 5 g Antidot erwägen je nach klinischem Bild und Wirksamkeit flankierender Maßnahmen und Labortestung |
Transfusionspflichtige Blutung
mit Erythrozytenkonzentratgabe nach physiologischem Transfusionstrigger oder Hämoglobin-Trigger < 7–9 g/dla
| TZ-Verlängerung über den Referenzbereich (bzw. ein Spiegel > 100 ng/ml im Hämoclot®) lässt eine Restwirkung von Dabigatran erkennen und sollte zur Gabe des Antidots führen Sekundär akquirierte Gerinnungsstörung mit geeigneten Tests detektieren und bei Blutungsmanifestation gezielt therapierena
|
Lebens- oder organbedrohende Blutung
Blutverlust > 40 % Patientenblutvolumen, hämodynamische Instabilität mit Therapiepflichtigkeit oder kritische Lokalisation z. B. intrakraniell | Sofortige Gabe von 5 g Antidot i. v. so schnell wie möglichb
Sekundär akquirierte Gerinnungsstörung mit geeigneten Tests detektieren und bei Blutungsmanifestation gezielt therapierena
|
Leichte Blutungen (Blutverlust < 20 % des Patientenblutvolumens, keine hämodynamische Beeinträchtigung oder Therapieerfordernis, kein Transfusionsbedarf, unkritische Lokalisation), die standardmäßig mit unterstützenden Maßnahmen behandelt werden können, sind keine Indikation für die Gabe von Idarucizumab.
Treten bei Patienten unter Therapie mit Dabigatran
lebens- oder organbedrohende Blutungen auf (z. B. intrakranielle Blutungen, Blutungen ins Auge), ist Dabigatran abzusetzen und die Gabe von Idarucizumab schnellstmöglich indiziert, um die pharmakologische Gerinnungshemmung rasch aufzuheben [
20‐
22]. In dieser Akutsituation sollte das Eintreffen etwaiger Laborbefunde nicht abgewartet werden und die simultane Gabe beider Fläschchen Idarucizumab erwogen werden.
Treten bei Patienten unter Therapie mit Dabigatran schwere Blutungen (Blutverlust 20–40 % des Patientenblutvolumens) bzw. transfusionsbedürftige Blutungen auf, ist Dabigatran abzusetzen, und es kann die rasche Gabe von Idarucizumab erwogen werden. Mittels Thrombinzeit (TZ), verdünnter Thrombinzeit (z. B. mittels Hämoclot®) bzw. Ecarin-basierter Tests kann, wenn zeitnahe verfügbar, eine Restwirkung von Dabigatran nachgewiesen und der Einsatz von Idarucizumab gerechtfertigt werden.
Wenn die TZ allerdings im Referenzbereich ist, besteht keine relevante Gerinnungshemmung durch Dabigatran, und es erscheint die Gabe von Idarucizumab nicht notwendig. Eine verlängerte TZ hingegen spricht für einen relevanten Dabigatran-Effekt-und somit für die Antagonisierung.
Der Zusammenhang zwischen Dabigatran-Spiegel gemessen mit einer verdünnten Thrombinzeit (z. B. Hämoclot®) und Blutungsrate ist noch nicht hinreichend untersucht. Bei einem Dabigatran-Spiegel < 30 ng/ml scheint sehr wahrscheinlich keine relevante Gerinnungshemmung durch Dabigatran zu bestehen, und die Gabe von Idarucizumab erscheint nicht notwendig. Bei Dabigatran-Spiegeln > 200 ng/ml besteht eine relevante Gerinnungshemmung, und die Antagonisierung erscheint bei Blutung indiziert. Aber auch bei niedrigeren Dabigatran-Spiegeln könnte die Antagonisierung bei Blutung sinnvoll sein, wobei die klinische Beurteilung vorrangig sein sollte. Ein Grenzwert für eine Intervention muss durch zukünftige Studien und klinische Erfahrung definiert werden.
Flankierende Maßnahmen
Neben der raschen Gabe von Idarucizumab gelten bei der schweren, transfusionspflichtigen, organ- oder lebensbedrohenden Blutung die allgemeinen Empfehlungen für das Management schwerer Blutungen [
15]. Die Basismaßnahmen umfassen die individuelle Volumensubstitution zur hämodynamischen Stabilisierung und die Gabe von Erythrozytenkonzentraten im Falle der Unterschreitung von Transfusionstriggern. Dazu wird die Bestimmung von Hämoglobinspiegel und physiologischen Transfusionstriggern empfohlen. Invasive blutstillende Maßnahmen (chirurgische, radiologische/endovaskuläre oder endoskopische Interventionen) sollten ausgeschöpft werden. Hypothermie, Azidose und Hypokalzämie sind zu vermeiden. Andere vorbestehende oder durch die Blutung sekundär akquirierte Gerinnungsstörungen (neben der Gerinnungshemmung durch Dabigatran) sind durch geeignete rasche Monitoringverfahren auszuschließen bzw. mit geeigneten und sicheren Medikamenten gezielt zu korrigieren [
23,
24].
Idarucizumab vor chirurgischen Eingriffen und invasiven Interventionen
Eine Entscheidungshilfe zum Einsatz von Idarucizumab bei Operationen bei zuvor mit Dabigatran-behandelten Patienten ist in Tab.
3 dargestellt.
Tab. 3
Entscheidungshilfe zum Einsatz von Idarucizumab und spezifischen Labortests bei Operationen und invasiven Interventionen bei mit Dabigatran antikoagulierten Patienten
Elektiver Eingriff
mit geringem Blutungsrisiko | Kein Antidot |
Elektiver Eingriff
mit hohem Blutungsrisiko | Kein Antidot eher Dabigatran 2 bis ≥ 4 Tage vor dem Eingriff absetzena,b
TZ-Verlängerung vor dem Eingriff lässt eine Restwirkung von Dabigatran erkennen und sollte zur Anpassung des OP-Zeitpunktes führen |
Akuteingriff
mit geringem Blutungsrisiko | Antidot bereitstellen nur bei schwerer Blutungsmanifestation: 5 g Antidot |
Akuteingriff
mit hohem Blutungsrisiko z. B. Polytrauma, Wirbelsäulen-OP wegen Paraplegie | 5 g Antidot (bei Anästhesieeinleitung)c
intraoperativ akquirierte Gerinnungsstörung mit geeigneten Tests detektieren und bei Blutungsmanifestation gezielt therapierend
|
Die Operationsentscheidung und die Festsetzung der Dringlichkeit der Operation bei Eingriffen obliegen dem Chirurgen (z. B. Operationszeitpunkt bei Gallenblasenentzündung, Appendizitis, hüftnaher Fraktur).
Die Kategorisierung des Blutungsrisikos verschiedener chirurgischer Eingriffe soll krankenhausintern auch in Abhängigkeit von der Operationstechnik erfolgen. In der Bundesqualitätsleitlinie „Präoperative Diagnostik beim Erwachsenen“ wurde als Grenzwert für die schwere Blutung ein zu erwartetem Blutverlust von 500 ml definiert [
25].
Elektive, semielektive und notfallmäßige Eingriffe und Interventionen mit niedrigem Blutungsrisiko stellen keine Indikation für die Anwendung von Idarucizumab dar.
Akutoperationen oder Akutinterventionen mit hohem Blutungsrisiko stellen bei Patienten unter Dabigatran eine Indikation für die Gabe von 2 × 2,5 g Idarucizumab dar. Die Antagonisierung könnte sofort mit Anästhesieeinleitung erfolgen.
Bei dringenden (semielektiven) chirurgischen Eingriffen bzw. invasiven Interventionen mit hohem Blutungsrisiko bei Patienten unter Dabigatran trägt die Gabe von Idarucizumab dazu bei, die Eingriffe/Interventionen so rasch wie möglich durchzuführen. Damit kann vermieden werden, dass es aufgrund von Bedenken bezüglich eines erhöhten Blutungsrisikos unter bestehender antikoagulatorischer Wirkung von Dabigatran zu Verzögerungen mit nachteiligen Konsequenzen für die Patienten kommt. Es ist zu überlegen, Idarucizumab erst dann zu verabreichen, wenn tatsächlich ein relevanter Blutverlust eintritt – also nicht bereits prophylaktisch vor dem Eingriff. Die Vigilanz des gesamten Operationsteams ist Voraussetzung für ein abwartendes Vorgehen. Es ist weiters zu überlegen, vor semielektiven Eingriffen eine orientierende Labortestung (TZ, Ecarin-basierter Tests, Dabigatran-sensitiver Test [z. B. Hämoclot®]) durchzuführen und Idarucizumab nur bei nachgewiesener Dabigatran-Wirkung und Blutungsmanifestation zu verabreichen.
Bei Eingriffen, bei denen die Abschätzung des Blutungsrisikos schwierig ist und ein hohes Blutungsrisiko nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann (z. B. septische Coxitis), sollte Idarucizumab bereitgehalten werden. Idarucizumab sollte eingesetzt werden bei Auftreten einer relevanten Blutung bzw. bei Befunden, die auf eine relevante okkulte Blutung hinweisen. Ein Gerinnungstest kann hilfreich sein (siehe oben).
Anästhesieverfahren
Grundsätzlich sollten bei Patienten unter Dabigatran-Wirkung die Allgemeinanästhesie bevorzugt und die Indikation für (rückenmarknahe) Regionalanästhesieverfahren streng gestellt werden. Patientenaufklärung, perioperative klinische Observanz, gegebenenfalls diagnostische und therapeutische Interventionen sollten entsprechend nationaler Empfehlung erfolgen [
26].
Nach der Gabe von Idarucizumab
Im klinischen Alltag ist auf das Wiederauftreten einer Blutung in den ersten 24 h nach Antagonisierung zu achten. Auf ein allfälliges Wiederansteigen des Dabigatran-Spiegels durch Umverteilung von Dabigatran aus dem Gewebe bei ursprünglich sehr hohen Spiegeln ist zu achten. Bei Wiederauftreten einer schweren Blutung nach Idarucizumab-Gabe und dem Nachweis einer Dabigatran-Restwirkung kann die Gabe des Antidots (bis 2 × 2,5 g) wiederholt werden. Eine verlängerte TZ unterstützt die Indikation zu einer zweiten Gabe des Antidots.
Sowohl bei chirurgisch als auch bei konservativ behandelten Patienten sollte eine leitlinienkonforme Thromboseprophylaxe erfolgen. Zu berücksichtigen ist, dass bei Patienten, bei denen die Gabe von Idarucizumab erforderlich wird, prinzipiell eine Indikation zu einer oralen Dauerantikoagulation aufgrund einer bestehenden prothrombotischen Diathese besteht. Durch komplette Aufhebung der Dabigatran-Wirkung mit Idarucizumab sind diese Patienten nicht mehr vor thromboembolischen Ereignissen geschützt. Nach dem Blutungsereignis sollten frühzeitig nicht-medikamentöse Verfahren der Thromboseprophylaxe erwogen werden (z. B. intermittierende pneumatische Kompression).
Sobald die Blutung unter Kontrolle gebracht wurde und die Hämostase klinisch gegeben ist, sollte die therapeutische Antikoagulation wieder aufgenommen werden.
Nach Gabe von Idarucizumab kann es zu einer transienten Proteinurie kommen. Dies ist kein Hinweis auf eine Nierenfunktionsstörung.
Alternativen zu Idarucizumab
Steht in der Akutsituation kein Antidot zur Verfügung, dann sollen das Management situationsangepasst alle Maßnahmen umfassen, die vor der Zulassung von Idarucizumab empfohlen waren (Aktivkohle, Hämodialyse, PPSB bzw. aktiviertes PPSB, rekombinanter Faktor VIIa) [
22‐
24]. Die Risiken jeder dieser Interventionen erscheinen höher als bei Gabe von Idarucizumab, das sich in Studien als gut verträgliche Substanz mit einem Nebenwirkungsspektrum auf Placebo-Niveau erwiesen hat.
Eine rasche Anlieferung von Idarucizumab z. B. aus einem benachbarten Krankenhaus ist zu erwägen. Damit kann ebenfalls vergleichsweise rasch Gerinnungskompetenz erreicht werden; die forcierte Elimination mittels Hämodialyse müsste beispielsweise über 4 h durchgeführt werden.
Zusammenfassung und praktische Überlegungen
Strukturkriterien und Lagerung
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In jedem Spital, in dem Patienten unter Dabigatran akut versorgt werden, sollte Idarucizumab in ausreichender Menge vorgehalten werden.
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In Zentral- und Schwerpunktkrankenhäusern, in denen Patienten mit großen Traumata versorgt werden, sollte Idarucizumab im Schockraum und im OP-Bereich gelagert werden. In allen Krankenhäusern, in denen Operationen mit hohem Blutungsrisikodurchgeführt und nicht-chirurgische Patienten mit Blutungen aufgenommen werden, könnte Idarucizumab zentral gelagert werden, um rund um die Uhr zeitnah zur Verfügung zu stehen.
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Idarucizumab wird als gebrauchsfertige Lösung in einer Glasflasche zu 2,5 g in 50 ml Trägerlösung verfügbar sein.
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Eine Dosis Idarucizumab beträgt 5 g. Es werden 2 Fläschchen zu 2,5 g/50 ml als Kurzinfusion oder Bolusgabe i. v. verabreicht.
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Die Vorhaltemenge von Idarucizumab sollte an die Größe und Lokalisation des Krankenhauses angepasst werden. In dem in diesem Leitfaden beschriebenen Indikationsgebiet ist mit einem geringen Einsatz von Idarucizumab zu rechnen. Der Vorrat sollte zumindest für die Behandlung von zwei Patienten ausreichen, d. h. 2 Einheiten Idarucizumab 5 g (à 2 × 2,5 g/50 ml).
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Idarucizumab sollte im Kühlschrank bei Medikamenten gelagert werden, die in vergleichbaren Indikationen eingesetzt werden (Prothrombin-Komplex-Konzentrate).
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Der Preis von Idarucizumab ist noch unbekannt, könnte jedoch in der Größenordnung des Preises für Gerinnungsfaktorenkonzentraten liegen, ähnlich dem Preis für Prothrombin-Komplex-Konzentrate. Somit wäre die Antagonisierung mit Idarucizumab kostenneutral zur unspezifischen Förderung der Thrombinbildung durch PPSB. Es liegen noch keine Kosteneffizienzstudien vor. Aber aus Gründen der gesteigerten Patientensicherheit ist die Vorhaltung von Idarucizumab zu befürworten.
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Idarucizumab wird unter dem Produktnamen Praxbind® auf den Markt kommen. Diese Bezeichnung sollte nach Zulassung von Idarucizumab den ärztlichen und pflegerischen Mitarbeitern, in deren Betätigungsfeld Idarucizumab zum Einsatz kommen könnte, durch schriftliche Mitteilungen und wenn möglich in krankenhausinternen Fortbildungsveranstaltungen zur Kenntnis gebracht werden (voraussichtlich November 2015).
Labortestung
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In jeder Krankenanstalt, in der Patienten unter Dabigatran akut versorgt werden, soll die Testung der Thrombinzeit (TZ) rund um die Uhr als fixer Bestandteil der globalen Gerinnungsparameter verfügbar sein. Da die Medikamentenanamnese nicht immer durchführbar ist (z. B. bei bewusstlosen Patienten, bei Demenz) soll die Bestimmung der TZ fixer Bestandteil der globalen Gerinnungsanalytik werden.
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Analog zur routinemäßigen Bestimmung von Prothrombinzeit und INR bei Patienten unter Vitamin K-Antagonisten sollte bei Patienten unter Dabigatran in der Akutsituation der Dabigatran-Spiegel routinemäßig getestet werden (z. B. mittels Hämoclot®).
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In folgenden Situationen sollte die Dabigatran-Wirkung mittels TZ bzw. Dabigatran-Spiegelbestimmung vor der Gabe von Idarucizumab erfolgen: vor dringlichen Eingriffen mit hohem Blutungsrisiko, bei Eingriffen mit unklarem Blutungsrisiko bzw. okkulter Blutungslokalisation sowie bei nicht-chirurgischen Patienten mit schwerer bzw. transfusionspflichtiger Blutung.
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Bei lebens- oder organbedrohenden Blutungen bei mit Dabigatran behandelten Patienten, z. B. intrakranieller Blutung, bei Polytrauma und massiver Blutung (> 40 % Patientenblutvolumen) sollte Idarucizumab sofort verabreicht und nicht auf das Vorliegen von Laborergebnissen gewartet werden.
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Bei bestehender Indikation erscheint die Applikation von Idarucizumab bei verlängerter TZ über den laborspezifischen Normalwert gerechtfertigt.
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Bei elektiven Eingriffen mit relevantem Blutungsrisiko kann zeitnah vor Einleitung der Anästhesie die Labortestung auch nach Einhaltung der nierenfunktionsabhängigen Karenzzeiten erfolgen, um eine etwaige Restwirkung von Dabigatran zu erkennen.
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Bei Verfügbarkeit der Rotationsthromboelastometrie (ROTEM) könnte der Testkit des ECATEM zum orientierenden Nachweis einer Dabigatran-Wirkung zum Einsatz kommen.
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Rotationsthromboelastometrie (ROTEM) oder Thromboelastografie (TEG) sollten zur Detektion einer intraoperativ akquirierten Gerinnungsstörung eingesetzt werden und bei Blutungsmanifestationen die gezielte prokoagulatorische Gerinnungstherapie unterstützen.
Verabreichung
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Idarucizumab kann unmittelbar nach Entnahme aus dem Kühlschrank infundiert werden. Die Infusion kann auch über Wärmesysteme erfolgen.
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In die kommerziell erhältliche Infusionsflasche dürfen keine Medikamente zugesetzt werden.
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Vor und nach der Infusion von Idarucizumab ist die Infusionsleitung mit NaCl 0,9 % zu spülen.
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Die übliche Gesamtdosis von Idarucizumab 5 g wird zumeist aufgeteilt auf 2 Dosen à 2,5 g in einem 50-ml-Bolus im Abstand von maximal 15 min verabreicht.
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Bei organ- oder lebensbedrohender Blutung, z. B. intrakranieller Blutung, bei Polytrauma und massiver Blutung (> 40 % Blutvolumenverlust) wird die simultane Infusion der Gesamtdosis von 5 g empfohlen.
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Bei allen anderen Blutungen, die nach der ersten Infusionsflasche zum Stillstand gekommen sind, könnte situationsangepasst auf die Gabe der zweiten Portion verzichtet werden.
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Da keine Interaktionen von Idarucizumab mit Gerinnungsfaktorenkonzentraten und Hämostyptika bestehen, können diese entsprechend krankenhausinternen Algorithmen zur Behandlung der akquirierten perioperativen Koagulopathie verabreicht werden.
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Zur Reversierung der Dabigatran-Wirkung soll Idarucizumab alleine verabreicht und nicht mit PPSB, aktiviertem PPSB (FEIBA) oder rekombinantem Faktor VIIa kombiniert werden.
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Da keine Interaktion von Idarucizumab mit der (dualen) Antiplättchentherapie besteht, kann Letztere bei vorbestehender Tripeltherapie durchgehend weiterverordnet werden. Zu beachten ist, dass durch die Antagonisierung mit Idarucizumab nur die Dabigatran-Wirkung reversiert wird. Die Thrombozytenfunktionshemmung bleibt vollständig bestehen.
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Es wäre wünschenswert, die Erfahrungen zum Einsatz von Idarucizumab beispielsweise im Rahmen eines Registers systematisch zu sammeln. Anhand der gewonnen Daten aus der klinischen Erfahrung könnten robuste Empfehlungen erarbeitet werden. Die Dokumentation der Verabreichung von Idarucizumab wird jedoch voraussichtlich nicht über die Chargennummer erfolgen (ungleich den Gerinnungsfaktorenkonzentraten).
Indikationen für Idarucizumab
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lebens- oder organbedrohende Blutung bei mit Dabigatran antikoagulierten Patienten (so rasch wie möglich)
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schwere Blutung (Blutverlust > 20 % Blutvolumen) bzw. transfusionspflichtige Blutung unter Dabigatran (bei verlängerter TZ)
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Akutoperationen unter Dabigatran mit relevantem Blutungsrisiko (Gabe bei Anästhesieeinleitung)
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Operationen mit schwerer Blutungsmanifestation unter Dabigatran (bei verlängerter TZ)
Keine Indikationen für Idarucizumab
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leichte Blutungen
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akute oder semielektive Operationen mit niedrigem Blutungsrisiko
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elektive Eingriffe
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Intoxikation mit hohen Dabigatran-Spiegeln (z. B. in suizidaler Absicht eingenommen) ohne Blutung und ohne anstehende Operation
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infauste Prognose (Beurteilung durch ein interdisziplinäres Team)
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entsprechende Patientenverfügung
Alternativen zu Idarucizumab
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Wenn in einer Krankenanstalt kein Antidot verfügbar ist: Aktivkohle, Hämodialyse, PPSB (bzw. aktiviertes PPSB, rekombinanter Faktor VIIa).
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Die dringend veranlasste Anlieferung von Idarucizumab ist im Bedarfsfall zu erwägen.
Nach der Gabe von Idarucizumab zu beachten
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bei sehr hohen Dabigatran-Spiegeln auf Umverteilung von Dabigatran aus dem Gewebe und Wiederauftreten von Blutungssymptomen achten
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transiente Proteinurie möglich
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Thromboseprophylaxe entsprechend den nationalen bzw. internationalen Empfehlungen verordnen (frühestens 6 h nach Blutungstopp)
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Wiederbeginn der Therapie mit Dabigatran individuell je nach vorbestehendem Thrombose- bzw. Ischämierisiko und stattgehabter Blutungsmanifestation im interdisziplinären Team festlegen (zumeist nach dem dritten postoperativen Tag, bei intrakraniellen Blutungen erst später)
Einhaltung ethischer Richtlinien
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
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