Zweite Frauenbewegung und Consciousness-raising
Feministische und gendersensible Ansätze in der Therapie müssen vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Frauenbewegungen, hier insbesondere der zweiten Frauenbewegung, verstanden werden. Die zweite Frauenbewegung ab den späten 1960er und 1970er Jahren lässt sich grob in drei Strömungen unterscheiden: liberaler Feminismus, radikaler Feminismus und sozialistischer Feminismus (siehe dazu Adamson et al.
1988). Während Adamson, Briskin und McPhail zufolge liberale Feministinnen die Reform des Gegebenen anstrebten, ging es sowohl radikalen als auch sozialistischen Feministinnen darum, die Gesellschaft von Grund auf bzw. von der Wurzel aus zu verändern. In der Diagnose, was das ausschlaggebende Übel für gesellschaftliche Ungleichheiten sei, unterschieden sich radikale und sozialistische Feministinnen: für radikale Feministinnen war es das Patriarchat, also eine Gesellschaftsordnung, in der Männer systematisch Frauen übergeordnet werden; sozialistischen Feministinnen zufolge musste für ein Verständnis nicht zuletzt krankmachender und unterdrückender gesellschaftlicher Bedingungen Geschlechterverhältnisse gemeinsam mit Kapitalismus analysiert und dann überwunden werden.
Für die Entwicklung dezidiert feministischer Psychotherapien waren vor allem radikal-feministische Theorien und Praktiken wegweisend. Auf der theoretischen Ebene ist für radikalen Feminismus das systematische Zusammendenken von sozialer und psychischer Unterdrückung sowie, anschließend daran, von sozialer und psychischer Befreiung charakteristisch (vgl. Rosenthal
1984). Radikale Feministinnen waren nicht aus dem Nichts zu der Einsicht gelangt, (patriarchale) Geschlechterverhältnisse zentral zu setzen. Wie im Übrigen auch viele spätere Suffragetten der Ersten Frauenbewegung hatten sich auch einige der Gründungsfrauen nordamerikanischer radikal-feministischer Kollektive zunächst in anderen Bewegungen – z. B. der Antisklaverei-Bewegung bzw. der Neuen Linken – betätigt und waren dort aufgrund ihres Geschlechts nicht ernst genommen oder aktiv diskriminiert worden (vgl. Koedt
1968); so zogen Aktivistinnen der Zweiten Frauenbewegung den Schluss, dass erstens Geschlechterungleichheiten etwas so Hartnäckiges an sich hatten, dass sich auch die ansonsten so progressiven Kameraden in der Linken nicht davon lösen konnten und dass sich zweitens Frauen zuallererst selbst befreien müssten, um politisch für irgendjemanden etwas erwirken zu können.
Auf dem Weg zu dieser Selbstbefreiung gab es allerdings ein grobes Hindernis zu überwinden und zwar ein psychisches (vgl. Ruck
2015). So hatten radikale Feministinnen beobachtet, dass die meisten Frauen sich nicht eingestehen wollten, dass sie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit diskriminiert, unterdrückt oder anders benachteiligt waren, obwohl diese Diskriminierung Ende der 1960er Jahre noch viel offensichtlicher und weitgreifender war als heute. Aus dieser Einsicht heraus gründeten radikale Feministinnen die mittlerweile beinahe ikonisch gewordenen consciouness-raising Gruppen (auf Deutsch etwas verkürzt oft mit Selbsterfahrungsgruppen übersetzt), die in Nordamerika ab den späten 1960er Jahren und im deutschsprachigen Raum etwas später immens populär wurden.
Für radikale Feministinnen waren consciousness-raising Gruppen Teil einer mehrschrittigen politischen Gesamtstrategie (vgl. Rosenthal
1984). Frauen kamen in relativ kleinen Gruppen zusammen, um möglichst frei über ihre Erfahrungen zu sprechen. Daraus sollte die Einsicht erwachsen, dass es sich um geteilte und nicht rein individuelle Erfahrungen handelte. War erst die Gemeinsamkeit der einzelnen Erfahrungen erkannt, sollten Frauen in der Kleingruppe die systematischen, nämlich gesellschaftlichen Ursprünge dieser Erfahrungen erkennen und analysieren und so zu einer umgreifenden Gesellschaftstheorie gelangen. Diese Theorie über die Ursachen und Konsequenzen von sozialer Geschlechterungleichheit wiederum sollte die Basis für politische Aktionen und Interventionen bilden.
Nicht zuletzt war der radikale Feminismus mit folgenden zwei Thesen eine geeignete Erkenntnistheorie: Erstens, dass bestimmte psychologische Mechanismen das Erkennen und Verstehen gesellschaftlicher Ungleichheiten verhindern oder erschweren können; und zweitens, dass den meisten Frauen diese Einsicht gerade aufgrund ihrer sozialen Position als Frau schwer fällt. Hier liegt also sozusagen eine „Erkenntnistheorie der blinden Flecken“ vor (vgl. Ruck
2018), die systematisch nach den Gründen für Nicht-Wissen bei gesellschaftlich Diskriminierten fragt. Zu diesen Gründen gehören nach Dafürhalten radikaler Feministinnen sogenannte „Widerstände gegen die Erkenntnis“ (z. B. Peslikis
1970; Sarachild
1970), die in den consciousness-raising Gruppen aufgedeckt und abgebaut werden sollten.
Ein zentrales Prinzip von consciousness-raising Gruppen war ihre flache Hierarchie, sie sollten weder geleitet noch angeleitet werden. Genau dieses Prinzip machte es allerdings schwierig, den politischen Prozess zu steuern und so begann schon relativ kurz nach der Gründung der ersten consciousness-raising Gruppen in Nordamerika ein Prozess der schleichenden Psychologisierung und Individualisierung von consciousness-raising (vgl. Rosenthal
1984; Ruck
2015). Während die Initiatorinnen des consciousness-raising, allen voran das New Yorker Kollektiv Redstockings, an diesen Gruppen vor allem die Bewusstseinsbildung über die eigene Unterdrückung und den daraus resultierenden politischen Aktivismus in den Vordergrund gestellt hatten, schätzten viele, vielleicht sogar die meisten der zahllosen Frauen, die an consciousness-raising Gruppen teilnahmen, besonders die Selbsterfahrungskomponente. Wir denken, dass dieser Psychologisierungsprozess, der in Nordamerika bereits sehr bald nach der Etablierung der ersten consciousness-raising Gruppen einsetzte, nicht unwesentlich daran beteiligt war, dass sich im deutschsprachigen Raum, auf den consciousness-raising einige Jahre später überschwappte, der Begriff „Selbsterfahrungsgruppen“ etablierte.
Feministische, frauenspezifische und gendersensible Therapien
Im Zeitraum von nur wenigen Jahren nach Gründung der ersten consciousness-raising Gruppen und in etwa zeitgleich mit deren zunehmender Psychologisierung und Individualisierung finden sich die ersten psychotherapeutischen Bezugnahmen auf consciousness-raising. Therapeutinnen begannen, speziell auf die Bedürfnisse und Schwierigkeiten von Frauen zugeschnittene und auf consciousness-raising aufbauende Therapien zu praktizieren und zu untersuchen. Hier wurzeln frauenspezifische Therapieansätze. Anfang bis Mitte der 1970er erreichten die Diskussionen über die Relevanz von consciousness-raising für die Psychotherapie einige der offiziellen psychologischen und psychotherapeutischen Publikationsorgane in den USA (vgl. Ruck
2015). Die Zeitschrift
Psychotherapy der APA Division 29
Society for the Advancement of Psychotherapy etwa brachte ab 1973 regelmäßig Artikel über
consciousness-raising heraus (z. B., Brodsky
1973). Psychologinnen und Therapeutinnen begannen darüber hinaus, die Effekte von consciousness-raising systematisch zu untersuchen (e. g., Follingstad et al.
1977) und schlugen es als alternative Ressource zur Förderung der psychischen Gesundheit von Frauen vor.
In etwa diese Zeit fällt auch der erste feministische Aktivismus innerhalb der Psychologie und Psychotherapie (letztere sind z. B. in Nordamerika weit weniger getrennt voneinander als etwa in Österreich). So erwirkten feministische Psychologinnen und Therapeutinnen etwa erst durch langwieriges Lobbying in der
American Psychological Association den Erlass von Ethikrichtlinien für die Psychotherapie, die u. a. zum ersten Mal sexuelle Handlungen zwischen Therapeut*innen und Klient*innen untersagten (vgl. Kim und Rutherford
2015). Eine auf Drängen von Aktivistinnen 1970 eingesetzte APA
Task Force on the Status of Women in Psychology widmete sich der Untersuchung von Sexismuserfahrungen von Psychologinnen und fokussierte schließlich 1974 durch Gründung der
Task Force on Sex Bias and Sex-Role Stereotyping in Psychotherapeutic Practice die therapeutische Praxis. Von dieser Task Force wurde ein Fragebogen über Sexismuserfahrungen von Auszubildenden, Therapeutinnen und Klientinnen erstellt, der an 2000 Frauen versandt und von 320 Teilnehmerinnen ausgefüllt wurde und der das Ausmaß sexistischer Diskriminierung sowie sexueller Übergriffe im Therapiesetting deutlich aufzeigte. Nach der Veröffentlichung des Task Force Berichts in der Zeitschrift
American Psychologist (American Psychological Association
1975) wurden schließlich 1977 die Ethikrichtlinien der APA überarbeitet und zum ersten Mal sexuelle Intimitäten zwischen Therapeut*innen und Klient*innen als unethisch zurückgewiesen.
Dezidiert feministische therapeutische Ansätze finden sich sowohl in Nordamerika als auch im deutschsprachigen Raum vor allem ab den frühen 1980er Jahren und sie haben seither vielfache Weiterentwicklungen erfahren. Entscheidend dafür waren nicht zuletzt die vielen psychosozialen Frauenberatungs- und Therapieeinrichtungen, die im Zuge der „Projektphase“ der Zweiten Frauenbewegung vielerorts initiiert wurden (vgl. Geiger
2012). In München etwa wurde 1979 das
FrauenTherapieZentrum gegründet, in Wien etwas später
Frauen beraten Frauen (heute
Frauen* beraten Frauen*). Solche Frauenberatungsstellen sollten den gesellschaftlichen Ursachen psychischen Leids bei Frauen Rechnung tragen und waren, wie vielzählige ähnliche Initiativen zur selben Zeit oder etwas später, um eine Verbindung von psychologischen und therapeutischen Ansätzen mit gesellschaftspolitischen und öffentlichen Interventionen bemüht. Im deutschsprachigen Raum scheinen uns die Professionalisierung feministisch therapeutischer Ansätze wie auch Diskussionen über Qualitätssicherung, Ethikrichtlinien sowie schulenübergreifende therapeutische Standards (vgl. Schigl
2012) in erster Linie mit diversen Fraueninitiativen verbunden zu sein und weniger mit Lobbying innerhalb der Berufsverbände, wie etwa in Nordamerika (vgl. Ruck et al.
2018).
Insgesamt gehen Entwicklungen im Bereich feministischer Therapieansätze – ähnlich wie in den Frauenbewegungen im Allgemeinen – in Richtung Diversität. So wurde nicht nur die Diversität von Frauen immer stärker zum Thema, sondern auch die Vielfalt von geschlechtlicher und sexueller Identität; zudem wurden feministische und gendersensible Ansätze in der Männerarbeit aufgegriffen und so die Basis für die bis heute enge Zusammenarbeit zwischen Frauen- und Männerberatungsstellen gelegt (siehe für einen Überblick über u. a. therapeutische Männerarbeit das Themenheft „Kritische Männerarbeit“ des Journals für Psychologie). So fasst Laura Brown, eine U. S. amerikanische feministische Therapeutin der ersten Stunde, ihre eigene Entwicklung wie folgt zusammen:
I am not the same feminist I was in 1972. That’s a good thing. I don’t think feminist psychologists are only women. I don’t think feminist therapy is either done for or with women only. And I did. I don’t think that multiculturalism is other than central to feminist practice. And that is not something I knew or understood in the 1970ies. I don’t think gender is binary. And I certainly don’t think it’s essential. (Brown
2006, S. 11).
Brigitte Schigl hat diese Öffnung und Diversifizierung einst frauenspezifischer Angebote als eine Entwicklung hin zu gendersensibler Therapie und Beratung beschrieben (vgl. Schigl
2012).
Der Dreischritt feministisch – frauenspezifisch – gendersensibel beschreibt zum einen grob die historische Entwicklung von Ansätzen in diesem Bereich (siehe Schigl
2012), legt aber doch auch Unterschiede nahe, die nicht nur in der Bezeichnung, sondern in der Sache selbst liegen. Von gendersensibler Therapie und Beratung lässt sich möglicherweise dann sprechen, wenn es vor allem darum geht, „eine geschlechtersensible Perspektive ein[zu]nehmen und situationsspezifisch in der psychosozialen Praxis einnehmen zu können“ (ibid, S. 91), während sich feministische Therapie als Bezeichnung dann anbietet, wenn gesamtgesellschaftliche Verhältnisse im Blick behalten und eine gesamtgesellschaftliche Veränderungsperspektive gegeben ist (siehe zu diesem Feminismusbegriff Grubner
2018).