In den heimischen Alpen steht der Gelbe Enzian (Bildvordergrund) unter Naturschutz. Wer die Wurzeln wild ausgräbt, sich botanisch aber nicht auskennt, sollte bis zur Blütezeit im Sommer warten, denn der giftige Germer hat ähnliche Blätter. Beide Stauden wachsen oft zusammen. Die Wurzeln des Enzians werden als Bittermittel und für die Schnapsbrennerei genutzt, jene des weißen Germer traditionell zu einem giftigen Sirup verkocht, der auf Papier aufgestrichen als Fliegenfänger fungiert.
Hans Braxmeier
Bei uns wird Enzian oft bei Magen- und Verdauungsproblemen eingesetzt, gern auch in Teemischungen. Doch der Gelb-Enzian hat ein weit größeres Potenzial als Arznei, seine Inhaltsstoffe wirken etwa gegen Arteriosklerose. Den Titel „Österreichs Arzneipflanze des Jahres“ trägt der Enzian zu Recht.
Manch eine Bergtour endet mit einem Stamperl Enzianschnaps, auf dem die klassische Alpenpflanze mit verwachsenen blauen Kronblättern zu sehen ist. Nur wenige Wanderer erkennen den wahren Ursprung der erdig schmeckenden Spirituose. Seit Jahrtausenden wird der „Enzian“ aus den Wurzeln des Gelb-Enzians gewonnen. Dass sie ein Dasein im Verborgenen führen, ist eigentlich ein Wunder. Denn zu übersehen sind die bis zu 2 Meter hoch stehenden Blütenstände mit ihren freien gelben Kronblattzipfeln im Sommer nicht.
Traditionell wird der Großteil der beim „Almputzen“ gesammelten Wurzeln des Gelb-Enzians genutzt, um Enzianschnaps zu destillieren, der selbst keine Bitterstoffe mehr enthält. Die zweite wichtige Verwendung ist der alkoholische Auszug aus den Enzianwurzeln. Dieser wird als Bitterschnaps oder Magenbitter gereicht. Um eine gleichbleibende Qualität bei der Herstellung des Enzianbrandes zu sichern, werden heute Enzianfelder unter wissenschaftlicher Begleitung angelegt, beispielsweise im Tiroler Ort Galtür.
Doch der Gelb-Enzian kann mehr. Seiner bitteren Inhaltsstoffe und der vielfältigen Wirkung wegen, kürte ihn eine Experten-Jury zur heimischen Arzneipflanze des Jahres. Der Gelb-Enzian ist zwar „keine Wunderpflanze wie der Ginseng“, sagt einer der Juroren, Prof. DI Dr. Chlodwig Franz, Vizepräsident der Herbal Medicinal Products Platform Austria (HMPPA). Aber: „Die Enzianwurzel ist von ihren Inhaltsstoffen her viel breiter zu sehen als ein reines Bittermittel“, ergänzt Prof. Dr. Rudolf Bauer vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, Universität Graz, ebenfalls HMPPA-Vizepräsident.
Die Pflanzenkenner haben die arzneiliche Verwendung im Auge. Der Gelb-Enzian enthält viele Bitterstoffe, so das Amarogentin. „Ein Gramm dieser Substanz genügt, um 58 Millionen ml Wasser bitter empfinden zu lassen, das sind rund 300 volle Badewannen“, sagt Prof. Mag. Dr. Brigitte Kopp, auch sie gehört dem HMPPA-Präsidium an.
Ein interessanter Inhaltsstoff ist das Gentisin aus der Stoffgruppe der Xanthone, das sich als Inhibitor der Zellproliferation der glatten Gefäßmuskulatur herausgestellt habe, sagt Bauer. „Das ist sehr wichtig bei der Bekämpfung der Restenose. Wenn ein Gefäßverschluss durch einen Ballonkatheter beispielsweise geöffnet wurde, besteht ja immer die Gefahr, dass dieser Verschluss erneut auftritt. Es wurde postuliert, dass man mit solchen Stoffen den Wiederverschluss verhindern könnte.“ Auch andere Enzian-Inhaltsstoffe haben diese anti-arteriosklerotische Wirkung. Nachgewiesen wurden auch Anti-Adipositas-Effekte. Hierfür zeichnet u. a. der Bitterstoff Gentiopikrosid aus der Gruppe der Iridoide verantwortlich. Ebenfalls spannend: Das Amarogentin, ein weiterer Bitterstoff des Enzians, stimuliert offenbar das Nervenwachstum. Bitterer Nachsatz: Wirkungen wie die genannten sind zwar im Computermodell oder im Tierversuch erprobt, in klinischen Studien aber noch nicht. Das habe finanzielle Gründe, sagt Prof. Dr. Hermann Stuppner, Präsident der HMPPA ( siehe Interview unten ).
Prof. Franz hat das letzte Wort, gerichtet ist es an botanische Feinspitze: Der Gelbe Enzian ist wegen seiner frei stehenden Blütenblätter evolutionär die ursprüngliche Enzian-Form, während die anderen großen Arten, die bei uns vorkommen wie der purpurrote, der punktierte oder der „pannonische“ Enzian ( in Wahrheit eine Bergpflanze ), die abgeleiteten, also evolutionär späteren Arten sind.