Wenn in diesem Text von einer Propädeutik und einer Grundhaltung des psychotherapeutischen Tuns die Rede ist, dann wird nicht eine bestimmte Technik oder Methodik besprochen, sondern etwas Fundamentales angegangen. Es geht um die Frage, wie überhaupt Psychotherapie als Wissenschaft und Praxis möglich ist. Was bedeutet überhaupt Gesundheit und Krankheit, wer und was bedarf einer therapeutischen Behandlung, wie kann Therapie helfen und dementsprechend, wie sollen Therapeut:innen sich verhalten, damit das Leid von hilfesuchenden Menschen reduziert oder gar beendet werden kann? Jede therapeutische Richtung hat sich diesen Frage und den daraus resultierenden Handlungsrichtlinien zu stellen, um schulspezifische Interventionen überhaupt nachhaltig begründen zu können. Wie es sich auch in den Clustern der österreichischen Therapielandschaft zeigt, können diese Grundhaltungen sehr unterschiedlich sein und führen zu unterschiedlichen Therapieangeboten und Herangehensweisen, die jedoch alle demselben Ziel dienen: die freien Vollzüge des Menschen zu fördern und damit bestehendes Leid zu reduzieren.
Jede Psychotherapieschule geht, wie angedeutet, von einem bestimmten Menschenbild sowie von einem aus diesem resultierenden Methodenkonzept aus, d. h. von einem bestimmten Verständnis, welche Maßnahmen, Methoden und Hilfestellungen einem leidenden Menschen helfen können. Und auch wenn die Psychotherapie es zumeist mit fragilen und dynamischen Phänomenen zu tut hat, wird dennoch häufig versucht, diese Phänomene durch naturwissenschaftliche Modelle versteh- und erklärbar zu machen. Ein sehr populäres Beispiel ist hierfür das Buch ‚Neuro-Psychoanalyse‘ von Kaplan-Solms und Solms (
2003) oder Karch et al. (
2012). Naturwissenschaften haben es sich zur Aufgabe gemacht zu erklären, wie
Natur funktioniert. Da es für die Formulierung von allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten über das
Wie natürlicher Vorgänge sinnvoll ist, eine eindeutige Sprache zu benützen, operieren die Naturwissenschaften zumeist mit logischen, mathematischen, d. h. berechnenden Größen. Die Welt und ihre Bewohner, Menschen, Tiere, Pflanzen, werden in solch einem Denken zu einem reinen Bestand, zu Funktionsgrößen und systemischen Zusammenhängen, mit denen „kalkuliert werden kann“ (Aigner
2021, S. 89). Ein notwendiger und unvermeidlicher Schritt, um in diese Weise des Denkens zu kommen, ist „eine Abkopplung der Theorie von der existenziellen Praxis“ (Baier
1998, S. 39). Während in Naturwissenschaften wie etwa der Physik diese Abkopplung kaum Relevanz für den zu erforschenden Gegenstand hat, verhält es sich in den meisten humanwissenschaftlichen Disziplinen anders. Die Trennung von Theorie und Praxis wurde schon weitreichend und ausführlich diskutiert, wie etwa bei Luhmann (
1969). Ein unreflektiertes Vorverständnis und theoretische Missverständnisse über das menschliche Wesen im psychotherapeutischen Kontext haben zumeist auch praktische Konsequenzen. Medard Boss schreibt deswegen zurecht, „dass im Bereich der Psychotherapie falsche Theorien oft verheerende Rückschläge auf den praktisch-therapeutischen Umgang mit Leidenden zur Folge haben.“ (Boss
1982, S. 209) Es ist somit unabdingbar, das
Wie des psychotherapeutischen Arbeitens auf einen „menschengerechten, daseinsgemässen Grund zu stellen“ (Boss
1975, S. 14), d. h. die Theorien, Paradigmen und Grundbegriffe so zu konzipieren, dass die psychotherapeutische Praxis der Seinsweise des menschlichen Wesens möglichst umfänglich entspricht. Dies wird nicht zuletzt deswegen unumgänglich, da sich die Existenzweise des Menschen von der Seinsweise anderer Phänomene unterscheidet. Die „Ek-sistenz
1“ des Menschen ist einzigartig.
Es wird nicht von einem mittels sachfremder Gesichtspunkte entworfenen theoretischen Modell über den Menschen ausgegangen bzw. versucht sich von diesem in der unmittelbaren Begegnung zu befreien. Vielmehr sollen immer jene Zugänge gestärkt werden, die das menschliche Wesen, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, in den Blick bekommen. Von dieser Erfahrung ausgehend wird nicht nur die Praxis reicher, sondern auch eine menschengerechtere Theoriebildung möglich. Dieser Zugang erfordert eine bestimmte Haltung, die sich von methodischen Überlegungen und theoretischen Zwängen befreit und sich ganz dem öffnet, was ist. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass hiermit nicht die Ausklammerung jeglicher Theorie gefordert wird. Denn auch die Ausklammerung theoretischer Überlegungen ist ja selbst wiederum eine Theorie. Es gibt zur Theorie keine Alternative. Allerdings sind geistes- wie naturwissenschaftliche Theorien immer Approximationen und bedürfen ständiger Überprüfung. Gerade in der Psychotherapieforschung scheint ein Zusammenspiel geistes- und naturwissenschaftlicher Überlegungen besonders fruchtbar zu sein. Und durch den Rückgang auf die unmittelbare Erfahrung, so wie es durch die Übung der Sammlung möglich ist, kann eine unzureichende Theorie durch eine bessere ersetzt werden und dabei zugleich die Einzigartigkeit jedes Menschen gewahrt bleiben.