Die Zuordnung einzelner Methoden zum humanistischen Cluster erfordert eine Auseinandersetzung über deren (meta-) theoretische Konzeptionen, um ein gemeinsames Verständnis in Hinblick auf gemeinsame Forschung zu entwickeln. Wir stellen die erkenntnistheoretische Position des Kritischen Realismus und das damit verbundene feldtheoretische Modell von Kurt Lewin vor, um das sich daraus ableitende Verständnis für psychotherapeutische Beziehung und Prozess zu veranschaulichen. Als Konsequenz der kritisch-realistischen Sichtweise ist auch ein spezifisches Verständnis von phänomenologisch-experimenteller Forschung ableitbar.
Hinweise
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Humanistische Psychotherapie und ihre Zukunft
Im neuen Psychotherapiegesetz ist beabsichtigt im Masterstudium eine cluster- und/oder methodenspezifische Grundausbildung zu etablieren, die im postgradualen Bereich methodenspezifisch vertieft werden soll. Die Zuordnung der einzelnen in Österreich zugelassenen psychotherapeutischen Verfahren zu übergeordneten Grundorientierungen wurde 2001 im Psychotherapiebeirat nach kontroversieller Diskussion beschlossen. Die fachspezifischen Ausbildungseinrichtungen haben diesen Zuordnungen mit dem Hinweis darauf zugestimmt, dass sich je nach Fragestellung paradigmatisch auch andere Zuordnungen ergeben können. So werden in o. a. PatientInnen-Information für die psychodynamisch-tiefenpsychologische Orientierung (12 Methoden) die Schwerpunkte „Unbewusstes, Übertragung/Gegenübertragung“ benannt, für die Humanistischen Verfahren (8 Methoden) die Schwerpunkte „Existenzphilosophie und Humanistische Psychologie“, bei den systemischen (2 Methoden) „Systemtheorien und Konstruktivismus“ und bei den Verhaltenstherapien wird die „empirische (Verhaltens‑) Psychologie“ als Gemeinsamkeit benannt. Exemplarisch greifen wir heraus, dass grundlegende Haltungen der Humanistischen Psychologie, wie einfühlendes Verstehen, bei allen Methoden als bedeutsam anerkannt werden. Ebenso kommt keine Methode ohne ein Verständnis von unbewussten Prozessen oder Übertragung/Gegenübertragung aus, obwohl es hinsichtlich des Verständnisses dieser Konzepte Unterschiede gibt. Kurz gesagt: so einfach ist das mit den Zuordnungen nicht!
Zur Vergegenwärtigung der historischen Wurzeln des humanistischen Denkens in der Psychotherapie werfen wir einen kurzen Blick in deren Geschichte. Zu den Gründungspersönlichkeiten der Humanistischen Psychologie in den USA gehören: Abraham Maslow, Carl R. Rogers, Rollo May, Paul Tillich und Viktor Frankl. Diese Gruppe kritisierte die vorherrschenden Strömungen Behaviorismus und Psychoanalyse, als zu reduktionistisch und mechanistisch und sie gründeten 1963 die Association for Humanistic Psychology (AHP), die sich im Weiteren zur sgn. ‚dritten Kraft‘ der amerikanischen Psychologie entwickelte und bis heute als eigene Division der American Psychological Association (APA) vertreten ist. Darüber hinaus formulierte diese Gruppe wichtige Grundannahmen über das Wesen des Menschen, die für die Weiterentwicklung der Humanistischen Psychotherapie prägend waren. Dazu gehört insbesondere die ganzheitliche Betrachtung des Menschen, der nicht auf seine Teile oder Funktionen reduziert und stets in Wechselwirkung mit seiner Umwelt betrachtet werden muss. Die europäischen Wurzeln der humanistischen Psychologie reichen weit über die Gründung der AHP hinaus, zum Psychodrama von Jakob L. Moreno, der Existenzphilosophie und Phänomenologie von Edmund Husserl, aber auch zur Gestaltpsychologie der Berliner Schule.
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Gemeinsamkeiten: Menschenbild und Grundhaltung
Als Kern der verschiedenen Ansätze der Humanistischen Psychotherapie wird das humanistische Menschenbild gesehen, wonach „(…) der Mensch in seiner subjektiven Bedeutungsgebung im Zentrum des psychotherapeutischen Verstehens, Erklärens und Handelns, sowie des damit verbundenen Forschens steht“ (Kriz 2023, S. 19).
Der Mensch ist grundsätzlich befähigt, sich selbst zu organisieren, um auf die Herausforderungen des Lebens angemessen reagieren zu können. Der Begriff der Selbstaktualisierung spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Mensch ist nicht mit einer Maschine vergleichbar, die es von außen zu reparieren gilt, sondern als Wesen, für dessen Entwicklung und Heilung geeignete Bedingungen geschaffen werden müssen. Diesem Menschenbild entsprechen die von Wolfgang Metzger (2022) ausgearbeiteten sechs ‚Kennzeichen der Arbeit mit dem Lebendigen‘, die als richtungsweisende Leitlinie für den psychotherapeutischen Prozess und als Maxime für das Handeln von Humanistischen Psychotherapeut:innen verstanden werden können (Kriz 1991, S. 177f): Nicht Beliebigkeit der Form (einem Lebewesen lässt sich auf Dauer nichts gegen ihre Natur aufzwingen), die Nicht-Beliebigkeit von Arbeitszeit und Arbeitsgeschwindigkeit, die Duldung von Umwegen (manche Ziele lassen sich nicht direkt ansteuern), die Gestaltung aus inneren Kräften (jenen Kräften, die die Veränderungen bewirken und aufrechterhalten) und die Wechselseitigkeit des Geschehens (zwischen Klient:in und Therapeut:in). Als grundlegende Haltungen schaffen sie die wesentlichen Rahmenbedingungen dafür, dass Psychotherapie ein Ort ‚Schöpferischer Freiheit‘ (Metzger 2022) werden kann, in dem sich die dem Menschen innewohnenden Kräfte entfalten können und darüber neue, besser lebbare Gleichgewichtszustände entwickelt und gefestigt werden.
Bedeutung erkenntnistheoretischer Positionen
Um eine gemeinsame Forschungsbasis zu etablieren, braucht es über das gemeinsame Menschenbild hinaus die Auseinandersetzung damit, von welchen erkenntnistheoretischen Grundannahmen das gemeinsame Forschen geleitet wird, um zu Erkenntnissen über menschliches Erleben und Verhalten zu gelangen. Abgesehen von Forschungsvorhaben spielen solche Annahmen auch in der psychotherapeutischen Praxis eine bedeutende Rolle. In den meisten Bereichen der Psychotherapie haben wir es mit Sachverhalten zu tun, die nur vom Innenstandpunkt des erlebenden Subjekts her erfasst werden können. Die Frage, wie wir uns das Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ vorstellen können, steht auch in Zusammenhang mit der Frage, von welchen Möglichkeiten der Erkenntnis wir als Psychotherapeut:innen in der Behandlung ausgehen.
Zur Verdeutlichung, warum die Klärung erkenntnistheoretischer Positionen für Forschungsfragen relevant ist, erwähnen wir ein aktuelles Forschungsprojekt der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Gestalttheoretische Psychotherapie (ÖAGP) gemeinsam mit Andrzej Zuczkowski von der Universität Macerata zum Fragenstellen in der Psychotherapie. Darin wird auf Basis der kritisch-realistischen Sicht zwischen drei epistemischen Positionen hinsichtlich der Sicherheit/Unsicherheit bei Fragen im Gespräch unterschieden:
Position des Wissens verbunden mit dem Status der Gewissheit,
Position des Nicht-Wissens, verbunden mit der Position Unsicherheit und
Position des Glaubens, verbunden mit der Kommunikation des Nicht-Wissens-Ob
Da sprachliche Kommunikation ein zentrales Element im therapeutischen Prozess darstellt, ist Klarheit hinsichtlich der von Therapeut:innen als auch Klient:innen eingenommenen Positionen im Gespräch bedeutend. Abhängig davon, aus welcher Position heraus der/die Therapeut:in fragt oder antwortet (das gilt auch für den/die Klient:in) wird dies jeweils eine andere Wirkung auf das Erleben der therapeutischen Beziehung haben.
Anhand der Darstellung des Kritischen Realismus wollen wir die Bedeutung erkenntnistheoretischer Modelle veranschaulichen. Dieser ist zwar verwandt, aber nicht gleichzusetzen ist mit dem philosophischen Kritischen Realismus von George Santayana (1863–1952, Spanien) oder Roy Bhaskar (1944–2014, England).
Kritischer Realismus
Die zentrale Grundannahme des Kritischen Realismus besteht in der klaren Unterscheidung zwischen der transphänomenalen Welt, welche die physische Welt (einschließlich des eigenen physischen Organismus) und alle anderen Organismen umfasst und der phänomenalen Welt, jener Welt, wie sie der Mensch erlebt (einschließlich seines erlebten Körpers). Die transphänomenale Welt ist als erlebnisjenseitige Welt zu verstehen und als solche dem Menschen nicht direkt zugänglich. Jeder Mensch hat seine eigene phänomenale Welt, die ihm anschaulich gegeben ist und die er als Wirklichkeit erlebt. Die phänomenale Welt eines Menschen umfasst sein eigenes phänomenales Ich (auch sein erlebtes Körper-Ich) und seine phänomenale (d. h. die erlebte) Umwelt einschließlich der von ihm erlebten anderen Menschen. Im Kritischen Realismus wird davon ausgegangen, dass eine Wechselwirkung zwischen den beiden Welten besteht und die phänomenale Welt des Menschen an allen Stellen offen ist für Einwirkungen aus der transphänomenalen Welt. Demzufolge können physische Ereignisse, die auf den physischen Organismus einwirken, ebenso zur Veränderung des Erlebens (der phänomenalen Welt) beitragen wie Vorgänge innerhalb seiner phänomenalen Welt.
Transphänomenale und phänomenale Welt weisen im Verständnis des Kritischen Realismus eine strukturelle Ähnlichkeit auf. Die phänomenale Welt bildet in gewisser Weise auch Teile der transphänomenalen Welt ab. Allerdings ist „der phänomenale Gegenstand nicht als rein passives Abbild des transphänomenalen Objekts“ (Tholey 2018, S. 247) zu verstehen. Vielmehr findet eine aktiv gestaltende Verarbeitung des Wahrgenommenen in Abhängigkeit von der aktuellen Situation eines Menschen statt: physische Reize aus der physischen Umwelt treffen auf unsere Sinnesorgane und gelangen von dort über Nervenbahnen in das menschliche Gehirn, wohin ebenso Reize aus unserem physischen Organismus über afferente Nervenbahnen gelangen. In einem bestimmten Bereich des Großhirns finden physiologische Prozesse statt, die dazu führen, dass es zum psychischen Erleben kommt. Entsprechend der Isomorphie-Annahme ging Köhler von einer strukturellen Ähnlichkeit zwischen physiologischen Prozessen (Gehirnvorgängen) und psychologischen Vorgängen aus, was schlicht bedeutet, dass es für jedes Phänomen im Erleben ein entsprechendes zentralnervöses Pendant gibt. Im psycho-physischen Ansatz der Gestaltpsychologie wurden bereits im letzten Jahrhundert Fragen behandelt, die im aktuellen Diskurs zur „5E Cognition“, beispielsweise bei Fuchs (2023) im Feld der Psychiatrie thematisiert werden.
Die kritisch-realistische Position wurde bisweilen in der Richtung missverstanden, dass sie mit ihrer Unterscheidung zwischen der transphänomenalen und der phänomenalen Welt wieder in den alten cartesianischen Leib-Seele-Dualismus zurückfiele. Der Kritische Realismus bestreitet keinesfalls die grundsätzliche Einheit der Welt. Er beharrt jedoch darauf, dass der physikalische Makrokosmos Bereiche in sich einschließt, die nicht nur physikalischer Natur sind, sondern zugleich auch phänomenale Eigenschaften aufweisen bzw. Träger phänomenaler Eigenschaften sind: die Mikrokosmen der bewusstseinsfähigen Lebewesen, also jener Teile der bewusstseinsfähigen Organismen, in denen Physisches zugleich Psychisches (im weitesten Sinn) ist. Den phänomenalen Welten von Lebewesen kommen dabei eine Art Steuerungsfunktion zu. Ihr funktionaler Sinn besteht darin, die Bewegung des Organismus in seiner physischen Umgebung und seine Interaktion mit ihr zu steuern. Da die phänomenalen Welten jedoch keine neutralen Welten sind, sondern zugleich Feldcharakter haben, weisen sie dynamische Eigenschaften auf, deren Erforschung zentraler Bestandteil der Therapie ist (siehe dazu später Kraftfeldanalyse).
Die kritisch-realistische Haltung in der therapeutischen Beziehung
Der Kritische Realismus ist eine metatheoretische Konzeption mit unmittelbarer therapeutischer Relevanz und prägt in der Gestalttheoretischen Psychotherapie (GTP) das gesamte Verständnis der therapeutischen Beziehung und des therapeutischen Prozesses.
Konsequenterweise geht man in der GTP daher nicht von einer therapeutischen Situation aus, sondern von ‚zwei‘ therapeutischen Situationen, nämlich von der therapeutischen Situation in der phänomenalen Welt der Therapeutin und der therapeutischen Situation in der phänomenalen Welt der Klientin (sh. Abb. 1). Sich dieses Unterschieds, aber auch des Wechselverhältnisses bewusst zu bleiben, ohne in eine einseitige therapeutische Sicht zu fallen, spielt für den gesamten therapeutischen Prozess eine große Rolle. Es fordert von den Beteiligten grundsätzlich, aber nicht beliebig, die Bereitschaft zum wechselseitigen Austausch über das jeweils eigene Erleben. Die Verinnerlichung der kritisch-realistischen Sichtweise trägt darüber hinaus zum Schutz der therapeutischen Beziehung bei: Einerseits schützt sie den/die Klient:in, indem sie seitens der Therapeut:innen mit der Haltung des Respekts vor dem Erleben der Klient:innen einhergeht und dadurch ihre Würde bewahrt. Andererseits schützt sie auch den/die Therapeut:in z. B. „vor der Verführung hinsichtlich eigener Allmachtphantasien“ (Sternek 2022, S. 29), indem sie das Bewusstsein des/der Therapeut:in, sich über die Qualität der therapeutischen Beziehung auch täuschen zu können, schärft und zur transparenten Kommunikation über die Beziehung auffordert.
Abb. 1
Therapiesituation aus kritisch-realistischer Sicht (Stemberger 2018). Legende: Th-Ich Therapeut, wie er sich in seiner phänomenalen Welt erlebt; Th‑L Bodenlampe, wie sie der Therapeut in seiner phänomenalen Welt wahrnimmt; Th-Kl Klientin, wie sie der Therapeut in seiner phänomenalen Welt erlebt; Th-Kl-Th therapeutische Beziehung, wie sie für den Therapeuten in seiner phänomenalen Welt ist.; Kl-Th Therapeut, wie ihn die Klientin in ihrer phänomenalen Welt erlebt; Kl‑L Bodenlampe, wie sie die Klientin in ihrer phänomenalen Welt wahrnimmt; Kl-Ich Klientin, wie sie sich selbst in ihrer phänomenalen Welt erlebt. Kl-Th-Kl therapeutische Beziehung, wie sie für die Klientin in ihrer phänomenalen Welt ist. Die drei Pfeile deuten die physischen Einwirkungen der verschiedenen Organismen aufeinander an. Der zweiseitige Pfeil im Organismus-Bereich deutet die Weiterleitung der Reize über die Nervenbahnen an das Gehirn an (wo ein Teil davon zur physiologischen Entsprechung der phänomenalen Welt wird) und umgekehrt vom Gehirn an die Ausführungsorgane und an die Oberfläche des Organismus
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Dem ‚humanistischen‘ Anspruch, den Menschen in seinem Erleben wirklich ernst zu nehmen und es empathisch zu erfassen, wird mit dem auf dem Kritischen Realismus beruhenden Verständnis der therapeutischen Beziehung und der damit verbundenen therapeutischen Haltung konsequent Folge geleistet. Man kann darin auch die Ausformulierung der erkenntnistheoretischen Position sehen, wie wir sie implizit auch in Carl Rogers ‚notwendigen und hinreichenden Bedingungen therapeutischer Persönlichkeitsveränderung‘ zu erkennen glauben.
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Die Bedeutung der kritisch-realistischen Sicht für die psychotherapeutische Praxis
In der Praxis kommt der Kritische Realismus in den grundlegenden therapeutischen Vorgehensweisen des sog. ‚Phänomenologie Treibens‘ und der ‚Veränderungsaktivierenden Kraftfeldanalyse‘ zum Tragen. Das Phänomenologie-Treiben in der GTP basiert auf dem Phänomenologie-Verständnis der Gestaltpsychologie (Toccafondi 2024) und bedeutet die Klient:innen dabei zu unterstützen, ihre phänomenale Welt – die Welt, wie sie sie unmittelbar vorfinden und erleben, selbst zu erforschen, da nur sie selbst unmittelbaren Zugang zu ihrer Erlebniswelt haben. „Erst über ihre Wahrnehmung der Klientin und deren Mitteilung kann sich die Therapeutin überhaupt eine Vorstellung von der phänomenalen Welt der Klientin machen und sich vielleicht auch in diese ‚einfühlen‘“ (Stemberger 2016a, 32f). Ähnlich äußerst sich Kriz, der die therapeutische Aufgabe darin sieht, „den zu therapierenden Menschen bei seiner Erforschung innerer, körperlicher Prozesse und deren symbolisierender Einordnung in einen Sinnzusammenhang achtsam zu begleiten und ggf. Anregungen zu geben“ (Kriz 2023, S. 20). Die Forderung, den Klient:innen und dem von ihnen Erzählten möglichst vorbehaltlos zu begegnen, bedeutet nicht, dass der/die Therapeut:in sich naiv und unkritisch ins Geschehen begibt, sondern ihre Vorannahmen und Hypothesen im Hinblick auf ihre Wirkungen auf ihr eigenes Erleben und ihre Bewertungen überprüft. Das gemeinsame Phänomenologie-Treiben, vermittelt im kritisch-reflexiven Dialog zwischen Klient:in und Therapeut:in, soll die Klient:innen dabei unterstützen, ihr Verhalten besser zu verstehen. Dazu bedarf es neben der Erforschung des unmittelbaren Erlebens (der naiv-phänomenalen Welt) auch der Erforschung ihrer kritisch-phänomenalen Welt. Darunter sind die „eigenen Erklärungen für die Zusammenhänge in der Welt, alle Glaubensdinge, Überzeugungen und Ideologien einschließlich aller damit verbundenen Probleme, Zweifel und Gewissensnöte“ (Stemberger 2016a, 32) zu verstehen. Unhinterfragte Überzeugungen, Erklärungen u. Ä. tragen oftmals zum Entstehen bzw. zum Weiterbestehen der Problem- und Leidenssituation der Klient:innen bei, sodass deren Nichtbeachtung als Versäumnis gesehen werden kann.
Veränderungsaktivierende Kraft- und Machtfeldanalyse
Die phänomenale Welt ist eine Welt mit Feldcharakter, d. h. eine Welt, in der unterschiedliche Kräfte wirksam sind. Ihre Wirkung zeigt sich darin, dass Menschen sich von bestimmten Dingen angezogen fühlen, andere jedoch meiden, dass sie nach etwas streben, sich abwenden usw. Die Erforschung der Dynamik menschlichen Erlebens und Verhaltens geht beim ‚Phänomenologie-Treiben‘ daher mit der sgn. ‚Veränderungsaktivierenden Kraftfeldanalyse‘ einher.
Der von Kurt Lewin beschriebene psychologische Lebensraum (LR), der sowohl die Person (P) als auch die Umwelt (U) umfasst, ist als Feld gleichzeitig bestehender und wirksamer Tatsachen zu verstehen. Ausgedrückt wird dies in der bekannten Formel: V = f (LR), V = f (P, U). Verhalten (und Erleben) ist eine Funktion des gesamten Lebensraums und aller darin zu einem bestimmten Zeitpunkt konkret wirksamen Tatsachen. Zur Feldtheorie sagt Lewin deutlich, dass es sich um einen psychologischen Ansatz handelt und fordert, „das Feld, durch welches ein Individuum bestimmt ist, nicht in ‚objektiven physikalischen‘ Begriffen zu beschreiben, sondern in der Art und Weise, wie es für das Individuum zu der gegebenen Zeit existiert“ (Lewin 2012, S. 103).
Um das Verhalten eines Menschen verstehen zu können, muss man die im Lebensraum wirkenden Kräfte untersuchen, die aus dem Zusammenspiel der Person mit ihren Bedürfnissen, Wünschen, Intentionen etc. und der in der erlebten Umwelt vorzufindenden Möglichkeiten, Ziele, etc. resultieren (Lindorfer 2022). Die im Lebensraum der Klient:innen wirksamen Kräfte lassen sich allerdings nicht unmittelbar beobachten, sondern nur aus den beobachtbaren Wirkungen dieser Kräfte auf das Erleben erschließen. Ausgehend von den beobachtbaren Phänomenen wird gemeinsam mit den Klient:innen das Wirken der maßgeblichen Kräfte in ihrem Lebensraum analysiert und überprüft. Dies umfasst zum einen jene Kräfte, die den eigenen Wünschen, Bedürfnisse entsprechen bzw. auf eigenen Annahmen, Glaubensätzen und Meinungen beruhen; zum anderen aber auch jene Kräfte, die durch Bedürfnisse, Erwartungen, Forderungen von anderen angeregt werden (‚induzierte Kräfte‘). Ihre Auswirkungen auf das Erleben werden im Rahmen der Kraftfeldanalyse ebenfalls untersucht, wobei man in der GTP dann von Machtfeldanalyse spricht (Stemberger 2016b). Die Kraft- und Machtfeldanalyse soll die Klient:innen dabei unterstützen, Einsicht in die dynamischen Zusammenhänge ihres Erlebens zu erlangen. Dies kann allein schon zu Veränderungen führen oder Anregung für weiterführende Reflexionen darstellen. Für den Fall, dass es sich um Menschen handelt, die unter schwerwiegenden psychischen Störungen leiden, gelten dieselben Grundsätze, da wir im Krankheitsverständnis der GTP davon ausgehen, dass das Verhalten psychisch kranker Menschen trotz der phänotypischen Unterschiede den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie ‚gesundes‘ Verhalten unterliegt. Es bedarf zwar einer individuellen, klientenzentrierten Herangehensweise, jedoch keiner anderen Behandlungsverfahren.
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Forschen unter einem ‚humanistischen‘ Paradigma?
Nimmt man auch im Bereich der Forschung die humanistische Leitidee „der Mensch in seiner subjektiven Bedeutungsgebung“ ernst, dann braucht es Forschungsansätze, die den Menschen und sein Erleben und Verhalten in ganzer Bandbreite in den Mittelpunkt stellen.
Zuerst gilt es Fragestellungen zu finden, die auch Praktiker:innen interessant finden, damit sie ihr Mitwirken im Forschungsprozess als unmittelbar sinnvoll und notwendig erleben, weil die Forschungsergebnisse für ihr Alltagshandeln unmittelbare Relevanz aufweisen. Solche Fragestellungen beziehen sich eher auf die Wirkungsweise und Dynamik zwischen Therapeuten:innen und Klient:innen, als auf die Wirkung einer Methode (oft auch noch in Konkurrenz zu einer anderen). Ob und auf welche Art und Weise verfahrensübergreifend die Wirkprinzipien des humanistischen Clusters beforscht werden sollen, muss aus einem gemeinsamen Prozess hervorgehen, wie er bei der 2025 stattfindenden Tagung angestoßen werden kann. Jedenfalls sollten sich die Vertreter:innen des humanistischen Clusters zunächst auf ein gemeinsames Forschungsprogramm einigen.
Diesem ersten Schritt folgt die Frage, welche Methoden diesem Programm angemessen sind. Wir denken, dass in der HPT grundsätzlich Übereinstimmung dahingehend besteht, dass qualitative Forschungsansätze dem humanistischen Paradigma wesentlich besser entsprechen als RCT-Studien. Mikroprozess-Analysen halten wir für sehr geeignet, da damit die komplexen Erfahrungsrealitäten entsprechend erfasst und abgebildet werden können. Die Mikroprozess Forschung nimmt ein bestimmtes Phänomen in den Fokus und versucht dieses in seiner Tiefe zu durchdringen. Die systematische Variation der Bedingungen zeigt schließlich auf, was am untersuchten Phänomen unverändert bleibt, was sich verändert, in welche Richtung und mit welcher Qualität.
Schließlich muss für so ein Programm auch Einigkeit über die Frage nach dem Datenmaterial hergestellt werden. Aus unserer Perspektive sollten die beforschten Gruppen unmittelbar selbst zu Wort kommen (Erste-Person-Perspektive), da nur sie wissen können, ob eine Therapie erfolgreich war oder nicht. Dafür scheinen uns Therapie Transkripte besser geeignet als standardisierte Fragebögen und/oder Diagnose Schemata. Der Einsatz von Q‑sort Techniken für Fragen der diagnostischen Cluster-Bildung, aber auch für die Evaluation von Therapieverläufen könnte vielleicht eine Vorgehensweise darstellen, über die Konsens gefunden werden kann.
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Als Beispiel für so ein mikroprozessuales Vorgehen führen wir das eingangs erwähnte Forschungsprojekt zum Fragenstellen an: Mittels einer linguistisch-phänomenologischen Analyse zweier Stundenprotokolle (von Fritz Perls und Carl Rogers, jeweils mit derselben Klientin) wurden zwei gegensätzliche Kommunikationsarten beschrieben, wie Therapeut:innen mit ihren Klient:innen sprechen: den imperativen, der durch eine ununterbrochene Folge aus Fragen und Aufforderungen charakterisiert ist und den deklarativen Stil, der überwiegend aus Aussagen besteht. Natürlich gibt es auch einen ‚gemischten Typ‘. In einem Workshop erlebten wir die Wirkungen dieser unterschiedlichen Arten des Fragestellens in eigener Erfahrung, was auch einen supervisorischen Effekt hatte. In einem nächsten Schritt können wir der Frage nachgehen, ob (gestalttheoretische) Psychotherapeut:innen innen einen bestimmten Stil bevorzugen. Des Weiteren kann man sich damit auseinandersetzen, inwieweit die Berufserfahrung (Persönlichkeit, u. a. m.) Einfluss darauf hat, welcher Stil bevorzugt wird und so in einer schrittweisen Annäherung immer mehr über die Wirkungsweise des Fragenstellens in der Psychotherapie erfahren. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass psychotherapeutisches Handeln und Forschen in möglichst enger Verbindung stehen sollten. Mit der gemeinsamen Ausarbeitung von Kriterien für aussagekräftige Einzelfallstudien und deren Umsetzung auf die Abschlussarbeiten könnten u. U. die Tonbandprotokolle der Auszubildenden vermehrt auch für gemeinsame wissenschaftliche Projekte nutzbar gemacht werden.
Gemeinsam mit zwei Instituten der Integrativen Gestalttherapie ist die ÖAGP auch in ein Forschungsprojekt zur Ausbildungsforschung involviert: „Psychotherapie: Was in Erinnerung bleibt“. Mittels narrativer, phänomenologischer Interviews wurden graduierte Psychotherapeut:innen angeregt, die für sie bedeutendsten persönlichen Erinnerungsmomente aus der Ausbildung zu erzählen, um die Beschaffenheit solcher Situationen besser zu verstehen. Die Interviews wurden mit Methoden der Grounded Theory analysiert. Die Ergebnisse sind noch nicht publiziert. Dies liegt daran, dass einerseits in den Ausbildungseinrichtungen zu wenig Zeit und oft auch zu wenig wissenschaftliches Expertinnen-Wissen besteht, andererseits auch daran, dass eine entsprechende finanzielle Ausstattung für derartige Projektumsetzungen meist fehlt.
Zwischen den am phänomenologisch-hermeneutisch Paradigma orientierten und den phänomenologisch-experimentellen Ansätzen in der HPT wird noch ein intensiver Diskurs stattfinden müssen, um eine gemeinsame Basis für Forschungsprogramme aufzubauen. Damit solche Forschungsvorhaben zu Erkenntnissen über die konkreten Erfahrungsrealitäten in der Psychotherapie führen können, erscheint uns die Explikation erkenntnistheoretischer Grundannahmen sinnvoll.
Interessenkonflikt
D. Beneder ist Editorin in Chief. Sie war bei der Gestaltung dieses Heftes, Auswahl der Artikel und reviews in keinem Schritt involviert. K. Sternek gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Menschlich forschen – menschlich handeln Diskussionspapier zur Entwicklung gemeinsamer epistemischer Haltungen und darauf aufbauender Forschungsprinzipien im Humanistischen Cluster