Stellen Sie sich vor, ein unscheinbares Armband rettet Ihr Leben. Während Sie joggen, analysiert es nicht nur Ihre Herzfrequenz, sondern erkennt gefährliche Unregelmäßigkeiten und alarmiert die Rettung. Zukunftsmusik? Vielleicht, aber nicht mehr lange. Die Verschmelzung von Wearables und medizinischen Anwendungen eröffnet neue Horizonte. Doch wie weit ist diese Technologie? Ein Blick in ein ehrgeiziges europäisches Forschungsprojekt zeigt Chancen und Herausforderungen.
Motiv: Springer Medizin via Midjourney-KI
Die Gesundheitsbranche befindet sich im Wandel: Digitale Technologien, insbesondere tragbare Geräte wie Wearables, revolutionieren die Patientenversorgung, dank ihrer einfachen Nutzung und erschwinglichen Kosten. Wearables ermöglichen eine kontinuierliche Gesundheitsüberwachung, liefern Echtzeitdaten und eröffnen Möglichkeiten für die Prävention, Therapie und Edukation von Patientinnen und Patienten.
Wearable-Technologie (also „tragbare Technologie“) umfasst eine Vielzahl von Geräten, darunter Smartwatches, intelligente Kleidung oder sogar implantierbare Sensoren. Sie sind so konzipiert, dass sie kontinuierlich Daten sammeln, verarbeiten und bei Bedarf Feedback geben. Bereits jetzt spielen sie eine Schlüsselrolle in Bereichen wie der Diabetologie, Neurologie und Herzüberwachung. Beispiele reichen von Glukosemonitoren über „smarte“ Inhalatoren bis hin zu Geräten zur Sturzdetektion.
Auch in der medizinischen Forschung gewinnen Wearables an Bedeutung: Sie liefern wertvolle Daten zur Analyse von Gesundheitstrends und unterstützen die Entwicklung personalisierter Medizin. Die COVID-19-Pandemie beschleunigte diese Entwicklung und machte deutlich, wie wichtig digitale Technologien für die Zukunft der Patientenversorgung sind. Wearables stehen an der Schwelle, die Art und Weise, wie wir Medizin verstehen und praktizieren, grundlegend zu verändern.
EU-TRAINS, ein kürzlich gestartetes, durch die Europäische Union gefördertes Projekt, hat das Ziel Wearables zu entwickeln, die nicht nur Fitnessdaten erfassen, sondern auch im medizinischen Alltag einen Mehrwert bieten. Dabei setzt das Konsortium auf modernste Technologien, starke europäische Partnerschaften und ein tiefes Verständnis für die Anforderungen von Nutzern und Medizinern.
Der Leiter des Projekts Dr. Jörg Schotter von den Silicon Austria Labs und der Forscher Lorenz Kapral von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft für Digital Health and Patient Safety, sind zwei Experten im Bereich Wearables und haben uns einen Einblick in den Stand der Technik, bestehende Herausforderungen und die Zukunft von Wearables in der Gesundheitsversorgung gewährt.
Von Smartwatch und Sensor-Shirt
DI Lorenz Kapral
Aylin Bilir
„Es gibt bereits eine Vielzahl von Wearables. Eine der bekanntesten ist wahrscheinlich die Apple Watch“, erklärt Kapral. Bestehende Wearables können zum Beispiel die Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Schrittzahl, Schlafmuster, und abgeleitet die Atemfrequenz oder sogar den Blutdruck messen. Einige Smartwatches mit der Funktion der EKG- und Blutdruckmessung sind inzwischen auch als Medizinprodukt zertifiziert.
„Der Fokus des EU-TRAINS-Projekts liegt jedoch eher auf textilintegrierter Sensortechnik, die im Vergleich zu Smartwatches weniger weit fortgeschritten ist“, hebt Schotter hervor. Er ist Physiker mit jahrelanger Erfahrung im Bereich der Sensorentwicklung.
Textilintegrierte Lösungen könnten laut den beiden Forschern die Akzeptanz bei Anwendern verbessern: Denn wenn Sensoren in Kleidungsstücke integriert sind, fühlen sie sich weniger fremd an und sind schwieriger abzulegen – ein klarer Vorteil für Anwendungen zum Beispiel in der Rehabilitation oder der Altenpflege.
Reha bis Wassersport
Neben Entwicklungen für den Sport fokussiert das Projekt unter anderem auch auf Anwendungen von Wearables in der Rehabilitationshilfe und im Bereich Remote Assisted Living. „Wir wollen nicht nur Bewegungsanalysen verbessern, sondern auch die Langzeitbetreuung nach Klinikaufenthalten intelligenter gestalten“, erklärt Kapral. Im Bereich der Rehabilitation ist der Einsatz von Wearables besonders vielversprechend.
Neben klassischen Algorithmen sieht das Projekt auch Potenzial für den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI). Insbesondere bei komplexeren Anwendungsfällen wie der Analyse von Bewegungsabläufen oder der Vorhersage von Krankheitsverläufen könnten KI-gestützte Modelle wertvolle Einblicke liefern. „KI könnte besonders bei langfristigen Reha-Prozessen oder bei der Bewertung von Bewegungsabläufen eine wichtige Rolle spielen“, so Kapral.
Gleichzeitig betont er, dass Datenschutz stets oberste Priorität hat: „Unsere Algorithmen laufen lokal, und die Daten werden anonymisiert verarbeitet. Wir achten streng auf die Einhaltung der DSGVO-Richtlinien und setzen auf verschlüsselte Kommunikationsprotokolle, um sensible Daten zu schützen.“ Gerade im Bereich Gesundheit ist die sichere Übertragung und Verarbeitung von Daten essenziell, da Parameter wie Herzfrequenz und biochemische Messwerte äußerst vertraulich sind.
Neben der Entwicklung für den Reha-Bereich gibt es auch visionäre Ansätze für den Wassersport: „Die Datenkommunikation im Wasser oder unter Wasser ist natürlich deutlich schwieriger“, erklärt Schotter. Das Problem ist, dass die bekannten drahtlosen Kommunikationstechniken unter Wasser nicht oder nur sehr eingeschränkt funktionieren. Geht es nach dem Leiter des EU-TRAINS-Projekts, so soll sich dies künftig ändern. Angestrebt wird eine Innovation in diesem Bereich mittels akustischer, optischer, oder RF (Ultrakurzwellen) Techniken, die eine drahtlose Verbindung gewährleisten soll.
Zudem soll künftig auch die Herzfrequenzvariabilität unter Wasser gemessen werden können. Um dies umzusetzen, arbeitet das Konsortium eng mit dem finnischen Unternehmen Kubios zusammen, das sich auf Algorithmen für diese Art der Datenanalyse spezialisiert hat.
Analyse des Schweißes
Ein weiteres Ziel des Projekts stellt die Integration elektrochemischer Sensoren dar, die Schweiß auf Biomarker wie Glukose, Laktat oder auch auf Elektrolyte analysieren können. „Das gibt es aktuell noch nicht auf dem Markt“, betont Schotter. Die Hauptschwierigkeit liege darin, die Sensorik in tragbare Systeme einzubauen und gleichzeitig alltagstauglich zu machen.
Die TU Eindhoven und das Interuniversity Microelectronics Centre (IMEC), zwei Partner des EU-TRAINS-Projekts, sollen hier die nötige Technologie liefern. Einerseits das Mikrofluidik-System – zum Sammeln und Aufbereiten des Schweißes – und andererseits den elektrochemischen, miniaturisierten Sensor zur Konzentrationsbestimmung der Analysen. Gelingt die Integration dieser beiden Technologien in Textilien, hätten die Partner somit die Vorreiterrolle auf diesem neuen Gebiet.
Technologische Hürden
Doch wie robust ist die Technologie textiler Wearables? „Einige Produkte halten bereits über 100 Waschzyklen aus“, berichtet Kapral. In der Regel ist es so, dass vor dem Waschen textiler Wearables manche Komponenten wie z. B. die Verkabelung und Verbindungsknöpfe, teilweise auch die Sensoren, im Textil bleiben, während andere Komponenten, wie die Auswertungselektronik und die Energieversorgung vom Textil getrennt werden.
Dennoch bleiben Herausforderungen, insbesondere wenn Elektronik mit extremen Bedingungen wie Chlorwasser oder Unterwasserdatenübertragung zurechtkommen muss. Hier setzt das Projekt auf führende Partner wie STMicroelectronics, um Sensoren und Datenverarbeitung effizienter zu gestalten.
Europa im Wettbewerb
Das EU-TRAINS-Projekt verfolgt nicht nur technologische Ziele, sondern auch eine strategische Vision: Europa soll als Vorreiter in der Wearable-Technologie etabliert werden. „Wir möchten die gesamte Wertschöpfungskette in Europa halten – von der Entwicklung bis zur Produktion“, betont der Koordinator. Die Konkurrenz schläft jedoch nicht. Länder wie die USA und Kanada haben mit Unternehmen wie Hexoskin® oder Sensoria® bereits marktreife Produkte entwickelt. Dennoch ist das europäische Konsortium zuversichtlich: „Mit unserem ausgewogenen Konsortium aus Forschungs- und Industrie-Partnern, welches alle notwendigen Expertisen zur Entwicklung neuartiger Wearables vereinigt, haben wir das Know-how, um konkurrenzfähige Technologien zu schaffen.“
Mehr als nur Lifestyle-Gadgets
Die Zukunft von Wearables sieht vielversprechend aus. Sie könnten in wenigen Jahren ein unverzichtbarer Bestandteil der medizinischen Versorgung werden. „Der Markt wird sich zunehmend von Lifestyle-Produkten hin zu medizinischen Anwendungen bewegen“, prognostiziert Kapral. Ein Beispiel ist die langfristige Überwachung von Patientinnen und Patienten, die mit Herzproblemen nach Hause geschickt werden. „Es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn kontinuierliche Daten vorliegen würden, statt nur punktueller Momentaufnahmen.“
Genau dieses Ziel lässt sich mit Wearables erreichen. Mehr noch, neben der Möglichkeit, Patientinnen und Patienten kontinuierlich zu überwachen, können Diagnosen verbessert, die Therapie individuell angepasst und dabei die Lücke zwischen Krankenhaus und dem Zuhause geschlossen werden. Das europäische Forschungsprojekt zeigt, dass sich auf dem Gebiet derzeit viel tut und dies kein ferner Traum mehr ist, sondern ein greifbares Ziel.
Dr. Jörg Schotter, Silicon Austria Labs
SAL