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Ärzte Woche

06.09.2024 | Sexuell übertragbare Erkrankungen

Kampf gegen HIV: Diskriminierung gefährdet Fortschritte

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Der Gesellschaft fällt der Umgang mit Menschen, die mit HIV leben, immer noch schwer. Das Gesundheitswesen macht da keine Ausnahme. Wie entkommt man diesem Kreis aus Stigmatisierung und Selbststigmatisierung?

Am Welttag der sexuellen Gesundheit, dem 4. September, geht es nicht nur, aber schon auch um HIV-Infizierte und um ihr Zurechtkommen im Alltag. Die AIDS-Gesellschaft schätzt, dass 8.000 bis 9.000 Menschen hierzulande mit einem HIV-positiven Status leben. Spricht man mit einigen dieser Betroffenen, hört man: Der medizinische Fortschritt sei enorm, unter effektiver HIV-Therapie könne das Virus auf sexuellem Wege nicht weitergegeben werden. Aber die gesellschaftliche Diskriminierung sei – 40 Jahre nach der Entdeckung des HI-Virus – nicht kleiner geworden. Grund dafür ist Nicht-Wissen – leider oft auch beim Gesundheitspersonal. „Im vergangenen Jahr kamen über 70 Prozent der Diskriminierungsmeldungen, die bei uns eingegangen sind, aus dem Gesundheitswesen“, sagt Andrea Brunner, Geschäftsführerin der Aids Hilfe Wien. Das können Terminverlegungen an die Tagesrandzeiten sein oder sogar das Verweigern der Mundpflege beim Zahnarzt.

„Wir wollen alte Bilder aus den Köpfen vertreiben“, sagt Wiltrut Stefanek, Obfrau eines Selbsthilfevereins namens „Pulshiv“. „Man denkt, dass die Krankheit nur junge homosexuelle Männer betrifft. Das ist aber nicht der Fall“, sagt Dr. Michael Skoll. 53 Prozent aller Menschen mit HIV sind Mädchen und Frauen, laut UNAIDS (https://tinyurl.com/yzfu2vv6) Was also tun? Gilead Sciences Österreich legt ein „HIV-Perspektivenpapier“ vor. Darin werden Fortbildungen für Gesundheitspersonal und Allgemeinbevölkerung gefordert. Anlass dafür: 21 Prozent der Bevölkerung glauben, dass Menschen mit HIV eine Gefahr für die Gesellschaft sind. Das geht aus einer von Gilead in Zusammenarbeit mit Medupha Health Care Research im Juni 2023 durchgeführten Umfrage hervor.

Martin Krenek-Burger

Seit 30 Jahren antiretrovirale Kombinationstherapien

„Wir wissen, dass HIV gewisse Zellen des Immunsystems angreift und, wenn die Infektion unbehandelt bleibt, es zu einem Verlust der CD4-Zellen ( T-Helferzellen, Anm. ) kommt und zu einem anhaltenden Immundefekt. Der häufigste Übertragungsweg von HIV ist ungeschützter Geschlechtsverkehr bzw. die Nutzung von gemeinsamem schmutzigen Spritzenbesteck bei intravenösem Drogen-Abusus. Wir wissen heute auch, dass es durch das gemeinsame Benutzen derselben Toilette bzw. beim Küssen zu keiner Übertragung von HIV kommen kann.

Grundsätzlich ist es so, dass, wenn eine HIV-Infektion auftritt, es einige Tage bis Wochen später zu primär unspezifischen Symptomen kommen kann; Symptome, die man oft auch bei anderen viralen Infektionen vorfindet: z. B. eine allgemeine Müdigkeit, eine akute Lymphknotenschwellung, Fieber oder ein Hautausschlag. Diese Symptome klingen auch ohne Behandlung oft ab. Danach verläuft die Infektion asymptomatisch, der Immundefekt schreitet allerdings weiter fort. Das Ziel der HIV-Therapie ist primär, dass man die Viruslast supprimiert, d. h. eine Last erreicht, die unterhalb der Nachweisgrenze liegt. Das führt zum einen zu einer Immunrekonstitution, und man verhindert auch die Krankheitsprogression, zum anderen kann die Lebenserwartung und die Lebensqualität der HIV-Infizierten verbessert werden. Gleichzeitig lässt sich so auch die Übertragung der HIV-Infektion auf sexuellem Wege verhindern. Wir geben seit Mitte der 1990er-Jahre antiretrovirale Kombinationstherapien, einige Substanzen stehen als sogenanntes ,Single-Tablet-Regime’ zur Verfügung. Meine Patienten erhalten in den meisten Fällen eine Therapie mit einer Tablette einmal am Tag.

Das Wissen in der Allgemeinbevölkerung und das Bild einer HIV-infizierten Person ist nicht mehr ganz up to date. Viele haben noch Bilder aus den 1980er-Jahren im Kopf und meinen, dass die Krankheit nur junge homosexuelle Männer betrifft. Das ist allerdings nicht der Fall. Jede Person, die ungeschützten Sexualverkehr betreibt, kann sich prinzipiell mit HIV oder mit anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen anstecken. Es ist daher besonders wichtig, dass man die Allgemeinbevölkerung aufklärt und informiert, welche Möglichkeiten es gibt, um sich vor HIV zu schützen. Meine ärztlichen Kollegen müssen informiert werden, dass bei bestimmten sogenannten Indikatorerkrankungen auch an einen HIV-Test gedacht werden soll.

Dr. Michael Skoll, Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten

Ich habe erschreckende Aussagen erlebt

„Ich lebe seit fast 30 Jahren offen mit HIV. Ich wollte mich nach meiner Diagnose nicht verstecken. Die haben die enormen medizinischen Entwicklungen miterlebt. Wichtig ist mir, dass die Botschaft hinausgetragen wird, dass Menschen unter HIV, die eine Therapie nehmen und bei denen das Virus nicht mehr nachweisbar ist, niemanden mehr sexuell anstecken können.

Gesellschaftspolitisch hinken wir den medizinischen Fortschritten immer noch hinterher. Ich begegne immer wieder Menschen, die im privaten, beruflichen, aber auch im medizinischen Bereich aufgrund ihres HIV-Status diskriminiert werden. Häufig ist dabei einfach Unwissenheit ein treibender Faktor! Die Botschaft, dass wir unter HIV-Therapie nicht ansteckend sind, muss verbreitet werden. Ich bin überzeugt, dass Vorurteile und Ängste nur durch Aufklärung abgebaut und beseitigt werden können. Wir wollen alte Bilder aus den Köpfen der Menschen vertreiben und durch neue Bilder über die Fortschritte der Therapie ersetzen. Ich erlebe es immer wieder, wenn ich Gespräche führe, dass Leute denken, dass man nicht mit Leuten, die HIV haben, aus dem gleichen Glas trinke kann, dass man sie nicht umarmen darf. Ich habe in den vergangenen 30 Jahren erschreckende Aussagen erlebt, und die Leute beharren auf ihren Standpunkten.

Selbststigma ist ein großes Thema unter Neudiagnostizierten, und auch Jahre danach. Viele Menschen ziehen sich nach ihrer Diagnose aus ihrem privaten oder beruflichen Umfeld zurück. Viele glauben von Anfang an, dass sie jeder diskriminieren wird, wenn sie es ihrem Umfeld sagen. Ich habe hingegen die Erfahrung gemacht, dass man sein Umfeld herausfordern soll, weil die Reaktionen dort überwiegend positiv sind. Ausgrenzung, Existenzängste und Diskriminierung sind Nebenwirkungen, gegen die wir auch heute noch keine Medikamente haben. Wichtig ist die Selbstakzeptanz, um mit HIV leben zu können. Das bewusste Auseinandersetzen mit der Diagnose fördert ein selbstbestimmtes Leben.

Wir sehen uns als Interessensvertretung und bieten anonyme Unterstützung und einen geschützten Raum für Austausch. Da ich schon so lange in dem Bereich tätig bin, kann ich sagen, dass es endlich an der Zeit ist, gemeinsam als Gesellschaft ein sichtbares Zeichen gegen Diskriminierung zu setzen und politische Entscheidungsträger für die Realität zu sensibilisieren.

Wiltrut Stefanek, Obfrau des Vereins PULSHIV

Wollen aufklären, was es bedeutet, mit HIV zu leben

„Uns ist es wichtig, zu betonen, dass in den vergangenen Jahrzehnten enorme medizinische Fortschritte gemacht wurden. Wo wir noch keine Fortschritte erzielt haben, ist beim Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung. Wir wissen, dass HIV bei wirksamer Therapie weder im Blut nachweisbar noch sexuell übertragbar ist. Wirksame Therapien kennen wir bereits seit vielen Jahren. Umso überraschender ist es, dass diese Erkenntnis noch nicht bis zu den Menschen durchgedrungen ist, dass es immer noch keinen gesellschaftlichen Wandel gegeben hat, dass die Wahrnehmung und der Umgang mit HIV immer noch ein schwieriger ist. Kurzer ,sidestep’: Die Diskriminierung war auch schon in den 1980er-Jahren falsch, aber mittlerweile hätten wir das Wissen, wie wir damit umgehen, und trotzdem reicht das offenbar nicht.

Menschen mit HIV erleben Scham im Umgang mit ihrer Infektion. Diese sozialen Faktoren erschweren den Umgang mit der Diagnose, nämlich dass Leute überhaupt einen Test machen lassen. Rund 40 Prozent der Diagnosen in Österreich sind sogenannte ,late presenter’, also sehr späte Diagnosen. Viele haben Angst vor der Diagnose.

Über 70 Prozent der Diskriminierungsmeldungen, die bei uns im Jahr 2023 eingegangen sind, stammen aus dem Gesundheitswesen. Ich kenne niemanden, der mit HIV lebt, der mir nicht irgendwann einmal erzählt hat, dass ihm das beim Zahnarzt auch schon mal passiert ist. Im Gesundheitswesen passieren viele Diskriminierungen und Stigmatisierungen. Das können Terminverlegungen sein, wo einem gesagt wird, dass man erst ganz am Ende des Tages drangenommen wird. Oder das können Aussagen sein, dass leider keine Mundhygiene gemacht werden kann.

Die Zielgruppe des Perspektivenpapiers ist die interessierte Öffentlichkeit. Wir wollen alle aufklären, was es bedeutet, mit HIV zu leben.“

Mag. Andrea Brunner, Geschäftsführerin Aids Hilfe Wien

Metadaten
Titel
Kampf gegen HIV: Diskriminierung gefährdet Fortschritte
Publikationsdatum
06.09.2024
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 38/2024

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