Aufgrund des beschränkten Rahmens dieses Artikels ist uns dies nur schemenhaft möglich. Die angeführten Quellen verweisen auf die Texte, die eine Vertiefung und differenzierte Entwicklung ermöglichen. Anreicherung und Ausformulierung verlangen nach einem lebendigen Austausch mit Kolleg*innen unserer Methode, zu dem wir hiermit auch einen Anstoß geben möchten.
Die Grundgestalten der Medialität und Faktizität erhellen sich gegenseitig. Die feministische Philosophin Iris Marion Young artikuliert diese Ambiguität der Leiblichkeit folgendermaßen: „To be sure, any lived body exists as a material thing as well as a transcending subject.“ (Young
1980, S. 148).
Wenn wir seine sinnlichen und messbaren Qualitäten beschreiben, etwa die Körperfarbe oder Körpermaße, stoßen wir auf die „Faktizität“ bzw. „Materialität“ des Leibes. „Medialität“ meint, dass wir
mit dem Leib und durch den Leib auf Welt und Andere bezogen sind. Mit und durch den Leib bringe ich mein Erleben und mein Interagieren mit anderen zum Ausdruck. In dieser Medialität liegt ein Selbstverhältnis und damit auch eine „innere Distanz“ (Waldenfels
1980, S. 49) zu meinem Leib. Ich bin den autonomen und selbstständigen Prozessen meines lebendigen Körpers nicht ausgeliefert, sondern habe Gestaltungsspielräume – etwa beim Modulieren meiner Stimme, bei der Gestaltung meiner Mimik und Gestik in psychotherapeutischen Gesprächen. „
[A]ls Medium hat er [der Leib] seine Materialität“ (Waldenfels
1980, S. 39), er hat seine Masse, füllt einen Raum aus, kann sich uns in der Müdigkeit oder Krankheit als schwere Last erweisen. Er gehört als Materielles der Welt an, ist faktisch Teil davon. Wir haben einerseits einen faktischen Körper, den wir andererseits als medialer Leib transzendieren, unsere Medialität bleibt aber in dieser Materialität verankert – dies ist die Ambiguität und das Spannungsverhältnis unserer Leiblichkeit.
Damit können wir die feldtheoretische Einbettung von Personen leibphänomenologisch beschreiben. Waldenfels konzipiert den Leib als „responsiven Leib“ bzw. als „Heterosomatik“ (Waldenfels
2000), womit er eine Verflochtenheit mit Welt und Anderen beschreibt, die in der Gestalttherapie feldtheoretisch gefasst wird (vgl. Fuchs
2020, S. 361). Das Antworten bzw. die Responsivität erweisen sich bei ihm als ein Schlüsselmotiv, sie sind ein „Grundzug allen Redens und Tuns“ (Waldenfels
2007a, S. 327). Dies gilt entsprechend auch für den Leib, den er als „responsiv“ und als „heterosomatisch“ konzipiert. Leibliche Responsivität meint bei ihm folglich eine „Verhaltens- und Erlebensweise […], die immer schon auf fremde Ansprüche antwortet.“ (Waldenfels
2000, S. 365) Der Leib
antwortet und er antwortet darin auf
fremde Ansprüche. Hiermit bekommen wir Impulse, unsere Einbettung als Selbst in ein Feld leiblich responsiv zu denken.
Die Medialität bietet außerdem Impulse für die Grundlegung einer psychotherapeutischen Emotionstheorie. Mit Bezug auf die Praxeologie psychotherapeutischer Leibarbeit von Joyce und Sills (
2015) sowie Netzer (
2017,
2018) können deren Instruktionen durch die leibphänomenologischen Ausführungen fundiert werden. Sie geben den impliziten Grundüberzeugungen eine explizite theoretische Basis und bestätigen damit zusätzlich deren Gültigkeit.
Waldenfels bestimmt den Leib emotionstheoretisch als „sichtbare[r] Ausdruck meiner selbst“ (Waldenfels
2000, S. 210), Fuchs diesen sogar als „Medium unserer affektiven Betroffenheit von einer Situation“ (Fuchs
2014, S. 16) und zwar im folgenden Sinne:
„Being afraid, for instance, is not possible without feeling a bodily tension or trembling, a beating of the heart or a shortness of breath, and a tendency to withdraw. It is through these sensations that we are anxiously directed toward a frightening situation.“ (Fuchs und Koch
2014, S. 3)
Leibliche Empfindungen wie das Zittern, der Herzschlag, die Kurzatmigkeit oder die Rückzugsimpulse im Angsterleben sind keine belanglosen Zusätze, wie es Solomon (
2004) oder Nussbaum (
2004) nahelegen, sondern sie sind
identisch mit dem Angsterleben: „[D]ie Zornesgebärde
ist die Realisierung des Zornes.“ (Waldenfels
2000, S. 229) Kopf und Torso sind hierbei „[b]esonders reiche Felder leiblicher Resonanz“ (Fuchs
2014, S. 15). Alles Erfahrene wird leiblich erfahren.
Betrachten wir gesondert den Zug, dass Gefühle wie Scham, Trauer, Neid, Sehnsucht oder andere schmerzvoll sind, so ist es nur ein kleiner Schritt, um unseren Leib auch als das „Medium unseres affektiven Leidens“ zu bestimmen: „Mit und durch den Leib durchleben wir all die schmerzvollen Empfindungen von Schuld und Scham, Trauer und Sehnsucht, Enttäuschung und Zorn.“ (Schmidsberger
2021, S. 60).
Die ontologische Ambiguität des Leibes mit den Akzentuierungen auf Medialität oder Faktizität bietet ebenso einen Rahmen für eine Reflexion auf das Verhältnis von Gehirn-Körper-Leib-Umwelt. Eine solche Erkundung würde dann mit einer Akzentuierung auf ein spezifisches Organ, nämlich unser Gehirn die Faktizität unseres Leibes weiter konkretisieren. Arbeiten von Fuchs (
2017b), Gallagher und Zahavi (
2012), Gallagher (
2019b) bieten ein Modell für das Verhältnis von subliminalen Prozessen im Gehirn und supraliminaler Erfahrung. Diese würde gerade für die psychotherapeutische Theoriebildung eine wissenschaftstheoretische Aufklärung bereithalten, die einer unsinnigen Vermengung von zwei inkompatiblen Beschreibungssprachen vorbeugt. Warum erweist sich etwa eine Formulierung wie: „Spürst du deine Spiegelneuronen?“ als unsinnig? Weil neuronale Prozesse und lebensweltliche Erfahrung einmal jenseits, einmal diesseits der Bewusstseinsschwelle liegen. Da sich neurowissenschaftliche Beschreibungen in der Psychotherapie unserer Gegenwart als en vogue erweisen, würde eine solche leibtheoretische Erkundung Klarheit darüber schaffen, wie beide Facetten unserer Leiblichkeit zueinanderstehen.
Sozialität und Habitualität: Persönlichkeitstheorie, politischer Impetus, Gender-Theorien
Auch „Sozialität“ und „Habitualität“ sind eng miteinander verflochten und heben an unserer Leiblichkeit weitere Akzente hervor: „Sozialität“ bezeichnet, dass unser Leib von Grund auf sozial verfasst ist und sich die Bezüge mit und zu Anderen in vielfältiger Weise in unseren Leib einschreiben. Auch die beiden bereits ausgeführten Grundgestalten, die Faktizität und Medialität unseres Leibes, sind sozial verfasst und prä-formiert. Die „Sozialität“ des Leibes wird in der Gegenwart auch mit den Motiven einer „vorgängigen Relationalität“ (Huth und Thonhauser
2020, S. 539), einer „sozialen Ontologie“ (Butler
2009, S. 19) bezeichnet. „Habitualität“ meint, dass sich durch wiederholtes Tun leibliche Gewohnheiten ausbilden: „Ich
habe eine Gewohnheit, das ist nicht das, was ich
jetzt tue, sondern es geht darüber hinaus. Es ist das, was mir zur Verfügung steht.“ (Waldenfels
2000, S. 183) Gewohnheiten „sedimentieren“ (ebd.) sich in leiblichen Gewohnheiten wie etwa einer Haltung oder einer Weise, sich zu bewegen. Unser Leib wird hierin zu einem Archiv bzw. einem „Leibgedächtnis“ (Fuchs
2017a, S. 201ff.). Während die Habitualität leibliches Sedimentieren durch Wiederholungen akzentuiert, hebt die Sozialität die leiblichen sozialen Bezüge hervor.
„Sozialität“ findet sich in der Phänomenologie in zwei verschiedenen Spielarten: im Rahmen der Phänomenologischen Psychopathologie in einem
interaktionistischen Sinn (Fuchs) sowie im Rahmen eines politisch-ethischen Diskurses in einem
politischen und normativen Sinn (Butler
2009; Boublil
2018; Mackenzie et al.
2014; Huth und Thonhauser
2020).
Fuchs zeigt mit seinen Arbeiten auf, dass unsere Interaktion mit Anderen ein zutiefst leibliches Geschehen ist. Was Fuchs im Anschluss an Merleau-Ponty „Zwischenleiblichkeit“ oder „Interkorporalität“ nennt, bezeichnet einerseits auf der Ebene des Affektiven, dass wir die Gefühle Anderer am eigenen Leib zu spüren bekommen, sowie andererseits, dass wir mit Anderen gemeinsame leibliche Habitualitäten ausbilden. Ersteres beschreibt, was psychotherapeutisch auch als „Resonanz“ verstanden wird. Phänomenologisch beschreibt Fuchs jenes als „mutual incorporation“ (Fuchs und Koch
2014, S. 6), also eine wechselseitige Einverleibung. Vor diesem Hintergrund formuliert er die bemerkenswerte These einer leiblichen Basis der Empathie und des sozialen Verstehens („the bodily basis of empathy and social understanding“ (Fuchs und Koch
2014, S. 5)), auch verstanden als eine „kinaesthetic empathy“ (ebd. 7). Das leibliche Erleben der beteiligten Personen korrespondiert miteinander, in das je eigene propriozeptive Erleben ist die Präsenz Anderer eingeschrieben, wir antworten leiblich auf die Präsenz Anderer.
Hiermit gewinnen wir nicht nur ein Verständnis von „Resonanz“ und Empathie, sondern finden auch die Grundlage für eine leiblich fundierte Persönlichkeitstheorie. Eine solche wechselseitige Einverleibung bildet schließlich das Fundament dafür, gemeinsame leibliche Habitualitäten bzw. leibliche Routinen auszubilden, die gleichermaßen von einer Sozialität unseres Leibes zeugen und konstitutiv werden, ein Selbst zu sein: „[S]elf essentially implied a sense of being-with“ (Fuchs
2018, S. 48). Entlang gemeinsamer leiblichen Habitualitäten sozialer Interaktionen bilden sich auch Persönlichkeitsstrukturen: „Vielmehr entwickelt sich die Persönlichkeit immer nur in und mit ihrem Leib; ihre Einstellungen, Verhaltensmuster und Gewohnheiten sind zugleich Haltungen, Bewegungsmuster und Dispositionen ihres Leibes.“ (Fuchs
2006, S. 115) Persönliche bzw. charakterliche Eigenschaften wie Aufrichtigkeit oder Unterwürfigkeit drücken sich demnach in leiblichen Gewohnheiten aus:
„Aber Eigenschaften wie Aufrichtigkeit, Liebenswürdigkeit, Stolz oder Gehemmtheit sind eben auch grundlegende leibliche Haltungs- und Bewegungsmuster, die sich in bestimmten Situationen als Verhaltensweisen wie Offenheit, Entgegenkommen, Abweisen, Zögern aktualisieren. Die flehentliche Haltung etwa eines dependenten Menschen, seine weiche Stimme, seine kindliche Mimik, seine Nachgiebigkeit und Ängstlichkeit gehören einem einheitlichen Haltungs- und Ausdrucksmuster an […].“ (Fuchs
2006, S. 112)
Der „interaktionistische Sinn“ der Sozialität unseres Leibes besagt zusammenfassend, dass wir im Zuge einer leiblich sozialen Verflochtenheit leiblich auf Andere bezogen sind und mit diesen interaktionistisch leibliche Habitualitäten ausbilden, aus denen auch unser eigenes Selbst hervorgeht. Leibliche Sozialität beschreibt damit eine „zwischenleiblichen Struktur“ (Fuchs
2006, S. 111), eine „pre-reflective intersubjectivity“ (Fuchs
2017a, S. 205) bzw. eine „embodied intersubjectivity“ (ebd. 206).
Im Gegenwartsdiskurs einer (ethisch-politischen) Vulnerabilitätstheorie (Mackenzie et al.
2014; Huth
2016; Boublil
2018; Huth und Thonhauser
2020; Schmidsberger
2021) sind die Ausführungen zum Leib eingebettet in eine Auseinandersetzung mit einer vorgängigen Relationalität: „Hence, precariousness as a generalized condition relies on a conception of the body as fundamentally dependent on, and conditioned by a sustained and sustainable world“ (Butler
2009, S. 34). Der menschliche Leib wird fundamental als angewiesen auf Andere sowie auf soziale Institutionen angesehen. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hat in jenem Diskurs eine Schlüsselrolle inne. Zahlreiche philosophische Autor*innen beziehen sich insbesondere auf ihre Werke
Precarious Life (Butler
2020) und
Frames of War (Butler
2009), auch zahlreiche phänomenologische Arbeiten knüpfen hieran an. Ihnen gemeinsam ist der Gedanke, dass unser Leib nicht in erster Linie
exklusiv mein Leib ist, der Leib eines autonomen, selbstständigen und unverletzbaren Selbst, das als „fertiges Individuum“ mit Anderen in Kontakt tritt und sich mit ihnen vergemeinschaftet (Huth und Thonhauser
2020, S. 538). Vielmehr ist unser leibliches Selbst in einem Mit-Sein mit Anderen verankert. Unsere Individualität, unser leibliches Selbst-Sein wird fundiert von der Sozialität, von einem vorgängigen Bezogen-Sein auf Andere. Dies drückt sich in Beschreibungen wie einem Ausgesetzt-Sein, einem Angewiesen-Sein oder der Interdependenz aus: „Vulnerability is relational in the sense that it always presupposes my openness and exposure to the world and to others.“ (Boubil
2018, S. 184) Solche Relationalität ist bei Butler konzeptuell eingebettet in soziale und politische Institutionen, Normen sowie in institutionalisierte Formen der Anerkennung – welche Bevölkerungsgruppen bekommen Rechte, welche Bevölkerungsgruppen werden von institutionalisierter Anerkennung ausgeschlossen. Ansätze wie jener von Butler eignen sich für die psychotherapeutische Theoriebildung aus mehreren Gründen: Zahlreiche Phänomenolog*innen schließen an ihren Impuls an, den Leib in seiner Sozialität politisch neu zu denken (Butler
2009, S. 52). Dies erlaubt auch eine Wiederbelebung des politischen Impetus, den es in der Gestalttherapie immer gab – unter modernen Vorzeichen.
Hieran lassen sich auch zentrale Beiträge aus der „Kritischen Phänomenologie“ (Slaby
2022) anschließen – zum einen eine feministische Reflexion auf weibliche Leiberfahrungen (Young
1980,
2001) sowie auf die Leiberfahrungen von farbigen Personen (Fanon
1980). Die Arbeiten von Young und Fanon erweisen sich als Schüsselarbeiten dazu. Wehrle fasst diese folgendermaßen zusammen: „Handelte es sich also bei der Diskriminierung von Mädchen und Frauen in patriarchalen Gesellschaften noch um eine Abweichung vom Normalen, bzw. Minderwertigkeit, innerhalb der jeweiligen sozialen Ordnung oder Normalität, wird dem schwarzen Körper gänzlich der Zugang zu dieser Normalität verwehrt.“ (Wehrle
im Druck, S. 20) Über jene Autor*innen werden auch Gender und Ethnizität als leibphänomenologisches Thema zugänglich, insbesondere über die leibliche Grundgestalt der „Habitualität“.